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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren

maudit für den Glanz des Mittelalters schließlich gar unrühmlich endete.
"Jenes Menschenalter hat an lesbaren Erzählungsstoff mehr gebracht als fast
die ganze übrige neue deutsche Literatur," sagt Rich. M. Meyer über diese
Zeit, und in der Tat entwickelten manche Schriftsteller eine geradezu beängstigende
Fruchtbarkeit, mit welcher die Romanschreiber und -Schreiberinnen unserer Tage
auch nicht annähernd wetteifern können. Spindler, dessen Erzählungen zum
Teil nicht des Verdienstes entbehren, ist mit 47 Romanen vertreten; der
Weimarer von Tromlitz ist mit 59, Gustav Schilling gar mit 67 Bänden auf¬
geführt. Es ist gar nicht so übel, in einer müßigen Stunde einen solchen
Roman durchzublättern. Der Stil ist gewiß nicht immer untadelig, doch meist
recht flüssig. Der Verfasser kennt genau die Bedürfnisse seiner Leser; seine
Personen reden, handeln, bewegen sich demgemäß immer mit dem Gesicht nach
dem Publikum. Oft hat man das Gefühl, als ob der biedere Dichter, während
er, behaglich im Schlafrocke am Schreibtisch sitzend, seine rührenden Ergüsse
niederschreibe, dem Publikum in gutmütiger Selbstzufriedenheit zunickte: "Wie
wird euch doch wieder diese Stelle gefallen und an das Herz greifen!" Mit
dem schweren Gepäck an ästhetischen, moralischen und sozialen Forderungen,
denen heute unsere Dichter genügen müssen, hatten sich jene Schriftsteller nicht
abzuplagen: sie wollten nichts anderes als unterhalten und erreichten dieses
Ziel mit Sicherheit. In der Tat erfreuten sich ihre Romane der weitesten
Verbreitung bei Alt und Jung, Hoch und niedrig, und die Romane Lafontaines,
die wir gleichfalls in unserer Bibliothek wiederfinden, rührten die Herzen eines
Friedrich Wilhelm des Dritten und einer Königin Luise nicht minder als ihrer
geringsten Untertanen.

Alle diese Romane zielen mit ihrer Wirkung auf das gefühlvolle Gemüt
ihrer Leser ab. Und doch ist es eine andere Empfindsamkeit als die zur
Wertherzeit die Herzen der Jünglinge und Jungfrauen von schmerzlichen Ge¬
fühlen überströmen ließ. Sie hat vielmehr einen philiströsen Einschlag; sie
will die Herzen nicht von Grund aus bewegen, sondern nur die Oberfläche
ritzen, gerade tief genug, daß die sauft fließenden Tränen dem empfindsamen
Leser oder der schönen Leserin den Genuß ihrer zarten Seele und des eigenen
behaglichen Zustandes zu wonnigem Bewußtsein bringen. Da der Zweck dieser
Erzählungen nicht in ihnen selbst, sondern außerhalb, nämlich in der Rührung
des Lesers liegt, so dürfen wir innere Wahrheit nicht bei ihnen suchen, und
das Bemühen, beständig auf die Gefühle des Lesers zu wirken, mußte dahin
führen, daß man sich auch an unedlere Regungen der Seele, vor allem an die
Sinnlichkeit wandte. Der Meister dieser süßlich-lüsternen Erzählungen, Clauren,
fehlt in unserer Bücherei natürlich nicht: sein Taschenbuch "Vergißmeinnicht"
ist mit 13 Bänden vertreten.

Wenn diese Werke ihren sinnlichen Charakter noch unter dem Mantel einer
gewissen falschen Unschuld verstecken, gerade dadurch aber vielleicht um so ver¬
derblicher wirken, so finden wir in unserer Bibliothek daneben auch eine lange


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maudit für den Glanz des Mittelalters schließlich gar unrühmlich endete.
„Jenes Menschenalter hat an lesbaren Erzählungsstoff mehr gebracht als fast
die ganze übrige neue deutsche Literatur," sagt Rich. M. Meyer über diese
Zeit, und in der Tat entwickelten manche Schriftsteller eine geradezu beängstigende
Fruchtbarkeit, mit welcher die Romanschreiber und -Schreiberinnen unserer Tage
auch nicht annähernd wetteifern können. Spindler, dessen Erzählungen zum
Teil nicht des Verdienstes entbehren, ist mit 47 Romanen vertreten; der
Weimarer von Tromlitz ist mit 59, Gustav Schilling gar mit 67 Bänden auf¬
geführt. Es ist gar nicht so übel, in einer müßigen Stunde einen solchen
Roman durchzublättern. Der Stil ist gewiß nicht immer untadelig, doch meist
recht flüssig. Der Verfasser kennt genau die Bedürfnisse seiner Leser; seine
Personen reden, handeln, bewegen sich demgemäß immer mit dem Gesicht nach
dem Publikum. Oft hat man das Gefühl, als ob der biedere Dichter, während
er, behaglich im Schlafrocke am Schreibtisch sitzend, seine rührenden Ergüsse
niederschreibe, dem Publikum in gutmütiger Selbstzufriedenheit zunickte: „Wie
wird euch doch wieder diese Stelle gefallen und an das Herz greifen!" Mit
dem schweren Gepäck an ästhetischen, moralischen und sozialen Forderungen,
denen heute unsere Dichter genügen müssen, hatten sich jene Schriftsteller nicht
abzuplagen: sie wollten nichts anderes als unterhalten und erreichten dieses
Ziel mit Sicherheit. In der Tat erfreuten sich ihre Romane der weitesten
Verbreitung bei Alt und Jung, Hoch und niedrig, und die Romane Lafontaines,
die wir gleichfalls in unserer Bibliothek wiederfinden, rührten die Herzen eines
Friedrich Wilhelm des Dritten und einer Königin Luise nicht minder als ihrer
geringsten Untertanen.

