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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

mir das Zwingende, Selbstverständliche,
Bewußt-Unbewußte; die Berechnung über¬
wiegt.

Hugo Salus verwahrt sich im Vorwort
zu seinem "Glockenklang" (Albert Langen,
München; br. 2 M,, geb. 3M.) dagegen, daß
seine Bücher beständig als "liebenswürdig"
im abgebrauchter Sinne bezeichnet würden.
Es ist das erste Buch des Prager Dichters,
das ich kennen lernte, aber einen kräftigen
Widerhall vermochte es in mir nicht zu er¬
wecken. Trotzdem sind mir diese schlichten
Verse sympathischer als das Wortgepränge
der beiden vorangehenden Autoren; sie sind
ohne Nebenabsichten, wahr und freundlich.
Lieder und Betrachtungen wechseln ab und
geben dem Buche in ihrer ungesuchten Klarheit
etwas Freundliches, Treuherziges. Vielleicht
wäre es gut, wenn Hugo Salus noch sorg¬
samer auswählte; manche Gedichte dünken
mich ein wenig nebensächlich, altgewohnt.
Aber die schöne Natürlichkeit, die sich überall
dartut, erhebt dennoch dieses Versheft über
diele anderen, die sich durch leere Auf-
geschwollenheit spreizen. Hier eine Probe:

[Spaltenumbruch]

Mit zwiespältigen Empfindungen las ich
die "Lieder an ein Mädchen" von Hans
Heinrich Ehrler (Albert Langen, München;
br. 1,50 M, geb. 2,60 M.). Es scheint mir
außer Zweifel, daß diese kleinen Gedichte --
viele umfassen nur vier Zeilen -- wirklich er¬
lebt und gefühlt sind. Doch dieser erfreuliche
Vorzug erleidet erhebliche Einbuße durch die
Mangelhaftigkeit der inneren Form. Die
Verse sind improvisiert oder sollen doch diesen
Eindruck erwecken. Aber Ehrler vergißt, daß
eben hierbei feinste Kunstübung formen muß;
der Gedanke an eine Unbeholfenheit zerstört
gerade bei so leichten Liedern die gewollte
Wirkung mit plötzlicher Rauheit. So empfinde
ich Verse, wie:

einfach als ungeschickt. Anderseits duftet viel
Frühling aus diesen Blättern, manches lieb¬
liche Bild entzückt den Leser und lockt ihn in
glückliche Einsamkeit. Das Ungesuchte, Ur¬
sprüngliche gibt dem Buche seinen Wert, wenn¬
gleich nicht verkannt sein soll, daß manche
Verse inhaltlich recht nebensächlich und un¬
wichtig anmuten. Das persönliche Erlebnis
ist nicht immer auf die Höhe des Allgemein-
empfindens emporgehoben, die ja der Lyrik
erst Bestimmung und Dauer verleiht.

Kräftiger, kantiger zeigt sich Bruno Frank.
Seinem Buche "Im Schatten der Dinge"
(Albert Langen, München) kommt man nur
langsam nciher. Aber dann erkennt man seinen
Wert um so deutlicher. Eine angenehme Rea¬
lität lebt in diesen Gedichten; sie verlieren
sich nicht in Dämmer und Ferne, sondern
zeugen von Besonnenheit und klarem, festem
Blicke. In sich gekehrt, betrachtet Bruno Frank
die Erscheinungen der Umwelt und sucht sie
in seiner etwas spröden Art zu deuten und
als Symbole darzustellen. Nicht immer ist
ihm eine reine Zusammenfassung geglückt;
oft verstimmt noch ein Erdenrest, peinlich
zu tragen, eine nüchterne, verlegene Wendung.
Aber der letzte Eindruck bleibt doch ein guter,
vertrauender. Ich möchte zwei kurze Gedichte
als Beweise anführen.

[Ende Spaltensatz]
Helles Zimmer
Das Zimmer flimmert hell im Sonnen¬
schein :
Und Gläser, Rahmen, Klinker, Lampen,
Spangen,
Ein jedes hat sein Sönnlein eingefangen
Und prahlt mit seinem Licht ins Licht
hinein. ES ist, als könnte keines Alltags Hand
Den Schimmer dieser Dinge jemals
stören,
Die doch, ganz irdisch, ihm allein ge¬
hören,
Als wären Nacht und Dunkel weit ge¬
bannt. Doch alles Licht ist durch den Schein
besiegt,
Der sich um einen weißen Korb ver¬
sammelt,
Drin seine Daseinslust ein Säugling
stammelt,
Und drauf der Morgenglanz der Zukunft
liegt...

Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

mir das Zwingende, Selbstverständliche,
Bewußt-Unbewußte; die Berechnung über¬
wiegt.

Hugo Salus verwahrt sich im Vorwort
zu seinem „Glockenklang" (Albert Langen,
München; br. 2 M,, geb. 3M.) dagegen, daß
seine Bücher beständig als „liebenswürdig"
im abgebrauchter Sinne bezeichnet würden.
Es ist das erste Buch des Prager Dichters,
das ich kennen lernte, aber einen kräftigen
Widerhall vermochte es in mir nicht zu er¬
wecken. Trotzdem sind mir diese schlichten
Verse sympathischer als das Wortgepränge
der beiden vorangehenden Autoren; sie sind
ohne Nebenabsichten, wahr und freundlich.
Lieder und Betrachtungen wechseln ab und
geben dem Buche in ihrer ungesuchten Klarheit
etwas Freundliches, Treuherziges. Vielleicht
wäre es gut, wenn Hugo Salus noch sorg¬
samer auswählte; manche Gedichte dünken
mich ein wenig nebensächlich, altgewohnt.
Aber die schöne Natürlichkeit, die sich überall
dartut, erhebt dennoch dieses Versheft über
diele anderen, die sich durch leere Auf-
geschwollenheit spreizen. Hier eine Probe:

[Spaltenumbruch]

Mit zwiespältigen Empfindungen las ich
die „Lieder an ein Mädchen" von Hans
Heinrich Ehrler (Albert Langen, München;
br. 1,50 M, geb. 2,60 M.). Es scheint mir
außer Zweifel, daß diese kleinen Gedichte —
viele umfassen nur vier Zeilen — wirklich er¬
lebt und gefühlt sind. Doch dieser erfreuliche
Vorzug erleidet erhebliche Einbuße durch die
Mangelhaftigkeit der inneren Form. Die
Verse sind improvisiert oder sollen doch diesen
Eindruck erwecken. Aber Ehrler vergißt, daß
eben hierbei feinste Kunstübung formen muß;
der Gedanke an eine Unbeholfenheit zerstört
gerade bei so leichten Liedern die gewollte
Wirkung mit plötzlicher Rauheit. So empfinde
ich Verse, wie:

einfach als ungeschickt. Anderseits duftet viel
Frühling aus diesen Blättern, manches lieb¬
liche Bild entzückt den Leser und lockt ihn in
glückliche Einsamkeit. Das Ungesuchte, Ur¬
sprüngliche gibt dem Buche seinen Wert, wenn¬
gleich nicht verkannt sein soll, daß manche
Verse inhaltlich recht nebensächlich und un¬
wichtig anmuten. Das persönliche Erlebnis
ist nicht immer auf die Höhe des Allgemein-
empfindens emporgehoben, die ja der Lyrik
erst Bestimmung und Dauer verleiht.

Kräftiger, kantiger zeigt sich Bruno Frank.
Seinem Buche „Im Schatten der Dinge"
(Albert Langen, München) kommt man nur
langsam nciher. Aber dann erkennt man seinen
Wert um so deutlicher. Eine angenehme Rea¬
lität lebt in diesen Gedichten; sie verlieren
sich nicht in Dämmer und Ferne, sondern
zeugen von Besonnenheit und klarem, festem
Blicke. In sich gekehrt, betrachtet Bruno Frank
die Erscheinungen der Umwelt und sucht sie
in seiner etwas spröden Art zu deuten und
als Symbole darzustellen. Nicht immer ist
ihm eine reine Zusammenfassung geglückt;
oft verstimmt noch ein Erdenrest, peinlich
zu tragen, eine nüchterne, verlegene Wendung.
Aber der letzte Eindruck bleibt doch ein guter,
vertrauender. Ich möchte zwei kurze Gedichte
als Beweise anführen.

[Ende Spaltensatz]
Helles Zimmer
Das Zimmer flimmert hell im Sonnen¬
schein :
Und Gläser, Rahmen, Klinker, Lampen,
Spangen,
Ein jedes hat sein Sönnlein eingefangen
Und prahlt mit seinem Licht ins Licht
hinein. ES ist, als könnte keines Alltags Hand
Den Schimmer dieser Dinge jemals
stören,
Die doch, ganz irdisch, ihm allein ge¬
hören,
Als wären Nacht und Dunkel weit ge¬
bannt. Doch alles Licht ist durch den Schein
besiegt,
Der sich um einen weißen Korb ver¬
sammelt,
Drin seine Daseinslust ein Säugling
stammelt,
Und drauf der Morgenglanz der Zukunft
liegt...

