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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

an Jeremias Gotthelf erinnern, der für sein
Lebenswerk untrüglich beweist, wie der Lebens-
prozeß der deutschen Literatur in der Schweiz
organisch von dem der allgemeinen deutschen
bedingt wird.

Es hätte den Lützelflüher Pfarrherrn nie
geärgert, wenn man ihm erzählte, "welch
gern gesehene Zierde der norddeutschen Tee¬
tasse" seine Werke waren. Seine starke Lunge
heischte ein suditorium msximum im deut¬
schen Lesepublikum. Der Erzschweizer findet
leider den Wertbollen Verleger, der ihm solchen
Resonanzboden vorbereitet, nicht zwischen
Aare und Limmat, Wohl aber an der Spree.
Ein trefflicher Gotthelf - Kenner, G. Muret,
legt uns in dokumentarischer Weise des Dich¬
ters Beziehungen zu Deutschland dar (Ver¬
legt bei G. Müller und E. Rentsch 1913).
Solche Schriften, in denen die gewissermaßen
unterirdischen Helfer, oder die bösen Dämonen
der Dichter, die Verleger nämlich, aus der
Versenkung steigen, tragen zu einer empirischen
Biologie der Dichter wesentlich bei. Gott¬
helf, der Autor bleibender Erziehungsromane,
hat in dem Berliner Springer einen Ver¬
leger gefunden, der ihn in manchem Betracht
erzog. Kein bloßer Makler zwischen Autor
und Publikum, vielmehr begeistert für Gott-
helfs volkstümliches Talent, und zwar nicht
allein aus finanziellen Erwägungen, erwirbt
Springer des Dichters Vertrauen und nach
und nach alle seine in Winkelverlagen liegen¬
den Werke, beschleunigt zwar nach Verleger¬
unart das Produktionstempo des Erzählers,
aber steht jederzeit energisch zum Dichter
Gotthelf, wenn der Politiker Gotthelf ein
Brett vor dem Kopf hat: "Jeremias Gotthelf,
der Volksschriftsteller hat als solcher von den
Zuständen der Parteiungen seines Vater¬
landes abzusehen." Springer stellte Albert
Bitzius Deutschland vor, bis dann am
Ende der fünfziger Jahre hauptsächlich die
Kritik der Wolfgang Menzel und Julian
Schmidt dieses schöne Privileg mit Geist
übernahm. Für die Beurteilung Gotthelfs
durch Zeitgenossen kommen eigentlich nur sie,
G. Keller und Gutzkow in Frage. Menzel
betont vor allem die Wirklichkeitsfreude des
Berners, "der Ali sei der Wirklichkeit wie
aus dem Spiegel gestohlen". Julian Schmidt
spielt in den Grenzboten, welche von 1850

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bis 1852 (wie Muret ausführlich belegt)
sechsmal zu Gotthelf Stellung nehmen, den
Berner gegen Gutzkow aus. Entscheidend
für die richtige Einschätzung Gotthelfs sind
seine Worte geworden: "Es ist lächerlich, wenn
man behauptet, Gotthelf gebe nur Natur¬
zeichnungen und sei kein Dichter, sondern nur
Referent. Schon um eine solche Masse kleiner
Züge zu sehen und energisch zu empfinden,
ist das Auge eines echten Dichters notwen¬
dig." Neben dem bekannten radikalen Ur¬
teile G. Kellers über die Gotthelfsche Welt¬
anschauung hört man ganz gern das freund¬
lichere Wort Julian Schmidts: "Er brummt
höchst bedenklich über den Atheismus dieser
Zeit, die nicht mehr an den Teufel glaubt,
aber er würde jeden leibhaftigen Teufel, der
ihm zu begegnen wagte, augenblicklich mit
der Heugabel an die Identität des Geistes
und des Fleisches zu erinnern wissen . . .
Der Pastor Gotthelf tauft seinen Gott
anders als wir, aber mit diesem Gott können
wir schon auskommen." -- Leider war mit
Gotthelf nach seinem Werke "Zeitgeist und
Berner Zeit", nicht mehr auszukommen.
Julian Schmidt lehnte diesen Gotthelf höflich,
Robert Prutz gut deutsch ab. Aber die Werke
seiner besten Tage dringen von da an in alle
Schichten. Er wird sogar durch die Gunst
der Prinzessin von Preußen hoffähig; Künstler
wie Richter, Gelehrte wie Mommsen und
Grimm, schließen ihn ins Herz, und der
feine R. Hahn entdeckt, was jeder literarische
Stern zweiten Ranges an sich gerne ent¬
decken ließe: "Er ist nicht der vollkommenste
Dichter, aber in ihm ist der Stoff zu zehn
Dr. Eduard Rorrodi i Dichtern."

Der alemannische Bauernroman, der mit
Gotthelf seinen glorreichen Einzug in die
deutsche Literatur gehalten, erfreut sich bei
den schweizerischen Autoren anerkennenswerter
Pflege. Vieles in unseren Zeitströmungen
begünstigt die Gattung; vieles wird daher,
was zur Stunde berechtigtes Interesse erregt,
in kürzester Zeit veralten. "Die Himmcls-
pachcr" von Hermann Stegcmimn (Egon
Fleischel u. Co., Berlin 1912) dünkt mich,
sind nicht in so ausschließlicher Weise gattungs¬
mäßig bedingt, daß der Roman, bei den ihm
innewohnenden Werten eine andere Zeit-

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maßgebliches und Unmaßgebliches

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an Jeremias Gotthelf erinnern, der für sein
Lebenswerk untrüglich beweist, wie der Lebens-
prozeß der deutschen Literatur in der Schweiz
organisch von dem der allgemeinen deutschen
bedingt wird.