Alle diese Romane zielen mit ihrer Wirkung auf das gefühlvolle Gemüt
ihrer Leser ab. Und doch ist es eine andere Empfindsamkeit als die zur
Wertherzeit die Herzen der Jünglinge und Jungfrauen von schmerzlichen Ge¬
fühlen überströmen ließ. Sie hat vielmehr einen philiströsen Einschlag; sie
will die Herzen nicht von Grund aus bewegen, sondern nur die Oberfläche
ritzen, gerade tief genug, daß die sauft fließenden Tränen dem empfindsamen
Leser oder der schönen Leserin den Genuß ihrer zarten Seele und des eigenen
behaglichen Zustandes zu wonnigem Bewußtsein bringen. Da der Zweck dieser
Erzählungen nicht in ihnen selbst, sondern außerhalb, nämlich in der Rührung
des Lesers liegt, so dürfen wir innere Wahrheit nicht bei ihnen suchen, und
das Bemühen, beständig auf die Gefühle des Lesers zu wirken, mußte dahin
führen, daß man sich auch an unedlere Regungen der Seele, vor allem an die
Sinnlichkeit wandte. Der Meister dieser süßlich-lüsternen Erzählungen, Clauren,
fehlt in unserer Bücherei natürlich nicht: sein Taschenbuch „Vergißmeinnicht"
ist mit 13 Bänden vertreten.

Wenn diese Werke ihren sinnlichen Charakter noch unter dem Mantel einer
gewissen falschen Unschuld verstecken, gerade dadurch aber vielleicht um so ver¬
derblicher wirken, so finden wir in unserer Bibliothek daneben auch eine lange


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[0224] Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren maudit für den Glanz des Mittelalters schließlich gar unrühmlich endete. „Jenes Menschenalter hat an lesbaren Erzählungsstoff mehr gebracht als fast die ganze übrige neue deutsche Literatur," sagt Rich. M. Meyer über diese Zeit, und in der Tat entwickelten manche Schriftsteller eine geradezu beängstigende Fruchtbarkeit, mit welcher die Romanschreiber und -Schreiberinnen unserer Tage auch nicht annähernd wetteifern können. Spindler, dessen Erzählungen zum Teil nicht des Verdienstes entbehren, ist mit 47 Romanen vertreten; der Weimarer von Tromlitz ist mit 59, Gustav Schilling gar mit 67 Bänden auf¬ geführt. Es ist gar nicht so übel, in einer müßigen Stunde einen solchen Roman durchzublättern. Der Stil ist gewiß nicht immer untadelig, doch meist recht flüssig. Der Verfasser kennt genau die Bedürfnisse seiner Leser; seine Personen reden, handeln, bewegen sich demgemäß immer mit dem Gesicht nach dem Publikum. Oft hat man das Gefühl, als ob der biedere Dichter, während er, behaglich im Schlafrocke am Schreibtisch sitzend, seine rührenden Ergüsse niederschreibe, dem Publikum in gutmütiger Selbstzufriedenheit zunickte: „Wie wird euch doch wieder diese Stelle gefallen und an das Herz greifen!" Mit dem schweren Gepäck an ästhetischen, moralischen und sozialen Forderungen, denen heute unsere Dichter genügen müssen, hatten sich jene Schriftsteller nicht abzuplagen: sie wollten nichts anderes als unterhalten und erreichten dieses Ziel mit Sicherheit. In der Tat erfreuten sich ihre Romane der weitesten Verbreitung bei Alt und Jung, Hoch und niedrig, und die Romane Lafontaines, die wir gleichfalls in unserer Bibliothek wiederfinden, rührten die Herzen eines Friedrich Wilhelm des Dritten und einer Königin Luise nicht minder als ihrer geringsten Untertanen. Alle diese Romane zielen mit ihrer Wirkung auf das gefühlvolle Gemüt ihrer Leser ab. Und doch ist es eine andere Empfindsamkeit als die zur Wertherzeit die Herzen der Jünglinge und Jungfrauen von schmerzlichen Ge¬ fühlen überströmen ließ. Sie hat vielmehr einen philiströsen Einschlag; sie will die Herzen nicht von Grund aus bewegen, sondern nur die Oberfläche ritzen, gerade tief genug, daß die sauft fließenden Tränen dem empfindsamen Leser oder der schönen Leserin den Genuß ihrer zarten Seele und des eigenen behaglichen Zustandes zu wonnigem Bewußtsein bringen. Da der Zweck dieser Erzählungen nicht in ihnen selbst, sondern außerhalb, nämlich in der Rührung des Lesers liegt, so dürfen wir innere Wahrheit nicht bei ihnen suchen, und das Bemühen, beständig auf die Gefühle des Lesers zu wirken, mußte dahin führen, daß man sich auch an unedlere Regungen der Seele, vor allem an die Sinnlichkeit wandte. Der Meister dieser süßlich-lüsternen Erzählungen, Clauren, fehlt in unserer Bücherei natürlich nicht: sein Taschenbuch „Vergißmeinnicht" ist mit 13 Bänden vertreten. Wenn diese Werke ihren sinnlichen Charakter noch unter dem Mantel einer gewissen falschen Unschuld verstecken, gerade dadurch aber vielleicht um so ver¬ derblicher wirken, so finden wir in unserer Bibliothek daneben auch eine lange

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/224>, abgerufen am 20.10.2024.