Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] 2. Auflage. Berlin, Bernhard Weise, 1912; Dies Buch hat mit Recht unter Wanderern Die ersten Bachanten und namentlich der sich von Binder sagen lassen, daß es äußerst Wenn Binder die aufrührerische Romantik Aber, wenn Binder mit einer sei Koa Binder hat durch einen Wortbetrug die Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] 2. Auflage. Berlin, Bernhard Weise, 1912; Dies Buch hat mit Recht unter Wanderern Die ersten Bachanten und namentlich der sich von Binder sagen lassen, daß es äußerst Wenn Binder die aufrührerische Romantik Aber, wenn Binder mit einer sei Koa Binder hat durch einen Wortbetrug die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0249" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326419"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_1186" prev="#ID_1185"> 2. Auflage. Berlin, Bernhard Weise, 1912;<lb/> Z.Band: Die deutsche Wandervogelbewegung<lb/> als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur<lb/> Erkenntnis der sexuellen Inversion; ebenda<lb/> 1912. 6,60 Mark für alle drei Bände.</p> <p xml:id="ID_1187"> Dies Buch hat mit Recht unter Wanderern<lb/> und Oberlehrern viel Aufsehen erregt, mit<lb/> Unrecht eine Beunruhigung im Wandervogel<lb/> erzeugt. Soweit der Verfasser die Entstehung<lb/> der Wanderbewegung aus dem romantischen<lb/> Auflehnungsbedürfnis der Jugend gegen<lb/> Zwang und hergebrachte Sitte darstellt, ist er<lb/> ein feinsinniger Schilderer jugendlicher Ge¬<lb/> mütsart und ein äußerst talentvoller Schrift¬<lb/> steller; man kann begreifen, daß selbst er¬<lb/> fahrene Erzieher dein ersten Teil zujauchzten<lb/> und ihn den Wandervögeln empfahlen. Es<lb/> liegt soviel Wahres in der krassen Schilderung<lb/> des Gegensatzes zwischen der fatzkenhaften,<lb/> blasierten Großstadtjugend und dem ur¬<lb/> wüchsigen, etwas übertriebenen Naturburschen-<lb/> tum des aufgehenden Wandervogels! Mit<lb/> welcher Begeisterung mögen die Schulbuben<lb/> den ersten originellen „Bachanten" zugeströmt<lb/> sein, endlich allein, ohne Aufsicht der Schule I<lb/> Da fanden sie, was moderne Erzieher ihnen<lb/> wünschten, der Natur der Sache nach ihnen<lb/> aber nicht selbst geben konnten: Selbständig¬<lb/> keit in ihrem Treiben außerhalb der Schul¬<lb/> wände, romantische Abenteuer, verständnisvolle<lb/> ältere Kameraden, eine freie, untereinander<lb/> nach eigenen Bedürfnissen abgemachte Sitt¬<lb/> lichkeit, ein eigenes Leben, in das Schule<lb/> und Elternhaus nicht hindernd eingreifen<lb/> konnten.</p> <p xml:id="ID_1188" next="#ID_1189"> Die ersten Bachanten und namentlich der<lb/> „Oberbachant" Karl Fischer, die Binder mit<lb/> seiner Kunst schildert, müssen in der Tat be¬<lb/> strickende Persönlichkeiten gewesen sein. Viele<lb/> von den Wandervögeln lebten unverstanden<lb/> vom Elternhause dahin und fanden keine<lb/> Nahrung für ihr sehnendes Gemüt. Die<lb/> traurige Tatsache, daß die Jugend in tausend<lb/> Fällen im Elternhause kein Verständnis für<lb/> ihre innersten Bedrängnisse findet, daß die<lb/> Familienerziehung nur allzuoft seicht und<lb/> nutzmäßig eingerichtet ist, hat Binder rück¬<lb/> sichtslos gekennzeichnet, radikaler, als wir es<lb/> gewohnt sind. Das ist ihm hart verdacht<lb/> worden; aber er hat ja das Buch nicht für<lb/> Kinder geschrieben, und mancher Vater mag</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_1189" prev="#ID_1188"> sich von Binder sagen lassen, daß es äußerst<lb/> bequem ist, für Erzeugung, Nahrung und<lb/> Kleidung den Dank der Kinder als, selbst¬<lb/> verständliche Pflicht zu beanspruchen.