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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Zentrums-Rolonialpolitik unter Bismarck

In einer bedeutsamen und weitsichtigen Rede^), die freilich mit ihrem
rationalistischen, durch den Satz "Der deutsche Charakter eignet sich nicht für
großen Enthusiasmus" motivierten Ton. erkältend auf die Kolonialbegeisterung
wirken sollte ^) -- warnte er bei dem außerordentlich wichtigen politischen und
finanziellen Schritt, vor dem Deutschland stehe, vor Übereilung, die seine vor¬
trefflich vorausgesehenen Folgen nur ungünstig beeinflussen werde. "Neue Bahnen
im Völkerleben" wollte er "langsamen Schrittes" und "mit Bedacht" betreten
sehen 2). Nur eine weise und wohlüberlegte, eine vernünftige Kolonialpolitik glaubte
er mit seiner Partei opferwillig unterstützen zu können^). Doch wünschte er diese
niemals durch "schöne Worte und billige Redensarten" zu Ausgaben hinzu¬
reißen, die den Wähler und Steuerzahler belasten würden.

Bismarck, der von seinem Standpunkt aus Windthorsts Argumenten aus
persönlichen und staatlichen Gründen nie völlig gerecht werden konnte, bedeutete
ihm in einer ironischen Analyse seiner Rede, daß die Bewilligungen zur Kolonial¬
politik nach beiden Seiten -- der positiven wie negativen, ablehnenden oder
hinhaltenden -- von außerordentlicher Bedeutung seien ^), daß aber eine Ver¬
zögerung der Vereitelung gleichkäme, da ihm eben höchste Eile geboten schien,
wenn Deutschland überhaupt Kolonien wolle. In der Mahnung Windthorsts
zur größten Vorsicht sah er daher nur Abneigung gegen jede Kolonialpolitik,
deren Berechtigung er von seinem Standpunkt aus zu verstehen vorgab^). In
Windthorsts Vorliebe für Kommissionsverweisungerblickte er nur bewußte
Obstruktion und nicht die Absicht sachlicher Prüfung, obwohl Windthorst diesem
Vorwurf von vornherein zu begegnen suchte"). Freilich ging der Zentrums¬
führer in feiner Obstruktion einmal (in der Budgetkommission vom 27. Juni 1884)
soweit, den Abbruch einer von ihm selbst bewilligten Kommissionssitzung zu ver¬
langen, um damit die Verhandlungen über Dampfersubvention und Kolonial-
politik in der Frühjahrssession 1885 unmöglich zu machen. Wo aber Windthorst
selbst einmal Kolonialanträge stellte, da entgegnete Bismarck schlau, er tue es
der kolonialbegeisterten katholischen Wähler wegenTatsächlich trat Windthorst
aber nur dann für Kolonialpolitik ein, sobald sie den Interessen seiner Partei



') Über Windthorsts kolonialpolitische Reden muß man in den stenographischen Berichten
des Reichstags nachlesen, da die sehr tendenziös ausgewählten Reden des Staatsministers a. D.
und Parlamentariers Dr. Ludwig Windthorst (3 Bände, Osnabrück 1902) bezeichnenderweise
nichts enthalten, was Windthorsts feindliche Stellung gegen Bismarcks Kolonialpolitik
charakterisieren könnte.
2) Reden X 409.
") Reden XI 86.
6) Reden XI 272.
°) Reden XI 140.
°> Reden X 429.
') Reden X 146.
°) Reden X 409.
°) Reden XI 274.

Zentrums-Rolonialpolitik unter Bismarck

In einer bedeutsamen und weitsichtigen Rede^), die freilich mit ihrem
rationalistischen, durch den Satz „Der deutsche Charakter eignet sich nicht für
großen Enthusiasmus" motivierten Ton. erkältend auf die Kolonialbegeisterung
wirken sollte ^) — warnte er bei dem außerordentlich wichtigen politischen und
finanziellen Schritt, vor dem Deutschland stehe, vor Übereilung, die seine vor¬
trefflich vorausgesehenen Folgen nur ungünstig beeinflussen werde. „Neue Bahnen
im Völkerleben" wollte er „langsamen Schrittes" und „mit Bedacht" betreten
sehen 2). Nur eine weise und wohlüberlegte, eine vernünftige Kolonialpolitik glaubte
er mit seiner Partei opferwillig unterstützen zu können^). Doch wünschte er diese
niemals durch „schöne Worte und billige Redensarten" zu Ausgaben hinzu¬
reißen, die den Wähler und Steuerzahler belasten würden.

