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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Kämpfe unserer Lehrerschaft

Volksschüler. Das Schlagwort "Jugendkunde" deutet eine große Zahl von
psychologischen und sozialen und hygienischen Forderungen auch für die Volks¬
schule an, pathologische und minderwertige Kinder aller Art verlangen Berück¬
sichtigung. Der systematische Zusammenhang der Erziehungsfragen und ihre
philosophische Begründung und Betrachtung sind zum mindesten für keinen
Pädagogen zu entbehren, der auf einer höheren Warte stehen will, und sie sind
für die unmittelbare Berufsarbeit ebenso wichtig wie für die leitenden Kreise.

Diesen Tatsachen gegenüber ist unter den Volksschullehrern fast allgemein
das Bewußtsein vorhanden, daß sie von einer eigentlich wissenschaftlichen Durch¬
dringung und Erforschung ihrer Berufsfragen ebenso zurückgehalten werden wie
auf ihrer amtlichen Laufbahn. Sie sehen auch in den Mittelschullehrerkursen,
die in mehreren großen Städten mit Unterstützung der Staatsregierung ab¬
gehalten werden, keinen gangbaren Weg, um zu ausreichendem und anerkannten
Fachwissen zu gelangen. Tatsächlich erscheinen diese Kurse nach schriftlichen und
mündlichen Zeugnissen nicht als eine Vertiefung, sondern nur als eine Fort¬
setzung, ja teilweise sogar als eine Wiederholung des Seminarunterrichts. Was
für den Volksschullehrer im weiteren Sinne an vertiefter wissenschaftlicher Fachbildung
notwendig erscheint, ist die Fähigkeit, wissenschaftliches Kulturgut in das volks¬
tümliche und kindertümliche Denken umprägen zu können. Es kann zu dem Zweck
nicht genügen, daß Bildungsgut nur in erweitertem Umfange erworben wird,
als eine bloße Mitteilung erarbeiteten Wissens; zu dieser Kunst, soweit sie
erworben werden kann, führt nur das Verständnis von dem Werden der wissen¬
schaftlichen Erkenntnis. Das ist nicht notwendig, um etwa einem Fachlehrertum
in der Volksschule Vorschub zu leisten, sondern um die Volksschule in steter
Fühlung mit der Wissenschaft zu erhalten. Der Volksschullehrer muß im¬
stande sein, Veraltetes und Unhaltbares zu erkennen, und diese kritische Denk¬
weise muß auch seinen Unterricht beherrschen. Es muß bestritten werden, daß
eine tiefere Berufsbildung den Volksschulunterricht nach der gelehrten Seite hin
verschöbe. Je besser eine Aufgabe erfaßt wird, desto sachgemäßer pflegt auch
ihre praktische Bearbeitung zu sein. Wieviel gelehrte Männer haben prächtige
Bücher für das "Volk" geschrieben und wieviel tausend akademisch gebildete
Pfarrer gehen mit dem schlichten Manne in volkstümlicher Weise um. Es ist
nicht zu erwarten, daß gerade der Volksschullehrer in seinen anpassungsfähigsten
Vertretern in einen Fehler fallen sollte, der die Erfüllung der eigentlichen
Aufgabe der Volksschule hindern müßte.

Es will uns auch nicht so scheinen, als ob die staatlichen Ausbildungskurse
in Berlin, Posen und Münster die Aufgaben hervorragend zu lösen vermöchten,
die sowohl von der Erweiterung und Vertiefung der Volksschulpädagogik als
von den Erfordernissen einer gründlichen Fachbildung in einzelnen Zweigen
gestellt werden. Es fehlt diesen Kursen der geistige Zusammenhang des Uni¬
versitätslebens, sie gewähren keine Bewegungsfreiheit, sondern zwingen in einen
vorgeschriebenen Arbeitsplan, der zu ganz eng begrenzten Zielen führt. Darum


Kämpfe unserer Lehrerschaft

Volksschüler. Das Schlagwort „Jugendkunde" deutet eine große Zahl von
psychologischen und sozialen und hygienischen Forderungen auch für die Volks¬
schule an, pathologische und minderwertige Kinder aller Art verlangen Berück¬
sichtigung. Der systematische Zusammenhang der Erziehungsfragen und ihre
philosophische Begründung und Betrachtung sind zum mindesten für keinen
Pädagogen zu entbehren, der auf einer höheren Warte stehen will, und sie sind
für die unmittelbare Berufsarbeit ebenso wichtig wie für die leitenden Kreise.

