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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Freie Advokatur und numerus clsusus

Nichtertume und der Justizverwaltung; sie forderte eine gewisse Autonomie,
Einführung des Anwaltszwanges und ähnliches. In der Folge aber verschwand
die Frage nicht mehr von der Bildfläche. Der Juristentag von 1863 und der
Anwaltstag von 1864 sprachen sich für die Freiheit der Advokatur aus, im
Jahre 1867 erschien das Buch von Rudolf Gneist: "Freie Advokatur. Die
erste Forderung aller Justizreform in Preußen", das in glänzendster und gro߬
zügigster Weise für die Freigebung der Anwaltschaft eintrat. Nach mancherlei
Kämpfen brachte die deutsche Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1378 den
deutschen Rechtsanwälten die langersehnte Rechtseinheit und die freie Advokatur.

Die Wirkung war, rein zahlenmäßig, eine ungeheure. In Berlin stieg
die Zahl der Anwälte im ersten Jahre von 98 auf 250. Zehn Jahre später
gab es dort 630, jetzt gibt es weit über 1000 Rechtsanwälte. In Preußen
betrug im Jahre 1881 die Zahl der Anwälte 1896. die bis zum Jahre 1887
auf 2679 stieg. Einer Bevölkerungszunahme von 4 Prozent stand eine Ver¬
mehrung der Rechtsanwälte um etwa 35 Prozent gegenüber. Nach einer Statistik
vom Jahre 1912 gab es in diesem Jahre in Preußen 7157 Rechtsanwälte
und Notare gegen 6621 im Jahre 1911. wobei allerdings die wenig zahlreichen
Nurnotare, die reine Beamten sind, mitzählen. Bei einer allgemeinen Be¬
völkerungszunahme von etwas mehr als 1 Prozent betrug die Zunahme der
Rechtsanwälte 8,1 Prozent.

Ein derartig rapides Wachstum, das in keinem Verhältnisse zur Steigerung
der Bevölkerungsziffer stand, konnte in den am Gedeihen der Rechtspflege be¬
teiligten Kreisen nur mit einer gewissen Besorgnis beobachtet werden. Durch
einen Erlaß des preußischen Justizministers vom 19. März 1894 wurden die
möglichen Wege zur Besserung der Zustände ins Auge gefaßt und den Ober¬
landesgerichtspräsidenten und Anwaltskammern zur Begutachtung anheimgegeben.
Es wurde darauf hingewiesen, daß die Überfüllung des Anwaltstandes zu einer
Gefahr für diesen selbst und damit für die Rechtspflege zu werden drohe. Die
Mehrzahl der Anwaltskammern äußerte sich gegen jede Beschränkung der Zu¬
lassung; einige leugneten überhaupt jede Überfüllung und das Vorhandensein
von Übelständen. Seitdem wogt der Kampf hin und her. Hervorragende
Vertreter beider Richtungen meldeten sich zum Worte. Einen nachhaltigen
Eindruck machte die Darstellung des Rechtsanwalts Weißler in seiner im
Jahre 1905 erschienenen Geschichte der deutschen Nechtsanwaltschaft, die den
Andrang der Anwälte in den Großstädten und die damit verbundenen Übel¬
stände schilderte und die Einschränkung des Zudranges zur Advokatur forderte.
Auf der anderen Seite bekämpfte Justizrat Neumann jede Einführung einer
Höchstzahl. Einen gewissen vorläufigen Abschluß erlangte die Debatte durch
die Verhandlungen des zwanzigsten deutschen Anwaltstages vom Jahre 1911,
auf dem gegen die Einführung eines numeru8 clau8us 619 und für ihn
244 Stimmen eintraten. Inzwischen hat sich in neuester Zeit eine Vereinigung
rheinisch-westfälischer Anwälte gebildet, die sich an alle deutschen Anwälte ge-


Freie Advokatur und numerus clsusus

Nichtertume und der Justizverwaltung; sie forderte eine gewisse Autonomie,
Einführung des Anwaltszwanges und ähnliches. In der Folge aber verschwand
die Frage nicht mehr von der Bildfläche. Der Juristentag von 1863 und der
Anwaltstag von 1864 sprachen sich für die Freiheit der Advokatur aus, im
Jahre 1867 erschien das Buch von Rudolf Gneist: „Freie Advokatur. Die
erste Forderung aller Justizreform in Preußen", das in glänzendster und gro߬
zügigster Weise für die Freigebung der Anwaltschaft eintrat. Nach mancherlei
Kämpfen brachte die deutsche Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1378 den
deutschen Rechtsanwälten die langersehnte Rechtseinheit und die freie Advokatur.

Die Wirkung war, rein zahlenmäßig, eine ungeheure. In Berlin stieg
die Zahl der Anwälte im ersten Jahre von 98 auf 250. Zehn Jahre später
gab es dort 630, jetzt gibt es weit über 1000 Rechtsanwälte. In Preußen
betrug im Jahre 1881 die Zahl der Anwälte 1896. die bis zum Jahre 1887
auf 2679 stieg. Einer Bevölkerungszunahme von 4 Prozent stand eine Ver¬
mehrung der Rechtsanwälte um etwa 35 Prozent gegenüber. Nach einer Statistik
vom Jahre 1912 gab es in diesem Jahre in Preußen 7157 Rechtsanwälte
und Notare gegen 6621 im Jahre 1911. wobei allerdings die wenig zahlreichen
Nurnotare, die reine Beamten sind, mitzählen. Bei einer allgemeinen Be¬
völkerungszunahme von etwas mehr als 1 Prozent betrug die Zunahme der
Rechtsanwälte 8,1 Prozent.

