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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Leibe nicht sein gutes Recht, nicht aus den¬
selben Vorurteilen heraus wie früher, sondern
weil durch die ausschließliche Betonung intel¬
lektueller Bildung die Interessen für eine ver¬
nünftige Leibeszucht ganz unmerklich unter¬
drückt wurden. Man vergißt eben über dem
einen das ebenso wichtige andere. "Schon zu
lange am Vielwisser krankt die Welt." Dies
Wort des Dichters Paßt genau auch auf unsere
Zeit. Man muß die Klagen, die von der
Entmannung und Entnervung unseres Ge¬
schlechts reden, als durchaus begründet an¬
sehen. Zwar müssen wir zugeben, daß hier¬
bei noch eine Reihe anderer Faktoren mit¬
wirken, vor allem die Falschkultur unserer
Tage in der praktischen Lebensführung, im
öffentlichen Leben, aber ein Hauptgrund liegt
auch in der Überschätzung der Geistesbildung.
Ganz besonders hapert es mit unserer Sinnen¬
bildung und vor allem mit der Kultur des
Auges. Unseren Sinnen mangelt die Empfäng¬
lichkeit, die Naivität, die Schärfe, die sie haben
könnten und sollten. Und der Grund dazu
ist einzig darin zu suchen, daß sie nicht ge¬
nügend geübt werden und daß uns die gei¬
stige Beschäftigung, das viele Denken, Lernen
und Träumen nicht zur Übung kommen lassen.
Unsere Zeit hat dafür nichts übrig, weder in
der Familie noch in der Schule, wo man mit
den Sinnen nichts anzufangen weiß. Was
will das bischen Turnen, Zeichnen und Hand¬
arbeit der Mädchen hierbei sagen? Alle
andern Fächer konnten bei schlummernden
Sinnen gegeben werden, bei ihnen kommt es
ja fast ausschließlich nur auf Wachsamkeit und
Regsamkeit des Geistes an.

Ein Weiterschreiten auf dieser Bahn ein-
'heiliger Erziehung eröffnet bedenkliche Aus¬
sichten. Denn es handelt sich hierbei um
wichtige Dinge, um die Erhaltung unserer
Volkskraft, um die Heranbildung einer lebens¬
kräftigen, gesunden Generation. Wo ein solches
Geschlecht in Frage gestellt ist, drohen nicht
nur körperliche Krankheit, Leistungsunfähigkeit,
Lebensüberdruß, sondern auch schließlich Ge¬
fährdung der geistigen Bildung, die ja doch
zum großen Teil von gesunden Sinnen ab¬
hängig ist. Der Zusammenhang von Geist
und Körper muß auf die Dauer durch die
einseitige Bildung zu argen Nachteilen führen.
Auch die wirtschaftliche Existenz unseres Volkes

