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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Ist Tierpsychologie möglich?

Was tut und leistet nun solche empirische Erkenntnis? Sie ordnet die
Erscheinungen, sie bringt sie in ein System, sie bewirkt in der chaotischen
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen Einheit. Wir nennen eine Mannigfaltigkeit
von Naturerscheinungen begriffen, wenn wir sie einheitlich geordnet haben, so
daß im Gefolge das Prinzip dieses Ordnungssystems uns in den Stand setzt,
zukünftige Erscheinungen zu berechnen; dies ist die Leistung empirischer Er¬
kenntnis. Wie ich nun aber eine gegebene Pnnktmengc auf mancherlei Weise
ordnen kann, so ist auch eine vielfältige verschiedene Ordnung der Erscheinungen
denkbar; aber nicht alle möglichen Ordnungssysteme werden vielleicht das leisten,
uns in den Stand zu setzen, die Abfolge der Erscheinungen, wie sie sich nach
einem ihnen innewohnenden Ordnungstyp vollzieht, zu berechnen. Hier greift
das Auswahlprinzip unter den möglichen Systemen der Anordnung mit seiner
Leistung ein und wählt meinetwegen aus allen möglichen Geometrien durch An¬
nahme der euklidischen Axiome die dreidimensionale als die logisch und biologisch
bequemste aus. Nur wähne man jetzt nicht, aus der Erfüllung dieser Leistung
schließen zu können auf eine Identität mit jener phänomenalen Ordnung, denn
die Übereinstimmung könnte Zufall sein, und es wäre erstens nicht ausgeschlossen,
daß es mehrere Systeme dieser Leistung gibt, und zweitens brauchte jene phäno¬
menale Ordnung überhaupt keineswegs logisch im Sinne unserer an ganz,
bestimmten Grundsätzen orientierten Logik eines Bewußtseins zu sein.

Was bedeutet nun diese Einsicht in das Wesen der empirischen Erkenntnis
für die Tierpsychologie?

Sie bedeutet, daß es zunächst einmal nicht die Aufgabe der Tierpsychologie
sein kann, Aussagen zu machen über das, was das Tier subjektiv erlebt. Wenn
Verworn Tierpsychologie deshalb für unmöglich erklärt, weil es von vornherein
ausgeschlossen ist, die subjektiven Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle
eines fremden Individuums als solche selbst subjektiv wahrzunehmen, da das
Wesen des Subjektiven eben darin liege, spezifisches Erlebnis des Subjektes zu
sein, so liegt darin eine ganz unmögliche Anforderung an wissenschaftliche
Psychologie, indem im Grunde jener oben dargelegte Erkenntnisbegriff der Mystik
hier für die Psychologie, wenn auch unklar, postuliert wird. In diesem Sinne
ist auch eine allgemeine anthropologische Psychologie nicht möglich, sondern
höchstens eine solipststische, denn auch das seelische Erleben der anderen Menschen
ist jedem einzelnen schlechthin transzendent und unerfahrbar. Auch Pearson
macht für die Psychologie dieselbe falsche Voraussetzung, wenn er jene Eins-
werdung von Subjekt und Objekt dadurch herbeizuführen vorschlägt, daß man
sich ja eine Verbindung zwischen den Leitungsbahnen unseres eigenen und eines
fremden Gehirns hergestellt denken könne, die uns so in den Stand setzte, die
fremden Empfindungen direkt wahrzunehmen. Dagegen bemerkt Hans Cornelius
richtig, daß, was wir in diesem Falle wahrnehmen würden, doch stets eben nur
unsere Wahrnehmung sein würde, zugehörig zu unserem Bewußtseinsverlauf,
aber nicht zu dem eines anderen. Aber was besagt auch eigentlich die Förte-


Ist Tierpsychologie möglich?

Was tut und leistet nun solche empirische Erkenntnis? Sie ordnet die
Erscheinungen, sie bringt sie in ein System, sie bewirkt in der chaotischen
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen Einheit. Wir nennen eine Mannigfaltigkeit
von Naturerscheinungen begriffen, wenn wir sie einheitlich geordnet haben, so
daß im Gefolge das Prinzip dieses Ordnungssystems uns in den Stand setzt,
zukünftige Erscheinungen zu berechnen; dies ist die Leistung empirischer Er¬
kenntnis. Wie ich nun aber eine gegebene Pnnktmengc auf mancherlei Weise
ordnen kann, so ist auch eine vielfältige verschiedene Ordnung der Erscheinungen
denkbar; aber nicht alle möglichen Ordnungssysteme werden vielleicht das leisten,
uns in den Stand zu setzen, die Abfolge der Erscheinungen, wie sie sich nach
einem ihnen innewohnenden Ordnungstyp vollzieht, zu berechnen. Hier greift
das Auswahlprinzip unter den möglichen Systemen der Anordnung mit seiner
Leistung ein und wählt meinetwegen aus allen möglichen Geometrien durch An¬
nahme der euklidischen Axiome die dreidimensionale als die logisch und biologisch
bequemste aus. Nur wähne man jetzt nicht, aus der Erfüllung dieser Leistung
schließen zu können auf eine Identität mit jener phänomenalen Ordnung, denn
die Übereinstimmung könnte Zufall sein, und es wäre erstens nicht ausgeschlossen,
daß es mehrere Systeme dieser Leistung gibt, und zweitens brauchte jene phäno¬
menale Ordnung überhaupt keineswegs logisch im Sinne unserer an ganz,
bestimmten Grundsätzen orientierten Logik eines Bewußtseins zu sein.

