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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Menschensparkasse

Warmblütern, insbesondere beim Menschen, war aber eine solche Anabiosierung
zunächst nicht erreichbar, weil, wie gesagt, diese Organismen nicht ohne weiteres
zum Einfrieren gebracht werden können und dürfen, da schon vorher bei ihnen
der Tod eintreten würde. Ter russische Gelehrte Bachmetjew veröffentlichte nun
aber im Jahre 1913 die Ergebnisse von Versuchen, die bewiesen, daß auch
Warmblüter anabiosiert werden können, wenn man sie vorher durch Einatmung
gewisser Gasgemenge in einen Schlafzustand versetzt, in welchem ihre Körper¬
temperatur ohne Lebensgefahr bis zum Erfrieren des Blutes und der Körper¬
säfte abgekühlt werden kann. Auch die so anabiosierten Warmblüter können
dann nach bestimmten, langen Zeiträumen durch vorsichtige Erwärmung wieder
ins Leben zurückversetzt werden. Nachdem nun die Biologen in dieser Anabio¬
sierung völlige Sicherheit gewonnen hatten, ließ der Staat seine anfänglichen
ethischen und juristischen Bedenken gegen eine Anabiosierung auch des Menschen
fallen und erlaubte, daß Menschen, die im Zustand freier Willensbestimmungs¬
fähigkeit den Wunsch nach Anabiosierung ausgesprochen und durch notarielles
Aktenstück festgelegt hatten, durch ärztliche Sachverständige in unter Staatsauf¬
sicht stehenden Instituten in jenen Zustand zwischen Leben und Tod versetzt
wurden. Anfänglich erlaubte man nur vergleichsweise kurze Fristen der Anabio¬
sierung. Später aber konnte der Staat der gewaltig anwachsenden Volksbewegung
nicht mehr Widerstand leisten, die forderte, daß das unbeschränkte Recht auf Anabio¬
sierung unter die Rechte des freien Menschen aufgenommen werde. So ent¬
standen unsere "Menschensparkassen". Es erübrigt wohl, weitere Einzelheiten
mitzuteilen. Welche Umwälzung diese Einrichtung auch auf die gesamten sozialen
Verhältnisse unserer Staaten ausübte, werden Sie sich selbst denken können.
Wie so mancher, dem das Leben unter den augenblicklichen Umständen, mit
Schopenhauer zu reden, als ein Geschäft erschien, das die Kosten nicht deckte,
wartete und wartet in den Menschensparkassen bessere Zeiten ab. Er kann für
diese Zeiten den Rest seines Lebens gleichsam aufsparen, ohne gezwungen zu
sein, des Lebens Last sogleich für immer und unwiderruflich von sich zu werfen."

Mein gelehrter Berichterstatter hatte geendet. Es war mir unmöglich, zu
reden, unmöglich, sogleich mit Worten die gewaltigen und tiefen Gefühlserlebnisse
zum Ausdruck zu bringen, die nunmehr, nachdem mein "objektives" wissenschaft¬
liches Interesse einigermaßen befriedigt war, wieder mit voller Wucht auf mein
Inneres einstürmten. So drückte ich ihm mit stummem Dank die Hände und
erhob mich langsam, um sein stilles Arbeitszimmer und die Menschensparkasse
zu verlassen. Ich wollte wieder in die Welt zurückkehren, in das Leben wieder
eintreten, dem ich mich durch eigenen freien Willensentschluß einundsiebzig Jahre
lang entzogen hatte. Schon war ich gedankenversunken, wie im Schlafe wan¬
delnd, bis an die große Eingangspforte der Menschensparkasse gelangt. Schon
legte ich die Hand auf die Klinke des Tores, das mich noch von Welt und
Leben trennte. Da überfiel mich ein Gedanke, so schauerlich, so herzzerreißend,
daß er mich niederzuschmettern drohte, so daß ich meiner ganzen Spannkraft


