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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Die jungen Schweizer.

Man begrüßt
alte Bekannte anders als Fremde, kürzer
zuweilen, da man sich doch besser versteht.
Von Alfred Huggenberger ist hier nicht
zum erstenmal die Rede und sein liebens¬
würdiges Buch "Die Bauern von Steig",
das dieses Jahr bei Staackmann in Leipzig
erschien, gäbe bloß Gelegenheit das Ge¬
sagte zu wiederholen. Eine autobiographische
Schilderung der eigenen Jugendzeit, die in¬
haltlich sich einer fast unabänderlichen Tradi¬
tion zu fügen scheint. Ein schweizer Waisen¬
knabe, der Maler werden wollte und dann
Bauer werden mußte, damit er Dichter bleibe,
der er von Anfang an war. Dieser aus der
bürgerlichenKleinstadt in das besitzbeherrschende
Bauerntum verpflanzte Grüne Heinrich hat
so viel poetischen Mut, auf alles eigentlich
stoffliche Interesse von vorneherein zu ver¬
zichten und diesen nunmehr typischen Werde¬
gang des schweizer Dichters ausschließlich aus
seinem sprachlich gestalteten Gemütsinhalt
wirken zu lassen. Dabei zeigt sich bei aller
Ähnlichkeit des Motivs die schärfste Gegen¬

[Spaltenumbruch]

sätzlichkeit der beiden dichterischen Psychen.
Wo der Grüne Heinrich das Leben, die Leiden¬
schaft und die Außenwelt und das Wesen der
Dinge besiegend zum humorvollen Äußeren
von innen heraus vordringt, da verweilt
Huggenberger mit harmloserer Ungebrochen¬
heit von vorneherein beim Schein der Dinge
und erfaßt ihn in reiner, sinnlicher Genüg¬
samkeit. Die Gefühlsgenügsamkeit, die den
pathetischen Akkord stets bricht, erzeugt einen
Stil, der nichts weniger als nüchtern, dennoch
von bestrickender Anspruchslosigkeit ist.

Jakob Schaffner, dessen reicher, groß-
gefügter Roman: "Der Bote Gottes" an
dieser Stelle erst vor einiger Zeit besprochen
wurde, vereinigt ein Dutzend Novellen in
einem Band. (Die goldene Fratze. Novellen
von Jakob Schaffner. S. Fischer, Berlin 1912.)
Ein fast uferloser Reichtum des Gefühls und
des Ausdrucks erregte unsere Bewunderung
in Schaffners Roman; in seinen Novellen
zeigt er sich als ebenso fertiger Meister der
strengen Auswahl und der auf kleiner Bild¬
fläche einheitlich durchgeführten Beobachtung.

[Ende Spaltensatz]


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Die jungen Schweizer.

Man begrüßt
alte Bekannte anders als Fremde, kürzer
zuweilen, da man sich doch besser versteht.
Von Alfred Huggenberger ist hier nicht
zum erstenmal die Rede und sein liebens¬
würdiges Buch „Die Bauern von Steig",
das dieses Jahr bei Staackmann in Leipzig
erschien, gäbe bloß Gelegenheit das Ge¬
sagte zu wiederholen. Eine autobiographische
Schilderung der eigenen Jugendzeit, die in¬
haltlich sich einer fast unabänderlichen Tradi¬
tion zu fügen scheint. Ein schweizer Waisen¬
knabe, der Maler werden wollte und dann
Bauer werden mußte, damit er Dichter bleibe,
der er von Anfang an war. Dieser aus der
bürgerlichenKleinstadt in das besitzbeherrschende
Bauerntum verpflanzte Grüne Heinrich hat
so viel poetischen Mut, auf alles eigentlich
stoffliche Interesse von vorneherein zu ver¬
zichten und diesen nunmehr typischen Werde¬
gang des schweizer Dichters ausschließlich aus
seinem sprachlich gestalteten Gemütsinhalt
wirken zu lassen. Dabei zeigt sich bei aller
Ähnlichkeit des Motivs die schärfste Gegen¬