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[0199] Maßgebliches und Unmaßgebliches mir das Zwingende, Selbstverständliche, Bewußt-Unbewußte; die Berechnung über¬ wiegt. Hugo Salus verwahrt sich im Vorwort zu seinem „Glockenklang" (Albert Langen, München; br. 2 M,, geb. 3M.) dagegen, daß seine Bücher beständig als „liebenswürdig" im abgebrauchter Sinne bezeichnet würden. Es ist das erste Buch des Prager Dichters, das ich kennen lernte, aber einen kräftigen Widerhall vermochte es in mir nicht zu er¬ wecken. Trotzdem sind mir diese schlichten Verse sympathischer als das Wortgepränge der beiden vorangehenden Autoren; sie sind ohne Nebenabsichten, wahr und freundlich. Lieder und Betrachtungen wechseln ab und geben dem Buche in ihrer ungesuchten Klarheit etwas Freundliches, Treuherziges. Vielleicht wäre es gut, wenn Hugo Salus noch sorg¬ samer auswählte; manche Gedichte dünken mich ein wenig nebensächlich, altgewohnt. Aber die schöne Natürlichkeit, die sich überall dartut, erhebt dennoch dieses Versheft über diele anderen, die sich durch leere Auf- geschwollenheit spreizen. Hier eine Probe: Mit zwiespältigen Empfindungen las ich die „Lieder an ein Mädchen" von Hans Heinrich Ehrler (Albert Langen, München; br. 1,50 M, geb. 2,60 M.). Es scheint mir außer Zweifel, daß diese kleinen Gedichte — viele umfassen nur vier Zeilen — wirklich er¬ lebt und gefühlt sind. Doch dieser erfreuliche Vorzug erleidet erhebliche Einbuße durch die Mangelhaftigkeit der inneren Form. Die Verse sind improvisiert oder sollen doch diesen Eindruck erwecken. Aber Ehrler vergißt, daß eben hierbei feinste Kunstübung formen muß; der Gedanke an eine Unbeholfenheit zerstört gerade bei so leichten Liedern die gewollte Wirkung mit plötzlicher Rauheit. So empfinde ich Verse, wie: einfach als ungeschickt. Anderseits duftet viel Frühling aus diesen Blättern, manches lieb¬ liche Bild entzückt den Leser und lockt ihn in glückliche Einsamkeit. Das Ungesuchte, Ur¬ sprüngliche gibt dem Buche seinen Wert, wenn¬ gleich nicht verkannt sein soll, daß manche Verse inhaltlich recht nebensächlich und un¬ wichtig anmuten. Das persönliche Erlebnis ist nicht immer auf die Höhe des Allgemein- empfindens emporgehoben, die ja der Lyrik erst Bestimmung und Dauer verleiht. Kräftiger, kantiger zeigt sich Bruno Frank. Seinem Buche „Im Schatten der Dinge" (Albert Langen, München) kommt man nur langsam nciher. Aber dann erkennt man seinen Wert um so deutlicher. Eine angenehme Rea¬ lität lebt in diesen Gedichten; sie verlieren sich nicht in Dämmer und Ferne, sondern zeugen von Besonnenheit und klarem, festem Blicke. In sich gekehrt, betrachtet Bruno Frank die Erscheinungen der Umwelt und sucht sie in seiner etwas spröden Art zu deuten und als Symbole darzustellen. Nicht immer ist ihm eine reine Zusammenfassung geglückt; oft verstimmt noch ein Erdenrest, peinlich zu tragen, eine nüchterne, verlegene Wendung. Aber der letzte Eindruck bleibt doch ein guter, vertrauender. Ich möchte zwei kurze Gedichte als Beweise anführen. Helles Zimmer Das Zimmer flimmert hell im Sonnen¬ schein : Und Gläser, Rahmen, Klinker, Lampen, Spangen, Ein jedes hat sein Sönnlein eingefangen Und prahlt mit seinem Licht ins Licht hinein. ES ist, als könnte keines Alltags Hand Den Schimmer dieser Dinge jemals stören, Die doch, ganz irdisch, ihm allein ge¬ hören, Als wären Nacht und Dunkel weit ge¬ bannt. Doch alles Licht ist durch den Schein besiegt, Der sich um einen weißen Korb ver¬ sammelt, Drin seine Daseinslust ein Säugling stammelt, Und drauf der Morgenglanz der Zukunft liegt...

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/199>, abgerufen am 28.12.2024.