Die Menschensparkasse

Warmblütern, insbesondere beim Menschen, war aber eine solche Anabiosierung
zunächst nicht erreichbar, weil, wie gesagt, diese Organismen nicht ohne weiteres
zum Einfrieren gebracht werden können und dürfen, da schon vorher bei ihnen
der Tod eintreten würde. Ter russische Gelehrte Bachmetjew veröffentlichte nun
aber im Jahre 1913 die Ergebnisse von Versuchen, die bewiesen, daß auch
Warmblüter anabiosiert werden können, wenn man sie vorher durch Einatmung
gewisser Gasgemenge in einen Schlafzustand versetzt, in welchem ihre Körper¬
temperatur ohne Lebensgefahr bis zum Erfrieren des Blutes und der Körper¬
säfte abgekühlt werden kann. Auch die so anabiosierten Warmblüter können
dann nach bestimmten, langen Zeiträumen durch vorsichtige Erwärmung wieder
ins Leben zurückversetzt werden. Nachdem nun die Biologen in dieser Anabio¬
sierung völlige Sicherheit gewonnen hatten, ließ der Staat seine anfänglichen
ethischen und juristischen Bedenken gegen eine Anabiosierung auch des Menschen
fallen und erlaubte, daß Menschen, die im Zustand freier Willensbestimmungs¬
fähigkeit den Wunsch nach Anabiosierung ausgesprochen und durch notarielles
Aktenstück festgelegt hatten, durch ärztliche Sachverständige in unter Staatsauf¬
sicht stehenden Instituten in jenen Zustand zwischen Leben und Tod versetzt
wurden. Anfänglich erlaubte man nur vergleichsweise kurze Fristen der Anabio¬
sierung. Später aber konnte der Staat der gewaltig anwachsenden Volksbewegung
nicht mehr Widerstand leisten, die forderte, daß das unbeschränkte Recht auf Anabio¬
sierung unter die Rechte des freien Menschen aufgenommen werde. So ent¬
standen unsere „Menschensparkassen". Es erübrigt wohl, weitere Einzelheiten
mitzuteilen. Welche Umwälzung diese Einrichtung auch auf die gesamten sozialen
Verhältnisse unserer Staaten ausübte, werden Sie sich selbst denken können.
Wie so mancher, dem das Leben unter den augenblicklichen Umständen, mit
Schopenhauer zu reden, als ein Geschäft erschien, das die Kosten nicht deckte,
wartete und wartet in den Menschensparkassen bessere Zeiten ab. Er kann für
diese Zeiten den Rest seines Lebens gleichsam aufsparen, ohne gezwungen zu
sein, des Lebens Last sogleich für immer und unwiderruflich von sich zu werfen."

Mein gelehrter Berichterstatter hatte geendet. Es war mir unmöglich, zu
reden, unmöglich, sogleich mit Worten die gewaltigen und tiefen Gefühlserlebnisse
zum Ausdruck zu bringen, die nunmehr, nachdem mein „objektives" wissenschaft¬
liches Interesse einigermaßen befriedigt war, wieder mit voller Wucht auf mein
Inneres einstürmten. So drückte ich ihm mit stummem Dank die Hände und
erhob mich langsam, um sein stilles Arbeitszimmer und die Menschensparkasse
zu verlassen. Ich wollte wieder in die Welt zurückkehren, in das Leben wieder
eintreten, dem ich mich durch eigenen freien Willensentschluß einundsiebzig Jahre
lang entzogen hatte. Schon war ich gedankenversunken, wie im Schlafe wan¬
delnd, bis an die große Eingangspforte der Menschensparkasse gelangt. Schon
legte ich die Hand auf die Klinke des Tores, das mich noch von Welt und
Leben trennte. Da überfiel mich ein Gedanke, so schauerlich, so herzzerreißend,
daß er mich niederzuschmettern drohte, so daß ich meiner ganzen Spannkraft