Ein derartig rapides Wachstum, das in keinem Verhältnisse zur Steigerung
der Bevölkerungsziffer stand, konnte in den am Gedeihen der Rechtspflege be¬
teiligten Kreisen nur mit einer gewissen Besorgnis beobachtet werden. Durch
einen Erlaß des preußischen Justizministers vom 19. März 1894 wurden die
möglichen Wege zur Besserung der Zustände ins Auge gefaßt und den Ober¬
landesgerichtspräsidenten und Anwaltskammern zur Begutachtung anheimgegeben.
Es wurde darauf hingewiesen, daß die Überfüllung des Anwaltstandes zu einer
Gefahr für diesen selbst und damit für die Rechtspflege zu werden drohe. Die
Mehrzahl der Anwaltskammern äußerte sich gegen jede Beschränkung der Zu¬
lassung; einige leugneten überhaupt jede Überfüllung und das Vorhandensein
von Übelständen. Seitdem wogt der Kampf hin und her. Hervorragende
Vertreter beider Richtungen meldeten sich zum Worte. Einen nachhaltigen
Eindruck machte die Darstellung des Rechtsanwalts Weißler in seiner im
Jahre 1905 erschienenen Geschichte der deutschen Nechtsanwaltschaft, die den
Andrang der Anwälte in den Großstädten und die damit verbundenen Übel¬
stände schilderte und die Einschränkung des Zudranges zur Advokatur forderte.
Auf der anderen Seite bekämpfte Justizrat Neumann jede Einführung einer
Höchstzahl. Einen gewissen vorläufigen Abschluß erlangte die Debatte durch
die Verhandlungen des zwanzigsten deutschen Anwaltstages vom Jahre 1911,
auf dem gegen die Einführung eines numeru8 clau8us 619 und für ihn
244 Stimmen eintraten. Inzwischen hat sich in neuester Zeit eine Vereinigung
rheinisch-westfälischer Anwälte gebildet, die sich an alle deutschen Anwälte ge-


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[0448] Freie Advokatur und numerus clsusus Nichtertume und der Justizverwaltung; sie forderte eine gewisse Autonomie, Einführung des Anwaltszwanges und ähnliches. In der Folge aber verschwand die Frage nicht mehr von der Bildfläche. Der Juristentag von 1863 und der Anwaltstag von 1864 sprachen sich für die Freiheit der Advokatur aus, im Jahre 1867 erschien das Buch von Rudolf Gneist: „Freie Advokatur. Die erste Forderung aller Justizreform in Preußen", das in glänzendster und gro߬ zügigster Weise für die Freigebung der Anwaltschaft eintrat. Nach mancherlei Kämpfen brachte die deutsche Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1378 den deutschen Rechtsanwälten die langersehnte Rechtseinheit und die freie Advokatur. Die Wirkung war, rein zahlenmäßig, eine ungeheure. In Berlin stieg die Zahl der Anwälte im ersten Jahre von 98 auf 250. Zehn Jahre später gab es dort 630, jetzt gibt es weit über 1000 Rechtsanwälte. In Preußen betrug im Jahre 1881 die Zahl der Anwälte 1896. die bis zum Jahre 1887 auf 2679 stieg. Einer Bevölkerungszunahme von 4 Prozent stand eine Ver¬ mehrung der Rechtsanwälte um etwa 35 Prozent gegenüber. Nach einer Statistik vom Jahre 1912 gab es in diesem Jahre in Preußen 7157 Rechtsanwälte und Notare gegen 6621 im Jahre 1911. wobei allerdings die wenig zahlreichen Nurnotare, die reine Beamten sind, mitzählen. Bei einer allgemeinen Be¬ völkerungszunahme von etwas mehr als 1 Prozent betrug die Zunahme der Rechtsanwälte 8,1 Prozent. Ein derartig rapides Wachstum, das in keinem Verhältnisse zur Steigerung der Bevölkerungsziffer stand, konnte in den am Gedeihen der Rechtspflege be¬ teiligten Kreisen nur mit einer gewissen Besorgnis beobachtet werden. Durch einen Erlaß des preußischen Justizministers vom 19. März 1894 wurden die möglichen Wege zur Besserung der Zustände ins Auge gefaßt und den Ober¬ landesgerichtspräsidenten und Anwaltskammern zur Begutachtung anheimgegeben. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Überfüllung des Anwaltstandes zu einer Gefahr für diesen selbst und damit für die Rechtspflege zu werden drohe. Die Mehrzahl der Anwaltskammern äußerte sich gegen jede Beschränkung der Zu¬ lassung; einige leugneten überhaupt jede Überfüllung und das Vorhandensein von Übelständen. Seitdem wogt der Kampf hin und her. Hervorragende Vertreter beider Richtungen meldeten sich zum Worte. Einen nachhaltigen Eindruck machte die Darstellung des Rechtsanwalts Weißler in seiner im Jahre 1905 erschienenen Geschichte der deutschen Nechtsanwaltschaft, die den Andrang der Anwälte in den Großstädten und die damit verbundenen Übel¬ stände schilderte und die Einschränkung des Zudranges zur Advokatur forderte. Auf der anderen Seite bekämpfte Justizrat Neumann jede Einführung einer Höchstzahl. Einen gewissen vorläufigen Abschluß erlangte die Debatte durch die Verhandlungen des zwanzigsten deutschen Anwaltstages vom Jahre 1911, auf dem gegen die Einführung eines numeru8 clau8us 619 und für ihn 244 Stimmen eintraten. Inzwischen hat sich in neuester Zeit eine Vereinigung rheinisch-westfälischer Anwälte gebildet, die sich an alle deutschen Anwälte ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/448>, abgerufen am 19.10.2024.