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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Nach den Posener Rcrisertagen

festigte Beziehungen und stellt die Staatsautorität mehr oder weniger in Frage.
Sie behaupten: während der polnische Arbeiter an Gehorsam gewöhnt sei,
bringe der deutsche die Sozialdemokratie ins Land.

Es ist nicht nötig, die Gegensätze, die aus solchen Auffassungen von Deutsch¬
tum und Polentum entstehen, hier noch weiter auszuführen, da sie erst vor
kurzem in den Grenzboten (Ur. 34) von kundiger Seite zutreffend geschildert
worden sind. Hier kam es in erster Linie darauf an, auf den inneren Grund,
aus dem die Gegensätze entstehen, hinzuweisen. Man wird dann vielleicht
eher verstehen, warum die Disharmonie zwischen dem Standpunkt, den wir der
Kürze halber den "agrarischen" nennen wollen -- obwohl er keineswegs nur
von Großgrundbesitzern vertreten wird --, und dem Standpunkt des Ostmarken¬
vereins ^so tief liegt und so schwer zu beseitigen ist, dann aber auch, warum
sich die preußische Staatsregierung immer wieder von klaren Entschlüssen ab¬
drängen läßt. Sie sieht sich durch die Macht der Tatsachen und Erfahrungen
auf den Standpunkt des Ostmarkenvereins festgelegt, aber die innere Verfassung
der Beamtenschaft, mit der sie arbeitet, wirkt wie eine Art von chemischer Wahl¬
verwandtschaft, die ihre innere Freiheit gegenüber dem agrarischen Standpunkt
beeinträchtigt. Und so klammert sie sich doch immer wieder an die Hoffnung
' an, die Gegensätze vereinigen und vermitteln zu können. In dieser Hoffnung
sieht sie sich bestärkt und ermutigt durch Stimmungen, die aus menschlichen
Gründen überall leicht Verständnis und Rückhalt finden und bei uns Deutschen
vielleicht noch mehr als anderswo hoch im Preise stehen, -- Stimmungen, die
nicht in sachlichen Erwägungen und genauer Kenntnis der Dinge, sondern in
der Lebensweisheit des Alltags und der Enge ihren Ursprung haben. Diese
Weisheit lehrt, daß es angenehmer und für die eigene werte Person in der
Regel vorteilhafter ist, allem, was Zank und Streit bringen kann, auszuweichen
und gegenüber einer Gefahr, die nicht unmittelbar den eigenen Nutzen oder die
eigene Bequemlichkeit bedroht, sich auf den Standpunkt zu stellen: "Es wird
schon nicht so schlimm seinl" In dieser Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit liegt
eine mächtige Bundesgenossenschaft für alle diejenigen, die zwar selbst von
solchen Ansichten weit entfernt sind, aber doch froh sind, die ernsten Mahnungen
Zu einer klaren und entschiedenen Bekämpfung des Polentums als unnötige
Treibereien und überflüssige Nervosität hinstellen zu können.

Ist es denn aber nicht ganz richtig, daß man in diesem Kampf jede mögliche
Handhabe ergreift, um zu einem Frieden zu kommen? Muß man nicht sehen,
baß man an ein bestimmtes Ziel, an ein Ende gelangt? Ganz gewiß! Aber
es fragt sich, auf welchem Wege der Friede schneller und besser zu erreichen ist,
und der richtigen Entscheidung dieser Frage steht leider ein Hindernis im Wege,
un dessen Aufrichtung Schule und Überlieferung beharrlich in bester Absicht ge¬
arbeitet haben. Dieses Hindernis ist die herkömmliche Unterschätzung der Polen.
W der schon in der Schule dadurch der. Grund gelegt wird, daß der Art und
der Entwicklung, dieses unseres Nachbarvolkes nur in unzureichender und ein-


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festigte Beziehungen und stellt die Staatsautorität mehr oder weniger in Frage.
Sie behaupten: während der polnische Arbeiter an Gehorsam gewöhnt sei,
bringe der deutsche die Sozialdemokratie ins Land.

Es ist nicht nötig, die Gegensätze, die aus solchen Auffassungen von Deutsch¬
tum und Polentum entstehen, hier noch weiter auszuführen, da sie erst vor
kurzem in den Grenzboten (Ur. 34) von kundiger Seite zutreffend geschildert
worden sind. Hier kam es in erster Linie darauf an, auf den inneren Grund,
aus dem die Gegensätze entstehen, hinzuweisen. Man wird dann vielleicht
eher verstehen, warum die Disharmonie zwischen dem Standpunkt, den wir der
Kürze halber den „agrarischen" nennen wollen — obwohl er keineswegs nur
von Großgrundbesitzern vertreten wird —, und dem Standpunkt des Ostmarken¬
vereins ^so tief liegt und so schwer zu beseitigen ist, dann aber auch, warum
sich die preußische Staatsregierung immer wieder von klaren Entschlüssen ab¬
drängen läßt. Sie sieht sich durch die Macht der Tatsachen und Erfahrungen
auf den Standpunkt des Ostmarkenvereins festgelegt, aber die innere Verfassung
der Beamtenschaft, mit der sie arbeitet, wirkt wie eine Art von chemischer Wahl¬
verwandtschaft, die ihre innere Freiheit gegenüber dem agrarischen Standpunkt
beeinträchtigt. Und so klammert sie sich doch immer wieder an die Hoffnung
' an, die Gegensätze vereinigen und vermitteln zu können. In dieser Hoffnung
sieht sie sich bestärkt und ermutigt durch Stimmungen, die aus menschlichen
Gründen überall leicht Verständnis und Rückhalt finden und bei uns Deutschen
vielleicht noch mehr als anderswo hoch im Preise stehen, — Stimmungen, die
nicht in sachlichen Erwägungen und genauer Kenntnis der Dinge, sondern in
der Lebensweisheit des Alltags und der Enge ihren Ursprung haben. Diese
Weisheit lehrt, daß es angenehmer und für die eigene werte Person in der
Regel vorteilhafter ist, allem, was Zank und Streit bringen kann, auszuweichen
und gegenüber einer Gefahr, die nicht unmittelbar den eigenen Nutzen oder die
eigene Bequemlichkeit bedroht, sich auf den Standpunkt zu stellen: „Es wird
schon nicht so schlimm seinl" In dieser Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit liegt
eine mächtige Bundesgenossenschaft für alle diejenigen, die zwar selbst von
solchen Ansichten weit entfernt sind, aber doch froh sind, die ernsten Mahnungen
Zu einer klaren und entschiedenen Bekämpfung des Polentums als unnötige
Treibereien und überflüssige Nervosität hinstellen zu können.