Diesen Tatsachen gegenüber ist unter den Volksschullehrern fast allgemein
das Bewußtsein vorhanden, daß sie von einer eigentlich wissenschaftlichen Durch¬
dringung und Erforschung ihrer Berufsfragen ebenso zurückgehalten werden wie
auf ihrer amtlichen Laufbahn. Sie sehen auch in den Mittelschullehrerkursen,
die in mehreren großen Städten mit Unterstützung der Staatsregierung ab¬
gehalten werden, keinen gangbaren Weg, um zu ausreichendem und anerkannten
Fachwissen zu gelangen. Tatsächlich erscheinen diese Kurse nach schriftlichen und
mündlichen Zeugnissen nicht als eine Vertiefung, sondern nur als eine Fort¬
setzung, ja teilweise sogar als eine Wiederholung des Seminarunterrichts. Was
für den Volksschullehrer im weiteren Sinne an vertiefter wissenschaftlicher Fachbildung
notwendig erscheint, ist die Fähigkeit, wissenschaftliches Kulturgut in das volks¬
tümliche und kindertümliche Denken umprägen zu können. Es kann zu dem Zweck
nicht genügen, daß Bildungsgut nur in erweitertem Umfange erworben wird,
als eine bloße Mitteilung erarbeiteten Wissens; zu dieser Kunst, soweit sie
erworben werden kann, führt nur das Verständnis von dem Werden der wissen¬
schaftlichen Erkenntnis. Das ist nicht notwendig, um etwa einem Fachlehrertum
in der Volksschule Vorschub zu leisten, sondern um die Volksschule in steter
Fühlung mit der Wissenschaft zu erhalten. Der Volksschullehrer muß im¬
stande sein, Veraltetes und Unhaltbares zu erkennen, und diese kritische Denk¬
weise muß auch seinen Unterricht beherrschen. Es muß bestritten werden, daß
eine tiefere Berufsbildung den Volksschulunterricht nach der gelehrten Seite hin
verschöbe. Je besser eine Aufgabe erfaßt wird, desto sachgemäßer pflegt auch
ihre praktische Bearbeitung zu sein. Wieviel gelehrte Männer haben prächtige
Bücher für das „Volk" geschrieben und wieviel tausend akademisch gebildete
Pfarrer gehen mit dem schlichten Manne in volkstümlicher Weise um. Es ist
nicht zu erwarten, daß gerade der Volksschullehrer in seinen anpassungsfähigsten
Vertretern in einen Fehler fallen sollte, der die Erfüllung der eigentlichen
Aufgabe der Volksschule hindern müßte.

Es will uns auch nicht so scheinen, als ob die staatlichen Ausbildungskurse
in Berlin, Posen und Münster die Aufgaben hervorragend zu lösen vermöchten,
die sowohl von der Erweiterung und Vertiefung der Volksschulpädagogik als
von den Erfordernissen einer gründlichen Fachbildung in einzelnen Zweigen
gestellt werden. Es fehlt diesen Kursen der geistige Zusammenhang des Uni¬
versitätslebens, sie gewähren keine Bewegungsfreiheit, sondern zwingen in einen
vorgeschriebenen Arbeitsplan, der zu ganz eng begrenzten Zielen führt. Darum


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[0165] Kämpfe unserer Lehrerschaft Volksschüler. Das Schlagwort „Jugendkunde" deutet eine große Zahl von psychologischen und sozialen und hygienischen Forderungen auch für die Volks¬ schule an, pathologische und minderwertige Kinder aller Art verlangen Berück¬ sichtigung. Der systematische Zusammenhang der Erziehungsfragen und ihre philosophische Begründung und Betrachtung sind zum mindesten für keinen Pädagogen zu entbehren, der auf einer höheren Warte stehen will, und sie sind für die unmittelbare Berufsarbeit ebenso wichtig wie für die leitenden Kreise. Diesen Tatsachen gegenüber ist unter den Volksschullehrern fast allgemein das Bewußtsein vorhanden, daß sie von einer eigentlich wissenschaftlichen Durch¬ dringung und Erforschung ihrer Berufsfragen ebenso zurückgehalten werden wie auf ihrer amtlichen Laufbahn. Sie sehen auch in den Mittelschullehrerkursen, die in mehreren großen Städten mit Unterstützung der Staatsregierung ab¬ gehalten werden, keinen gangbaren Weg, um zu ausreichendem und anerkannten Fachwissen zu gelangen. Tatsächlich erscheinen diese Kurse nach schriftlichen und mündlichen Zeugnissen nicht als eine Vertiefung, sondern nur als eine Fort¬ setzung, ja teilweise sogar als eine Wiederholung des Seminarunterrichts. Was für den Volksschullehrer im weiteren Sinne an vertiefter wissenschaftlicher Fachbildung notwendig erscheint, ist die Fähigkeit, wissenschaftliches Kulturgut in das volks¬ tümliche und kindertümliche Denken umprägen zu können. Es kann zu dem Zweck nicht genügen, daß Bildungsgut nur in erweitertem Umfange erworben wird, als eine bloße Mitteilung erarbeiteten Wissens; zu dieser Kunst, soweit sie erworben werden kann, führt nur das Verständnis von dem Werden der wissen¬ schaftlichen Erkenntnis. Das ist nicht notwendig, um etwa einem Fachlehrertum in der Volksschule Vorschub zu leisten, sondern um die Volksschule in steter Fühlung mit der Wissenschaft zu erhalten. Der Volksschullehrer muß im¬ stande sein, Veraltetes und Unhaltbares zu erkennen, und diese kritische Denk¬ weise muß auch seinen Unterricht beherrschen. Es muß bestritten werden, daß eine tiefere Berufsbildung den Volksschulunterricht nach der gelehrten Seite hin verschöbe. Je besser eine Aufgabe erfaßt wird, desto sachgemäßer pflegt auch ihre praktische Bearbeitung zu sein. Wieviel gelehrte Männer haben prächtige Bücher für das „Volk" geschrieben und wieviel tausend akademisch gebildete Pfarrer gehen mit dem schlichten Manne in volkstümlicher Weise um. Es ist nicht zu erwarten, daß gerade der Volksschullehrer in seinen anpassungsfähigsten Vertretern in einen Fehler fallen sollte, der die Erfüllung der eigentlichen Aufgabe der Volksschule hindern müßte. Es will uns auch nicht so scheinen, als ob die staatlichen Ausbildungskurse in Berlin, Posen und Münster die Aufgaben hervorragend zu lösen vermöchten, die sowohl von der Erweiterung und Vertiefung der Volksschulpädagogik als von den Erfordernissen einer gründlichen Fachbildung in einzelnen Zweigen gestellt werden. Es fehlt diesen Kursen der geistige Zusammenhang des Uni¬ versitätslebens, sie gewähren keine Bewegungsfreiheit, sondern zwingen in einen vorgeschriebenen Arbeitsplan, der zu ganz eng begrenzten Zielen führt. Darum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/165>, abgerufen am 19.10.2024.