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ist von seiner Bildung in hohem Grade ab¬
hängig. Unsere Nation ist durch die zentrale
Lage Deutschlands zu einer führenden Stellung
auf dem Weltmarkte gleichsam vorausbestimmt!
aber dieser Platz muß auch dauernd gegen
scharfe Konkurrenten behauptet werden. Um
das ganze Volk möglichst tüchtig zu machen,
ist es mit der Heranbildung von geistigen
Führern längst nicht getan, die einzelnen
Glieder müssen vielmehr auch befähigt werden,
diesen Führern zu folgen. Technische und in
gewisser Beziehung künstlerische Bildung sind
daher ebenso Vonnöten. Man denke nur bei¬
spielsweise an den Handwerkerstand. Dieser
ist heute vor völlig andere Aufgaben gestellt
als früher. Die Maschine hat ihm heute
einen Teil seiner Arbeiten abgenommen. Was
mechanisch herzustellen geht, damit kann er
sich heute nicht mehr befassen, dabei käme er
nicht auf die Rechnung, weil die Fabrik billiger
arbeitet. Er muß vielmehr zum Kunsthand¬
werker werden, sich aufs Kunstgewerbe hinüber¬
retten und seine Hauptaufgaben in den Hand¬
arbeiten sehen, die eine künstlerische, individuelle
Arbeit voraussetzen. Die ausschließliche Geistes¬
bildung schafft viele Menschen, die auf dem
Arbeitsmarkte nicht alle Verwendung finden
können, sie vermehrt das sogenannte Gelehrten¬
proletariat, während es an solchen Menschen
überall fehlt, die körperlich arbeiten können
oder die besonders eine geschickte Hand und
ein geübtes, offenes Auge und guten Geschmack
besitzen. Manche von den überflüssigen Geistes¬
arbeitern haben ihre Anlagen, ihren praktischen
Sinn, ihren offenen Blick, ihre geschickte Hand
nicht genug gepflegt und gehen so ihrer natür¬
lichen Bestimmung, ihrem Persönlichen Glück
wie dem Volkswohl verloren. Weil die Geistes¬
bildung so sehr überschätzt wird, sind auch
unsere heutigen höheren Schulen oft mit
Schülern überfüllt, die nach ihrer Begabung
und Neigung eigentlich nicht hineingehören,
die den Berufen mit Handarbeit verloren
gehen, in denen sie vielleicht einmal Vorzüg¬
liches hätten leisten können. Diese Bildungs-
einseitigkeiten spielen also nicht nur in das
Glück des einzelnen, sondern in das Geschick
des ganzen Volkes verderblich hinein, und es
kann für die ganze Nation nur segensreich
sein, wenn man von der Geistesüberschätzung
wieder zurückkommt und auch dem Leibe sein

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Leibe nicht sein gutes Recht, nicht aus den¬
selben Vorurteilen heraus wie früher, sondern
weil durch die ausschließliche Betonung intel¬
lektueller Bildung die Interessen für eine ver¬
nünftige Leibeszucht ganz unmerklich unter¬
drückt wurden. Man vergißt eben über dem
einen das ebenso wichtige andere. „Schon zu
lange am Vielwisser krankt die Welt." Dies
Wort des Dichters Paßt genau auch auf unsere
Zeit. Man muß die Klagen, die von der
Entmannung und Entnervung unseres Ge¬
schlechts reden, als durchaus begründet an¬
sehen. Zwar müssen wir zugeben, daß hier¬
bei noch eine Reihe anderer Faktoren mit¬
wirken, vor allem die Falschkultur unserer
Tage in der praktischen Lebensführung, im
öffentlichen Leben, aber ein Hauptgrund liegt
auch in der Überschätzung der Geistesbildung.
Ganz besonders hapert es mit unserer Sinnen¬
bildung und vor allem mit der Kultur des
Auges. Unseren Sinnen mangelt die Empfäng¬
lichkeit, die Naivität, die Schärfe, die sie haben
könnten und sollten. Und der Grund dazu
ist einzig darin zu suchen, daß sie nicht ge¬
nügend geübt werden und daß uns die gei¬
stige Beschäftigung, das viele Denken, Lernen
und Träumen nicht zur Übung kommen lassen.
Unsere Zeit hat dafür nichts übrig, weder in
der Familie noch in der Schule, wo man mit
den Sinnen nichts anzufangen weiß. Was
will das bischen Turnen, Zeichnen und Hand¬
arbeit der Mädchen hierbei sagen? Alle
andern Fächer konnten bei schlummernden
Sinnen gegeben werden, bei ihnen kommt es
ja fast ausschließlich nur auf Wachsamkeit und
Regsamkeit des Geistes an.

Ein Weiterschreiten auf dieser Bahn ein-
'heiliger Erziehung eröffnet bedenkliche Aus¬
sichten. Denn es handelt sich hierbei um
wichtige Dinge, um die Erhaltung unserer
Volkskraft, um die Heranbildung einer lebens¬
kräftigen, gesunden Generation. Wo ein solches
Geschlecht in Frage gestellt ist, drohen nicht
nur körperliche Krankheit, Leistungsunfähigkeit,
Lebensüberdruß, sondern auch schließlich Ge¬
fährdung der geistigen Bildung, die ja doch
zum großen Teil von gesunden Sinnen ab¬
hängig ist. Der Zusammenhang von Geist
und Körper muß auf die Dauer durch die
einseitige Bildung zu argen Nachteilen führen.
Auch die wirtschaftliche Existenz unseres Volkes