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[0339] Die Menschensparkasse Warmblütern, insbesondere beim Menschen, war aber eine solche Anabiosierung zunächst nicht erreichbar, weil, wie gesagt, diese Organismen nicht ohne weiteres zum Einfrieren gebracht werden können und dürfen, da schon vorher bei ihnen der Tod eintreten würde. Ter russische Gelehrte Bachmetjew veröffentlichte nun aber im Jahre 1913 die Ergebnisse von Versuchen, die bewiesen, daß auch Warmblüter anabiosiert werden können, wenn man sie vorher durch Einatmung gewisser Gasgemenge in einen Schlafzustand versetzt, in welchem ihre Körper¬ temperatur ohne Lebensgefahr bis zum Erfrieren des Blutes und der Körper¬ säfte abgekühlt werden kann. Auch die so anabiosierten Warmblüter können dann nach bestimmten, langen Zeiträumen durch vorsichtige Erwärmung wieder ins Leben zurückversetzt werden. Nachdem nun die Biologen in dieser Anabio¬ sierung völlige Sicherheit gewonnen hatten, ließ der Staat seine anfänglichen ethischen und juristischen Bedenken gegen eine Anabiosierung auch des Menschen fallen und erlaubte, daß Menschen, die im Zustand freier Willensbestimmungs¬ fähigkeit den Wunsch nach Anabiosierung ausgesprochen und durch notarielles Aktenstück festgelegt hatten, durch ärztliche Sachverständige in unter Staatsauf¬ sicht stehenden Instituten in jenen Zustand zwischen Leben und Tod versetzt wurden. Anfänglich erlaubte man nur vergleichsweise kurze Fristen der Anabio¬ sierung. Später aber konnte der Staat der gewaltig anwachsenden Volksbewegung nicht mehr Widerstand leisten, die forderte, daß das unbeschränkte Recht auf Anabio¬ sierung unter die Rechte des freien Menschen aufgenommen werde. So ent¬ standen unsere „Menschensparkassen". Es erübrigt wohl, weitere Einzelheiten mitzuteilen. Welche Umwälzung diese Einrichtung auch auf die gesamten sozialen Verhältnisse unserer Staaten ausübte, werden Sie sich selbst denken können. Wie so mancher, dem das Leben unter den augenblicklichen Umständen, mit Schopenhauer zu reden, als ein Geschäft erschien, das die Kosten nicht deckte, wartete und wartet in den Menschensparkassen bessere Zeiten ab. Er kann für diese Zeiten den Rest seines Lebens gleichsam aufsparen, ohne gezwungen zu sein, des Lebens Last sogleich für immer und unwiderruflich von sich zu werfen." Mein gelehrter Berichterstatter hatte geendet. Es war mir unmöglich, zu reden, unmöglich, sogleich mit Worten die gewaltigen und tiefen Gefühlserlebnisse zum Ausdruck zu bringen, die nunmehr, nachdem mein „objektives" wissenschaft¬ liches Interesse einigermaßen befriedigt war, wieder mit voller Wucht auf mein Inneres einstürmten. So drückte ich ihm mit stummem Dank die Hände und erhob mich langsam, um sein stilles Arbeitszimmer und die Menschensparkasse zu verlassen. Ich wollte wieder in die Welt zurückkehren, in das Leben wieder eintreten, dem ich mich durch eigenen freien Willensentschluß einundsiebzig Jahre lang entzogen hatte. Schon war ich gedankenversunken, wie im Schlafe wan¬ delnd, bis an die große Eingangspforte der Menschensparkasse gelangt. Schon legte ich die Hand auf die Klinke des Tores, das mich noch von Welt und Leben trennte. Da überfiel mich ein Gedanke, so schauerlich, so herzzerreißend, daß er mich niederzuschmettern drohte, so daß ich meiner ganzen Spannkraft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/339>, abgerufen am 19.10.2024.