Was bedeutet nun diese Einsicht in das Wesen der empirischen Erkenntnis
für die Tierpsychologie?

Sie bedeutet, daß es zunächst einmal nicht die Aufgabe der Tierpsychologie
sein kann, Aussagen zu machen über das, was das Tier subjektiv erlebt. Wenn
Verworn Tierpsychologie deshalb für unmöglich erklärt, weil es von vornherein
ausgeschlossen ist, die subjektiven Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle
eines fremden Individuums als solche selbst subjektiv wahrzunehmen, da das
Wesen des Subjektiven eben darin liege, spezifisches Erlebnis des Subjektes zu
sein, so liegt darin eine ganz unmögliche Anforderung an wissenschaftliche
Psychologie, indem im Grunde jener oben dargelegte Erkenntnisbegriff der Mystik
hier für die Psychologie, wenn auch unklar, postuliert wird. In diesem Sinne
ist auch eine allgemeine anthropologische Psychologie nicht möglich, sondern
höchstens eine solipststische, denn auch das seelische Erleben der anderen Menschen
ist jedem einzelnen schlechthin transzendent und unerfahrbar. Auch Pearson
macht für die Psychologie dieselbe falsche Voraussetzung, wenn er jene Eins-
werdung von Subjekt und Objekt dadurch herbeizuführen vorschlägt, daß man
sich ja eine Verbindung zwischen den Leitungsbahnen unseres eigenen und eines
fremden Gehirns hergestellt denken könne, die uns so in den Stand setzte, die
fremden Empfindungen direkt wahrzunehmen. Dagegen bemerkt Hans Cornelius
richtig, daß, was wir in diesem Falle wahrnehmen würden, doch stets eben nur
unsere Wahrnehmung sein würde, zugehörig zu unserem Bewußtseinsverlauf,
aber nicht zu dem eines anderen. Aber was besagt auch eigentlich die Förte-


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[0474] Ist Tierpsychologie möglich? Was tut und leistet nun solche empirische Erkenntnis? Sie ordnet die Erscheinungen, sie bringt sie in ein System, sie bewirkt in der chaotischen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen Einheit. Wir nennen eine Mannigfaltigkeit von Naturerscheinungen begriffen, wenn wir sie einheitlich geordnet haben, so daß im Gefolge das Prinzip dieses Ordnungssystems uns in den Stand setzt, zukünftige Erscheinungen zu berechnen; dies ist die Leistung empirischer Er¬ kenntnis. Wie ich nun aber eine gegebene Pnnktmengc auf mancherlei Weise ordnen kann, so ist auch eine vielfältige verschiedene Ordnung der Erscheinungen denkbar; aber nicht alle möglichen Ordnungssysteme werden vielleicht das leisten, uns in den Stand zu setzen, die Abfolge der Erscheinungen, wie sie sich nach einem ihnen innewohnenden Ordnungstyp vollzieht, zu berechnen. Hier greift das Auswahlprinzip unter den möglichen Systemen der Anordnung mit seiner Leistung ein und wählt meinetwegen aus allen möglichen Geometrien durch An¬ nahme der euklidischen Axiome die dreidimensionale als die logisch und biologisch bequemste aus. Nur wähne man jetzt nicht, aus der Erfüllung dieser Leistung schließen zu können auf eine Identität mit jener phänomenalen Ordnung, denn die Übereinstimmung könnte Zufall sein, und es wäre erstens nicht ausgeschlossen, daß es mehrere Systeme dieser Leistung gibt, und zweitens brauchte jene phäno¬ menale Ordnung überhaupt keineswegs logisch im Sinne unserer an ganz, bestimmten Grundsätzen orientierten Logik eines Bewußtseins zu sein. Was bedeutet nun diese Einsicht in das Wesen der empirischen Erkenntnis für die Tierpsychologie? Sie bedeutet, daß es zunächst einmal nicht die Aufgabe der Tierpsychologie sein kann, Aussagen zu machen über das, was das Tier subjektiv erlebt. Wenn Verworn Tierpsychologie deshalb für unmöglich erklärt, weil es von vornherein ausgeschlossen ist, die subjektiven Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle eines fremden Individuums als solche selbst subjektiv wahrzunehmen, da das Wesen des Subjektiven eben darin liege, spezifisches Erlebnis des Subjektes zu sein, so liegt darin eine ganz unmögliche Anforderung an wissenschaftliche Psychologie, indem im Grunde jener oben dargelegte Erkenntnisbegriff der Mystik hier für die Psychologie, wenn auch unklar, postuliert wird. In diesem Sinne ist auch eine allgemeine anthropologische Psychologie nicht möglich, sondern höchstens eine solipststische, denn auch das seelische Erleben der anderen Menschen ist jedem einzelnen schlechthin transzendent und unerfahrbar. Auch Pearson macht für die Psychologie dieselbe falsche Voraussetzung, wenn er jene Eins- werdung von Subjekt und Objekt dadurch herbeizuführen vorschlägt, daß man sich ja eine Verbindung zwischen den Leitungsbahnen unseres eigenen und eines fremden Gehirns hergestellt denken könne, die uns so in den Stand setzte, die fremden Empfindungen direkt wahrzunehmen. Dagegen bemerkt Hans Cornelius richtig, daß, was wir in diesem Falle wahrnehmen würden, doch stets eben nur unsere Wahrnehmung sein würde, zugehörig zu unserem Bewußtseinsverlauf, aber nicht zu dem eines anderen. Aber was besagt auch eigentlich die Förte-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/474>, abgerufen am 28.12.2024.