[Spaltenumbruch]

ist von seiner Bildung in hohem Grade ab¬
hängig. Unsere Nation ist durch die zentrale
Lage Deutschlands zu einer führenden Stellung
auf dem Weltmarkte gleichsam vorausbestimmt!
aber dieser Platz muß auch dauernd gegen
scharfe Konkurrenten behauptet werden. Um
das ganze Volk möglichst tüchtig zu machen,
ist es mit der Heranbildung von geistigen
Führern längst nicht getan, die einzelnen
Glieder müssen vielmehr auch befähigt werden,
diesen Führern zu folgen. Technische und in
gewisser Beziehung künstlerische Bildung sind
daher ebenso Vonnöten. Man denke nur bei¬
spielsweise an den Handwerkerstand. Dieser
ist heute vor völlig andere Aufgaben gestellt
als früher. Die Maschine hat ihm heute
einen Teil seiner Arbeiten abgenommen. Was
mechanisch herzustellen geht, damit kann er
sich heute nicht mehr befassen, dabei käme er
nicht auf die Rechnung, weil die Fabrik billiger
arbeitet. Er muß vielmehr zum Kunsthand¬
werker werden, sich aufs Kunstgewerbe hinüber¬
retten und seine Hauptaufgaben in den Hand¬
arbeiten sehen, die eine künstlerische, individuelle
Arbeit voraussetzen. Die ausschließliche Geistes¬
bildung schafft viele Menschen, die auf dem
Arbeitsmarkte nicht alle Verwendung finden
können, sie vermehrt das sogenannte Gelehrten¬
proletariat, während es an solchen Menschen
überall fehlt, die körperlich arbeiten können
oder die besonders eine geschickte Hand und
ein geübtes, offenes Auge und guten Geschmack
besitzen. Manche von den überflüssigen Geistes¬
arbeitern haben ihre Anlagen, ihren praktischen
Sinn, ihren offenen Blick, ihre geschickte Hand
nicht genug gepflegt und gehen so ihrer natür¬
lichen Bestimmung, ihrem Persönlichen Glück
wie dem Volkswohl verloren. Weil die Geistes¬
bildung so sehr überschätzt wird, sind auch
unsere heutigen höheren Schulen oft mit
Schülern überfüllt, die nach ihrer Begabung
und Neigung eigentlich nicht hineingehören,
die den Berufen mit Handarbeit verloren
gehen, in denen sie vielleicht einmal Vorzüg¬
liches hätten leisten können. Diese Bildungs-
einseitigkeiten spielen also nicht nur in das
Glück des einzelnen, sondern in das Geschick
des ganzen Volkes verderblich hinein, und es
kann für die ganze Nation nur segensreich
sein, wenn man von der Geistesüberschätzung
wieder zurückkommt und auch dem Leibe sein

