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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die armenisch-kurdische Frage

setzten. Die im September 1894 endlich in Gang gekommene diplomatische
Aktion von England, Frankreich und Rußland*), von der Regierung natürlich
nicht gern gesehen und von den Mohammedanern als unbefugte Einmischung
in eine rein türkische Angelegenheit empfunden, beschleunigte den Ausbruch der
Massaker.

Diese agitatorische Bewegung hatte naturgemäß das Mißtrauen und die
Vorsichtsmaßregeln der Pforte hervorrufen müssen, die die kaum zwei Jahr¬
zehnte zurückliegenden analogen Vorgänge in Bosnien und Bulgarien nicht ver¬
gessen haben konnte.

Als die Bewegung zu Pulsader führte, wurden diese blutig unterdrückt und
mit Repressalien in Form von planmäßig ins Werk gesetzten Massakern unter
der armenischen Stadt- und Landbevölkerung beantwortet.

Schon vorher hatte der Sultan eine Maßregel zur Ausführung gebracht,
von der er sich zur Niederhaltung der armenischen Bevölkerung großen Nutzen
versprochen zu haben scheint. Wahrscheinlich unter dem Einfluß seiner damaligen
kurdischen Ratgeber halte er beschlossen, die bis dahin unausgenutzte Volkskraft
der kurdischen Stämme durch ihre Zusammenfassung in eine Milizkavallerie mobil
zu machen gegen den inneren Feind wie gegen die Russen, denen er damit eine
ähnliche Organisation wie deren alte Kosakenregimenter entgegenstellen wollte.

Diese Hamidijeregimenter, die schon an den Massakern von 1895 und 189"
stark beteiligt waren, sind seitdem die Geißel des armenischen Volkes geworden,
dessen planmäßige Ausrottung sie fortan als Vertreter der Staatsgewalt bis
auf den heutigen Tag fortgesetzt haben. Aber auch der Regierung wurden
diese organisierten Räuberbanden durch ihre zunehmende Macht bald unbequem,
einzelne ihrer Häuptlinge direkt gefährlich; ihre Besoldung bildete zudem eine
schwere Belastung der Staatsfinanzen. Die Einsetzung einer neuen Reform¬
kommission 1905 hatte, wie nicht anders zu erwarten war, als einziges Er¬
gebnis einen erneuten Ausbruch der Gemetzel, diesmal in Adana zur Folge.

An dem Gang der Dinge änderte auch die Revolution von 1908 nichts;
den Armeniern brachte sie nicht die erhoffte Besserung ihrer Lage, wie von Sach¬
kennern vorausgesagt war**). Wenn auch die jungtürkischen Machthaber in
Nachäffung des französischen Beispiels "Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit" auf
ihr Programm gesetzt hatten, eine Devise, die sie schon nach einem Jahre unter
Ersetzung von "Brüderlichkeit" durch "Gerechtigkeit" abzuändern sich veranlaßt
sahen, so haben wenigstens die Armenier von allen diesen Verheißungen nichts
zu sehen bekommen. Mit der jungtürkischen Wirtschaft hätten sie auch ohne
Wiederholung der Massaker in Adana 1909***) nicht zufrieden sein können.





*) Der damalige türkische Minister des Äußeren Tnrchcm Pascha durfte den Vertretern
dieser Mächte die bittere Bemerkung machen: die armenische Bevölkerung sei friedfertig gewesen,
bis die Sympathien der Großmächte sich ihr zuwandten.
**) Lepsius, "Armenien und Europa," S. 114.
***) Wer die Schuld an diesen trug, ob der alte Sultan oder die neuen Machthaber,
soll hier nicht untersucht werden. Charakteristisch war das Benehmen der von Konstantinopel
Die armenisch-kurdische Frage

setzten. Die im September 1894 endlich in Gang gekommene diplomatische
Aktion von England, Frankreich und Rußland*), von der Regierung natürlich
nicht gern gesehen und von den Mohammedanern als unbefugte Einmischung
in eine rein türkische Angelegenheit empfunden, beschleunigte den Ausbruch der
Massaker.

Diese agitatorische Bewegung hatte naturgemäß das Mißtrauen und die
Vorsichtsmaßregeln der Pforte hervorrufen müssen, die die kaum zwei Jahr¬
zehnte zurückliegenden analogen Vorgänge in Bosnien und Bulgarien nicht ver¬
gessen haben konnte.

Als die Bewegung zu Pulsader führte, wurden diese blutig unterdrückt und
mit Repressalien in Form von planmäßig ins Werk gesetzten Massakern unter
der armenischen Stadt- und Landbevölkerung beantwortet.

Schon vorher hatte der Sultan eine Maßregel zur Ausführung gebracht,
von der er sich zur Niederhaltung der armenischen Bevölkerung großen Nutzen
versprochen zu haben scheint. Wahrscheinlich unter dem Einfluß seiner damaligen
kurdischen Ratgeber halte er beschlossen, die bis dahin unausgenutzte Volkskraft
der kurdischen Stämme durch ihre Zusammenfassung in eine Milizkavallerie mobil
zu machen gegen den inneren Feind wie gegen die Russen, denen er damit eine
ähnliche Organisation wie deren alte Kosakenregimenter entgegenstellen wollte.

Diese Hamidijeregimenter, die schon an den Massakern von 1895 und 189»
stark beteiligt waren, sind seitdem die Geißel des armenischen Volkes geworden,
dessen planmäßige Ausrottung sie fortan als Vertreter der Staatsgewalt bis
auf den heutigen Tag fortgesetzt haben. Aber auch der Regierung wurden
diese organisierten Räuberbanden durch ihre zunehmende Macht bald unbequem,
einzelne ihrer Häuptlinge direkt gefährlich; ihre Besoldung bildete zudem eine
schwere Belastung der Staatsfinanzen. Die Einsetzung einer neuen Reform¬
kommission 1905 hatte, wie nicht anders zu erwarten war, als einziges Er¬
gebnis einen erneuten Ausbruch der Gemetzel, diesmal in Adana zur Folge.

An dem Gang der Dinge änderte auch die Revolution von 1908 nichts;
den Armeniern brachte sie nicht die erhoffte Besserung ihrer Lage, wie von Sach¬
kennern vorausgesagt war**). Wenn auch die jungtürkischen Machthaber in
Nachäffung des französischen Beispiels „Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit" auf
ihr Programm gesetzt hatten, eine Devise, die sie schon nach einem Jahre unter
Ersetzung von „Brüderlichkeit" durch „Gerechtigkeit" abzuändern sich veranlaßt
sahen, so haben wenigstens die Armenier von allen diesen Verheißungen nichts
zu sehen bekommen. Mit der jungtürkischen Wirtschaft hätten sie auch ohne
Wiederholung der Massaker in Adana 1909***) nicht zufrieden sein können.





*) Der damalige türkische Minister des Äußeren Tnrchcm Pascha durfte den Vertretern
dieser Mächte die bittere Bemerkung machen: die armenische Bevölkerung sei friedfertig gewesen,
bis die Sympathien der Großmächte sich ihr zuwandten.
**) Lepsius, „Armenien und Europa," S. 114.
***) Wer die Schuld an diesen trug, ob der alte Sultan oder die neuen Machthaber,
soll hier nicht untersucht werden. Charakteristisch war das Benehmen der von Konstantinopel
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/21>, abgerufen am 27.12.2024.