Ist es denn aber nicht ganz richtig, daß man in diesem Kampf jede mögliche
Handhabe ergreift, um zu einem Frieden zu kommen? Muß man nicht sehen,
baß man an ein bestimmtes Ziel, an ein Ende gelangt? Ganz gewiß! Aber
es fragt sich, auf welchem Wege der Friede schneller und besser zu erreichen ist,
und der richtigen Entscheidung dieser Frage steht leider ein Hindernis im Wege,
un dessen Aufrichtung Schule und Überlieferung beharrlich in bester Absicht ge¬
arbeitet haben. Dieses Hindernis ist die herkömmliche Unterschätzung der Polen.
W der schon in der Schule dadurch der. Grund gelegt wird, daß der Art und
der Entwicklung, dieses unseres Nachbarvolkes nur in unzureichender und ein-


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[0497] Nach den Posener Rcrisertagen festigte Beziehungen und stellt die Staatsautorität mehr oder weniger in Frage. Sie behaupten: während der polnische Arbeiter an Gehorsam gewöhnt sei, bringe der deutsche die Sozialdemokratie ins Land. Es ist nicht nötig, die Gegensätze, die aus solchen Auffassungen von Deutsch¬ tum und Polentum entstehen, hier noch weiter auszuführen, da sie erst vor kurzem in den Grenzboten (Ur. 34) von kundiger Seite zutreffend geschildert worden sind. Hier kam es in erster Linie darauf an, auf den inneren Grund, aus dem die Gegensätze entstehen, hinzuweisen. Man wird dann vielleicht eher verstehen, warum die Disharmonie zwischen dem Standpunkt, den wir der Kürze halber den „agrarischen" nennen wollen — obwohl er keineswegs nur von Großgrundbesitzern vertreten wird —, und dem Standpunkt des Ostmarken¬ vereins ^so tief liegt und so schwer zu beseitigen ist, dann aber auch, warum sich die preußische Staatsregierung immer wieder von klaren Entschlüssen ab¬ drängen läßt. Sie sieht sich durch die Macht der Tatsachen und Erfahrungen auf den Standpunkt des Ostmarkenvereins festgelegt, aber die innere Verfassung der Beamtenschaft, mit der sie arbeitet, wirkt wie eine Art von chemischer Wahl¬ verwandtschaft, die ihre innere Freiheit gegenüber dem agrarischen Standpunkt beeinträchtigt. Und so klammert sie sich doch immer wieder an die Hoffnung ' an, die Gegensätze vereinigen und vermitteln zu können. In dieser Hoffnung sieht sie sich bestärkt und ermutigt durch Stimmungen, die aus menschlichen Gründen überall leicht Verständnis und Rückhalt finden und bei uns Deutschen vielleicht noch mehr als anderswo hoch im Preise stehen, — Stimmungen, die nicht in sachlichen Erwägungen und genauer Kenntnis der Dinge, sondern in der Lebensweisheit des Alltags und der Enge ihren Ursprung haben. Diese Weisheit lehrt, daß es angenehmer und für die eigene werte Person in der Regel vorteilhafter ist, allem, was Zank und Streit bringen kann, auszuweichen und gegenüber einer Gefahr, die nicht unmittelbar den eigenen Nutzen oder die eigene Bequemlichkeit bedroht, sich auf den Standpunkt zu stellen: „Es wird schon nicht so schlimm seinl" In dieser Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit liegt eine mächtige Bundesgenossenschaft für alle diejenigen, die zwar selbst von solchen Ansichten weit entfernt sind, aber doch froh sind, die ernsten Mahnungen Zu einer klaren und entschiedenen Bekämpfung des Polentums als unnötige Treibereien und überflüssige Nervosität hinstellen zu können. Ist es denn aber nicht ganz richtig, daß man in diesem Kampf jede mögliche Handhabe ergreift, um zu einem Frieden zu kommen? Muß man nicht sehen, baß man an ein bestimmtes Ziel, an ein Ende gelangt? Ganz gewiß! Aber es fragt sich, auf welchem Wege der Friede schneller und besser zu erreichen ist, und der richtigen Entscheidung dieser Frage steht leider ein Hindernis im Wege, un dessen Aufrichtung Schule und Überlieferung beharrlich in bester Absicht ge¬ arbeitet haben. Dieses Hindernis ist die herkömmliche Unterschätzung der Polen. W der schon in der Schule dadurch der. Grund gelegt wird, daß der Art und der Entwicklung, dieses unseres Nachbarvolkes nur in unzureichender und ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/497>, abgerufen am 21.10.2024.