[Spaltenumbruch]

sätzlichkeit der beiden dichterischen Psychen.
Wo der Grüne Heinrich das Leben, die Leiden¬
schaft und die Außenwelt und das Wesen der
Dinge besiegend zum humorvollen Äußeren
von innen heraus vordringt, da verweilt
Huggenberger mit harmloserer Ungebrochen¬
heit von vorneherein beim Schein der Dinge
und erfaßt ihn in reiner, sinnlicher Genüg¬
samkeit. Die Gefühlsgenügsamkeit, die den
pathetischen Akkord stets bricht, erzeugt einen
Stil, der nichts weniger als nüchtern, dennoch
von bestrickender Anspruchslosigkeit ist.

Jakob Schaffner, dessen reicher, groß-
gefügter Roman: „Der Bote Gottes" an
dieser Stelle erst vor einiger Zeit besprochen
wurde, vereinigt ein Dutzend Novellen in
einem Band. (Die goldene Fratze. Novellen
von Jakob Schaffner. S. Fischer, Berlin 1912.)
Ein fast uferloser Reichtum des Gefühls und
des Ausdrucks erregte unsere Bewunderung
in Schaffners Roman; in seinen Novellen
zeigt er sich als ebenso fertiger Meister der
strengen Auswahl und der auf kleiner Bild¬
fläche einheitlich durchgeführten Beobachtung.

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[0347] Maßgebliches und Unmaßgebliches Die jungen Schweizer. Man begrüßt alte Bekannte anders als Fremde, kürzer zuweilen, da man sich doch besser versteht. Von Alfred Huggenberger ist hier nicht zum erstenmal die Rede und sein liebens¬ würdiges Buch „Die Bauern von Steig", das dieses Jahr bei Staackmann in Leipzig erschien, gäbe bloß Gelegenheit das Ge¬ sagte zu wiederholen. Eine autobiographische Schilderung der eigenen Jugendzeit, die in¬ haltlich sich einer fast unabänderlichen Tradi¬ tion zu fügen scheint. Ein schweizer Waisen¬ knabe, der Maler werden wollte und dann Bauer werden mußte, damit er Dichter bleibe, der er von Anfang an war. Dieser aus der bürgerlichenKleinstadt in das besitzbeherrschende Bauerntum verpflanzte Grüne Heinrich hat so viel poetischen Mut, auf alles eigentlich stoffliche Interesse von vorneherein zu ver¬ zichten und diesen nunmehr typischen Werde¬ gang des schweizer Dichters ausschließlich aus seinem sprachlich gestalteten Gemütsinhalt wirken zu lassen. Dabei zeigt sich bei aller Ähnlichkeit des Motivs die schärfste Gegen¬ sätzlichkeit der beiden dichterischen Psychen. Wo der Grüne Heinrich das Leben, die Leiden¬ schaft und die Außenwelt und das Wesen der Dinge besiegend zum humorvollen Äußeren von innen heraus vordringt, da verweilt Huggenberger mit harmloserer Ungebrochen¬ heit von vorneherein beim Schein der Dinge und erfaßt ihn in reiner, sinnlicher Genüg¬ samkeit. Die Gefühlsgenügsamkeit, die den pathetischen Akkord stets bricht, erzeugt einen Stil, der nichts weniger als nüchtern, dennoch von bestrickender Anspruchslosigkeit ist. Jakob Schaffner, dessen reicher, groß- gefügter Roman: „Der Bote Gottes" an dieser Stelle erst vor einiger Zeit besprochen wurde, vereinigt ein Dutzend Novellen in einem Band. (Die goldene Fratze. Novellen von Jakob Schaffner. S. Fischer, Berlin 1912.) Ein fast uferloser Reichtum des Gefühls und des Ausdrucks erregte unsere Bewunderung in Schaffners Roman; in seinen Novellen zeigt er sich als ebenso fertiger Meister der strengen Auswahl und der auf kleiner Bild¬ fläche einheitlich durchgeführten Beobachtung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/347>, abgerufen am 19.10.2024.