</p> <p xml:id="ID_1190"> Wenn Binder die aufrührerische Romantik<lb/> als Wurzel des Wunderbaumes darstellt,<lb/> so können? wir ihm nur zustimmen und möchten<lb/> wünschen, daß die begeisternde Kraft alles<lb/> romantisch Natürlichen, Phantastischen, Unbe¬<lb/> griffenen unserer Jugend nicht verloren geht,<lb/> daß sie nicht schon in der blühenden goldenen<lb/> Zeit zu geschäftsmäßigen Nutzmenschen werde.</p> <p xml:id="ID_1191"> Aber, wenn Binder mit einer sei Koa<lb/> zurechtgemachten Definition als andere Wurzel<lb/> der Wandervogelbewegung die sexuelle In¬<lb/> version — zu deutsch „Jrrbrunst" — heraus¬<lb/> findet, so ist das ein wissenschaftlicher Rein¬<lb/> fall erster Ordnung. Die Briefe, die Binder<lb/> als Beweismaterial anführt, beweisen für seine<lb/> Behauptung nichts. Man sieht aus einigen,<lb/> daß im Wandervogel auch einige Jrrbrünstige<lb/> gewesen sind; andere können nur dann über¬<lb/> haupt mitzählen, wenn man mit Binder<lb/> glaubt, „daß man alles Sehnen nach Men¬<lb/> schen eben sexuell verstehen muß, um es<lb/> überhaupt zu verstehen". Man wird zu¬<lb/> geben, daß es mit dieser Definition leicht ist,<lb/> den Wandervogel als „erotisches Phänomen"<lb/> zu erklären. Aber warum nur den Wander¬<lb/> vogel? Ich mache mich anheischig, unter<lb/> Anwendung zahlreicher Fremdwörter mit<lb/> Blühers Mitteln jeden beliebigen Kegelklub<lb/> als „erotisches Phänomen" zu erweisen.</p> <p xml:id="ID_1192" next="#ID_1193"> Binder hat durch einen Wortbetrug die<lb/> schwärmerischen Freundschaften der roman¬<lb/> tischen Wanderbewegung als homosexuell be¬<lb/> zeichnet, was übrigens für ihn keinen Vor¬<lb/> wurf bedeutet und nach seiner Definition ja<lb/> auch ganz ungefährlich ist. Wer aber nicht<lb/> auf Blühers Erklärung geeicht ist, muß diese<lb/> Darstellung als Lästerung des Wandervogels<lb/> empfinden. Deshalb hat der Altwandervogel<lb/> öffentlich gegen Blühers Buch Stellung ge¬<lb/> nommen und ihn veranlaßt, der Wandersache<lb/> fernzubleiben. Binder ist, wie so viele auf<lb/> humanistischen Gymnasien Erzogene, dem<lb/> alleinseligmachenden Glauben an die mo¬<lb/> dernsten naturwissenschaftlichen Entdeckungen<lb/> anheimgefallen, von einer Orthodoxie in die<lb/> andere! Sein Buch bedeutet in dieser Hin¬<lb/> sicht gar nichts; aber eS ist leider nicht aus-</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0249]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
2. Auflage. Berlin, Bernhard Weise, 1912;
Z.Band: Die deutsche Wandervogelbewegung
als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur
Erkenntnis der sexuellen Inversion; ebenda
1912. 6,60 Mark für alle drei Bände.
Dies Buch hat mit Recht unter Wanderern
und Oberlehrern viel Aufsehen erregt, mit
Unrecht eine Beunruhigung im Wandervogel
erzeugt. Soweit der Verfasser die Entstehung
der Wanderbewegung aus dem romantischen
Auflehnungsbedürfnis der Jugend gegen
Zwang und hergebrachte Sitte darstellt, ist er
ein feinsinniger Schilderer jugendlicher Ge¬
mütsart und ein äußerst talentvoller Schrift¬
steller; man kann begreifen, daß selbst er¬
fahrene Erzieher dein ersten Teil zujauchzten
und ihn den Wandervögeln empfahlen. Es
liegt soviel Wahres in der krassen Schilderung
des Gegensatzes zwischen der fatzkenhaften,
blasierten Großstadtjugend und dem ur¬
wüchsigen, etwas übertriebenen Naturburschen-
tum des aufgehenden Wandervogels! Mit
welcher Begeisterung mögen die Schulbuben
den ersten originellen „Bachanten" zugeströmt
sein, endlich allein, ohne Aufsicht der Schule I
Da fanden sie, was moderne Erzieher ihnen
wünschten, der Natur der Sache nach ihnen
aber nicht selbst geben konnten: Selbständig¬
keit in ihrem Treiben außerhalb der Schul¬
wände, romantische Abenteuer, verständnisvolle
ältere Kameraden, eine freie, untereinander
nach eigenen Bedürfnissen abgemachte Sitt¬
lichkeit, ein eigenes Leben, in das Schule
und Elternhaus nicht hindernd eingreifen
konnten.