Es hätte den Lützelflüher Pfarrherrn nie
geärgert, wenn man ihm erzählte, „welch
gern gesehene Zierde der norddeutschen Tee¬
tasse" seine Werke waren. Seine starke Lunge
heischte ein suditorium msximum im deut¬
schen Lesepublikum. Der Erzschweizer findet
leider den Wertbollen Verleger, der ihm solchen
Resonanzboden vorbereitet, nicht zwischen
Aare und Limmat, Wohl aber an der Spree.
Ein trefflicher Gotthelf - Kenner, G. Muret,
legt uns in dokumentarischer Weise des Dich¬
ters Beziehungen zu Deutschland dar (Ver¬
legt bei G. Müller und E. Rentsch 1913).
Solche Schriften, in denen die gewissermaßen
unterirdischen Helfer, oder die bösen Dämonen
der Dichter, die Verleger nämlich, aus der
Versenkung steigen, tragen zu einer empirischen
Biologie der Dichter wesentlich bei. Gott¬
helf, der Autor bleibender Erziehungsromane,
hat in dem Berliner Springer einen Ver¬
leger gefunden, der ihn in manchem Betracht
erzog. Kein bloßer Makler zwischen Autor
und Publikum, vielmehr begeistert für Gott-
helfs volkstümliches Talent, und zwar nicht
allein aus finanziellen Erwägungen, erwirbt
Springer des Dichters Vertrauen und nach
und nach alle seine in Winkelverlagen liegen¬
den Werke, beschleunigt zwar nach Verleger¬
unart das Produktionstempo des Erzählers,
aber steht jederzeit energisch zum Dichter
Gotthelf, wenn der Politiker Gotthelf ein
Brett vor dem Kopf hat: „Jeremias Gotthelf,
der Volksschriftsteller hat als solcher von den
Zuständen der Parteiungen seines Vater¬
landes abzusehen." Springer stellte Albert
Bitzius Deutschland vor, bis dann am
Ende der fünfziger Jahre hauptsächlich die
Kritik der Wolfgang Menzel und Julian
Schmidt dieses schöne Privileg mit Geist
übernahm. Für die Beurteilung Gotthelfs
durch Zeitgenossen kommen eigentlich nur sie,
G. Keller und Gutzkow in Frage. Menzel
betont vor allem die Wirklichkeitsfreude des
Berners, „der Ali sei der Wirklichkeit wie
aus dem Spiegel gestohlen". Julian Schmidt
spielt in den Grenzboten, welche von 1850

[Spaltenumbruch]

bis 1852 (wie Muret ausführlich belegt)
sechsmal zu Gotthelf Stellung nehmen, den
Berner gegen Gutzkow aus. Entscheidend
für die richtige Einschätzung Gotthelfs sind
seine Worte geworden: „Es ist lächerlich, wenn
man behauptet, Gotthelf gebe nur Natur¬
zeichnungen und sei kein Dichter, sondern nur
Referent. Schon um eine solche Masse kleiner
Züge zu sehen und energisch zu empfinden,
ist das Auge eines echten Dichters notwen¬
dig." Neben dem bekannten radikalen Ur¬
teile G. Kellers über die Gotthelfsche Welt¬
anschauung hört man ganz gern das freund¬
lichere Wort Julian Schmidts: „Er brummt
höchst bedenklich über den Atheismus dieser
Zeit, die nicht mehr an den Teufel glaubt,
aber er würde jeden leibhaftigen Teufel, der
ihm zu begegnen wagte, augenblicklich mit
der Heugabel an die Identität des Geistes
und des Fleisches zu erinnern wissen . . .
Der Pastor Gotthelf tauft seinen Gott
anders als wir, aber mit diesem Gott können
wir schon auskommen." — Leider war mit
Gotthelf nach seinem Werke „Zeitgeist und
Berner Zeit", nicht mehr auszukommen.
Julian Schmidt lehnte diesen Gotthelf höflich,
Robert Prutz gut deutsch ab. Aber die Werke
seiner besten Tage dringen von da an in alle
Schichten. Er wird sogar durch die Gunst
der Prinzessin von Preußen hoffähig; Künstler
wie Richter, Gelehrte wie Mommsen und
Grimm, schließen ihn ins Herz, und der
feine R. Hahn entdeckt, was jeder literarische
Stern zweiten Ranges an sich gerne ent¬
decken ließe: „Er ist nicht der vollkommenste
Dichter, aber in ihm ist der Stoff zu zehn
Dr. Eduard Rorrodi i Dichtern."

Der alemannische Bauernroman, der mit
Gotthelf seinen glorreichen Einzug in die
deutsche Literatur gehalten, erfreut sich bei
den schweizerischen Autoren anerkennenswerter
Pflege. Vieles in unseren Zeitströmungen
begünstigt die Gattung; vieles wird daher,
was zur Stunde berechtigtes Interesse erregt,
in kürzester Zeit veralten. „Die Himmcls-
pachcr" von Hermann Stegcmimn (Egon
Fleischel u. Co., Berlin 1912) dünkt mich,
sind nicht in so ausschließlicher Weise gattungs¬
mäßig bedingt, daß der Roman, bei den ihm
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/442>, abgerufen am 27.12.2024.