Bismarck, der von seinem Standpunkt aus Windthorsts Argumenten aus
persönlichen und staatlichen Gründen nie völlig gerecht werden konnte, bedeutete
ihm in einer ironischen Analyse seiner Rede, daß die Bewilligungen zur Kolonial¬
politik nach beiden Seiten — der positiven wie negativen, ablehnenden oder
hinhaltenden — von außerordentlicher Bedeutung seien ^), daß aber eine Ver¬
zögerung der Vereitelung gleichkäme, da ihm eben höchste Eile geboten schien,
wenn Deutschland überhaupt Kolonien wolle. In der Mahnung Windthorsts
zur größten Vorsicht sah er daher nur Abneigung gegen jede Kolonialpolitik,
deren Berechtigung er von seinem Standpunkt aus zu verstehen vorgab^). In
Windthorsts Vorliebe für Kommissionsverweisungerblickte er nur bewußte
Obstruktion und nicht die Absicht sachlicher Prüfung, obwohl Windthorst diesem
Vorwurf von vornherein zu begegnen suchte"). Freilich ging der Zentrums¬
führer in feiner Obstruktion einmal (in der Budgetkommission vom 27. Juni 1884)
soweit, den Abbruch einer von ihm selbst bewilligten Kommissionssitzung zu ver¬
langen, um damit die Verhandlungen über Dampfersubvention und Kolonial-
politik in der Frühjahrssession 1885 unmöglich zu machen. Wo aber Windthorst
selbst einmal Kolonialanträge stellte, da entgegnete Bismarck schlau, er tue es
der kolonialbegeisterten katholischen Wähler wegenTatsächlich trat Windthorst
aber nur dann für Kolonialpolitik ein, sobald sie den Interessen seiner Partei



') Über Windthorsts kolonialpolitische Reden muß man in den stenographischen Berichten
des Reichstags nachlesen, da die sehr tendenziös ausgewählten Reden des Staatsministers a. D.
und Parlamentariers Dr. Ludwig Windthorst (3 Bände, Osnabrück 1902) bezeichnenderweise
nichts enthalten, was Windthorsts feindliche Stellung gegen Bismarcks Kolonialpolitik
charakterisieren könnte.
2) Reden X 409.
») Reden XI 86.
6) Reden XI 272.
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[0277] Zentrums-Rolonialpolitik unter Bismarck In einer bedeutsamen und weitsichtigen Rede^), die freilich mit ihrem rationalistischen, durch den Satz „Der deutsche Charakter eignet sich nicht für großen Enthusiasmus" motivierten Ton. erkältend auf die Kolonialbegeisterung wirken sollte ^) — warnte er bei dem außerordentlich wichtigen politischen und finanziellen Schritt, vor dem Deutschland stehe, vor Übereilung, die seine vor¬ trefflich vorausgesehenen Folgen nur ungünstig beeinflussen werde. „Neue Bahnen im Völkerleben" wollte er „langsamen Schrittes" und „mit Bedacht" betreten sehen 2). Nur eine weise und wohlüberlegte, eine vernünftige Kolonialpolitik glaubte er mit seiner Partei opferwillig unterstützen zu können^). Doch wünschte er diese niemals durch „schöne Worte und billige Redensarten" zu Ausgaben hinzu¬ reißen, die den Wähler und Steuerzahler belasten würden. Bismarck, der von seinem Standpunkt aus Windthorsts Argumenten aus persönlichen und staatlichen Gründen nie völlig gerecht werden konnte, bedeutete ihm in einer ironischen Analyse seiner Rede, daß die Bewilligungen zur Kolonial¬ politik nach beiden Seiten — der positiven wie negativen, ablehnenden oder hinhaltenden — von außerordentlicher Bedeutung seien ^), daß aber eine Ver¬ zögerung der Vereitelung gleichkäme, da ihm eben höchste Eile geboten schien, wenn Deutschland überhaupt Kolonien wolle. In der Mahnung Windthorsts zur größten Vorsicht sah er daher nur Abneigung gegen jede Kolonialpolitik, deren Berechtigung er von seinem Standpunkt aus zu verstehen vorgab^). In Windthorsts Vorliebe für Kommissionsverweisungerblickte er nur bewußte Obstruktion und nicht die Absicht sachlicher Prüfung, obwohl Windthorst diesem Vorwurf von vornherein zu begegnen suchte"). Freilich ging der Zentrums¬ führer in feiner Obstruktion einmal (in der Budgetkommission vom 27. Juni 1884) soweit, den Abbruch einer von ihm selbst bewilligten Kommissionssitzung zu ver¬ langen, um damit die Verhandlungen über Dampfersubvention und Kolonial- politik in der Frühjahrssession 1885 unmöglich zu machen. Wo aber Windthorst selbst einmal Kolonialanträge stellte, da entgegnete Bismarck schlau, er tue es der kolonialbegeisterten katholischen Wähler wegenTatsächlich trat Windthorst aber nur dann für Kolonialpolitik ein, sobald sie den Interessen seiner Partei ') Über Windthorsts kolonialpolitische Reden muß man in den stenographischen Berichten des Reichstags nachlesen, da die sehr tendenziös ausgewählten Reden des Staatsministers a. D. und Parlamentariers Dr. Ludwig Windthorst (3 Bände, Osnabrück 1902) bezeichnenderweise nichts enthalten, was Windthorsts feindliche Stellung gegen Bismarcks Kolonialpolitik charakterisieren könnte. 2) Reden X 409. ») Reden XI 86. 6) Reden XI 272. °) Reden XI 140. °> Reden X 429. ') Reden X 146. °) Reden X 409. °) Reden XI 274.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/277>, abgerufen am 28.12.2024.