Die ersten Bachanten und namentlich der
„Oberbachant" Karl Fischer, die Binder mit
seiner Kunst schildert, müssen in der Tat be¬
strickende Persönlichkeiten gewesen sein. Viele
von den Wandervögeln lebten unverstanden
vom Elternhause dahin und fanden keine
Nahrung für ihr sehnendes Gemüt. Die
traurige Tatsache, daß die Jugend in tausend
Fällen im Elternhause kein Verständnis für
ihre innersten Bedrängnisse findet, daß die
Familienerziehung nur allzuoft seicht und
nutzmäßig eingerichtet ist, hat Binder rück¬
sichtslos gekennzeichnet, radikaler, als wir es
gewohnt sind. Das ist ihm hart verdacht
worden; aber er hat ja das Buch nicht für
Kinder geschrieben, und mancher Vater mag
sich von Binder sagen lassen, daß es äußerst
bequem ist, für Erzeugung, Nahrung und
Kleidung den Dank der Kinder als, selbst¬
verständliche Pflicht zu beanspruchen.
Wenn Binder die aufrührerische Romantik
als Wurzel des Wunderbaumes darstellt,
so können? wir ihm nur zustimmen und möchten
wünschen, daß die begeisternde Kraft alles
romantisch Natürlichen, Phantastischen, Unbe¬
griffenen unserer Jugend nicht verloren geht,
daß sie nicht schon in der blühenden goldenen
Zeit zu geschäftsmäßigen Nutzmenschen werde.
Aber, wenn Binder mit einer sei Koa
zurechtgemachten Definition als andere Wurzel
der Wandervogelbewegung die sexuelle In¬
version — zu deutsch „Jrrbrunst" — heraus¬
findet, so ist das ein wissenschaftlicher Rein¬
fall erster Ordnung. Die Briefe, die Binder
als Beweismaterial anführt, beweisen für seine
Behauptung nichts. Man sieht aus einigen,
daß im Wandervogel auch einige Jrrbrünstige
gewesen sind; andere können nur dann über¬
haupt mitzählen, wenn man mit Binder
glaubt, „daß man alles Sehnen nach Men¬
schen eben sexuell verstehen muß, um es
überhaupt zu verstehen". Man wird zu¬
geben, daß es mit dieser Definition leicht ist,
den Wandervogel als „erotisches Phänomen"
zu erklären. Aber warum nur den Wander¬
vogel? Ich mache mich anheischig, unter
Anwendung zahlreicher Fremdwörter mit
Blühers Mitteln jeden beliebigen Kegelklub
als „erotisches Phänomen" zu erweisen.
Binder hat durch einen Wortbetrug die
schwärmerischen Freundschaften der roman¬
tischen Wanderbewegung als homosexuell be¬
zeichnet, was übrigens für ihn keinen Vor¬
wurf bedeutet und nach seiner Definition ja
auch ganz ungefährlich ist. Wer aber nicht
auf Blühers Erklärung geeicht ist, muß diese
Darstellung als Lästerung des Wandervogels
empfinden. Deshalb hat der Altwandervogel
öffentlich gegen Blühers Buch Stellung ge¬
nommen und ihn veranlaßt, der Wandersache
fernzubleiben. Binder ist, wie so viele auf
humanistischen Gymnasien Erzogene, dem
alleinseligmachenden Glauben an die mo¬
dernsten naturwissenschaftlichen Entdeckungen
anheimgefallen, von einer Orthodoxie in die
andere! Sein Buch bedeutet in dieser Hin¬
sicht gar nichts; aber eS ist leider nicht aus-
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