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[0295] Maßgebliches und Unmaßgebliches Leibe nicht sein gutes Recht, nicht aus den¬ selben Vorurteilen heraus wie früher, sondern weil durch die ausschließliche Betonung intel¬ lektueller Bildung die Interessen für eine ver¬ nünftige Leibeszucht ganz unmerklich unter¬ drückt wurden. Man vergißt eben über dem einen das ebenso wichtige andere. „Schon zu lange am Vielwisser krankt die Welt." Dies Wort des Dichters Paßt genau auch auf unsere Zeit. Man muß die Klagen, die von der Entmannung und Entnervung unseres Ge¬ schlechts reden, als durchaus begründet an¬ sehen. Zwar müssen wir zugeben, daß hier¬ bei noch eine Reihe anderer Faktoren mit¬ wirken, vor allem die Falschkultur unserer Tage in der praktischen Lebensführung, im öffentlichen Leben, aber ein Hauptgrund liegt auch in der Überschätzung der Geistesbildung. Ganz besonders hapert es mit unserer Sinnen¬ bildung und vor allem mit der Kultur des Auges. Unseren Sinnen mangelt die Empfäng¬ lichkeit, die Naivität, die Schärfe, die sie haben könnten und sollten. Und der Grund dazu ist einzig darin zu suchen, daß sie nicht ge¬ nügend geübt werden und daß uns die gei¬ stige Beschäftigung, das viele Denken, Lernen und Träumen nicht zur Übung kommen lassen. Unsere Zeit hat dafür nichts übrig, weder in der Familie noch in der Schule, wo man mit den Sinnen nichts anzufangen weiß. Was will das bischen Turnen, Zeichnen und Hand¬ arbeit der Mädchen hierbei sagen? Alle andern Fächer konnten bei schlummernden Sinnen gegeben werden, bei ihnen kommt es ja fast ausschließlich nur auf Wachsamkeit und Regsamkeit des Geistes an. Ein Weiterschreiten auf dieser Bahn ein- 'heiliger Erziehung eröffnet bedenkliche Aus¬ sichten. Denn es handelt sich hierbei um wichtige Dinge, um die Erhaltung unserer Volkskraft, um die Heranbildung einer lebens¬ kräftigen, gesunden Generation. Wo ein solches Geschlecht in Frage gestellt ist, drohen nicht nur körperliche Krankheit, Leistungsunfähigkeit, Lebensüberdruß, sondern auch schließlich Ge¬ fährdung der geistigen Bildung, die ja doch zum großen Teil von gesunden Sinnen ab¬ hängig ist. Der Zusammenhang von Geist und Körper muß auf die Dauer durch die einseitige Bildung zu argen Nachteilen führen. Auch die wirtschaftliche Existenz unseres Volkes ist von seiner Bildung in hohem Grade ab¬ hängig. Unsere Nation ist durch die zentrale Lage Deutschlands zu einer führenden Stellung auf dem Weltmarkte gleichsam vorausbestimmt! aber dieser Platz muß auch dauernd gegen scharfe Konkurrenten behauptet werden. Um das ganze Volk möglichst tüchtig zu machen, ist es mit der Heranbildung von geistigen Führern längst nicht getan, die einzelnen Glieder müssen vielmehr auch befähigt werden, diesen Führern zu folgen. Technische und in gewisser Beziehung künstlerische Bildung sind daher ebenso Vonnöten. Man denke nur bei¬ spielsweise an den Handwerkerstand. Dieser ist heute vor völlig andere Aufgaben gestellt als früher. Die Maschine hat ihm heute einen Teil seiner Arbeiten abgenommen. Was mechanisch herzustellen geht, damit kann er sich heute nicht mehr befassen, dabei käme er nicht auf die Rechnung, weil die Fabrik billiger arbeitet. Er muß vielmehr zum Kunsthand¬ werker werden, sich aufs Kunstgewerbe hinüber¬ retten und seine Hauptaufgaben in den Hand¬ arbeiten sehen, die eine künstlerische, individuelle Arbeit voraussetzen. Die ausschließliche Geistes¬ bildung schafft viele Menschen, die auf dem Arbeitsmarkte nicht alle Verwendung finden können, sie vermehrt das sogenannte Gelehrten¬ proletariat, während es an solchen Menschen überall fehlt, die körperlich arbeiten können oder die besonders eine geschickte Hand und ein geübtes, offenes Auge und guten Geschmack besitzen. Manche von den überflüssigen Geistes¬ arbeitern haben ihre Anlagen, ihren praktischen Sinn, ihren offenen Blick, ihre geschickte Hand nicht genug gepflegt und gehen so ihrer natür¬ lichen Bestimmung, ihrem Persönlichen Glück wie dem Volkswohl verloren. Weil die Geistes¬ bildung so sehr überschätzt wird, sind auch unsere heutigen höheren Schulen oft mit Schülern überfüllt, die nach ihrer Begabung und Neigung eigentlich nicht hineingehören, die den Berufen mit Handarbeit verloren gehen, in denen sie vielleicht einmal Vorzüg¬ liches hätten leisten können. Diese Bildungs- einseitigkeiten spielen also nicht nur in das Glück des einzelnen, sondern in das Geschick des ganzen Volkes verderblich hinein, und es kann für die ganze Nation nur segensreich sein, wenn man von der Geistesüberschätzung wieder zurückkommt und auch dem Leibe sein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/295>, abgerufen am 19.10.2024.