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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Mehr Herder?

dem Menschen angeborene Lüge", eine Anzahl Gedichte über die Seele; am
unmittelbarsten als Zeugnis für Herders damaliges Innenleben spricht das
vielfach von faustischen Empfindungen durchzogene Reisetagebuch von 1769.
Die von Jacobo beobachtete Einwirkung auf die Gestaltung des Faustgedichtes
umfaßt die gedankliche Konzeption des Ganzen, die Nacht- und Erdgeistszene,
die Auseinandersetzungen mit Wagner und Mephisto, mit dem Schüler,
"Wald und Höhle", "Trüber Tag". Wir erleben Verzweiflung und Gottes¬
gewißheit, Geisterschau und Menschbewußtsein, Haß gegen die Schulwissenschaft
und Streben zur Kabbala, Spott über die Geschichtsphilosophie der Aufklärung
und ihre "pragmatischen Maximen" nochmals in Herders Gedankenwelt, indem
wir sie durch Fausts Inneres ziehen sehen. Der Wille zur Selbstvergottung,
dem wir im Faust begegnen, und das Zurückgestoßenwerden, das Herabsenken
zum Erdbedingten, die beiden Pole des Menschenseins -- "zwei Seelen wohnen,
ach, in meiner Brust" -- erscheinen wie in Faust so in Herder in typischer
Weise wirksam. Endlich ist es das gefühlsmäßige Ergreifen des Weltganzen,
auf das beider Drang ausmündet, nicht die verstandesmäßige Durchdringung,
die ja doch stets am iMorabimu8 scheitert.

Der große Apparat von Parallelstellen, durch den Jacoby diese Be¬
rührungen aufzuzeigen sucht, ist zweifellos sehr verdienstlich, indem er in den Geist
der Faustentstehung Einblick verschafft; doch wird man, ohne an der grundsätzlichen
Richtigkeit der gedanklichen Berührung zu zweifeln, bei manchen Zitaten das
Gefühl haben, daß sie an sich nicht ausreichten, um einen zwingenden Schluß
darauf zu bauen. Wie vieles von dem Gedankenreichtum in der Zeitatmosphäre
lag und bei gegebenem Nährboden an verschiedenen Stellen zugleich Keime
treiben konnte, wird im einzelnen schwer zu scheiden sein. Goethe aber hat
den Faust, den tiefen Sinn des Faustgeschehens, innerlich erlebt. Die Aus¬
strahlungen des Herderschen Geistes hatten Goethes Geist aufs stärkste befruchtet,
und so trägt die Faustdichtung, das Wesen Fausts neben anderen auch Herdersche
Züge. Wer da von Unselbständigkeit Goethes reden möchte -- mit dem Neben¬
sinne von Plagiat -- der verkennt doch das Verhältnis. "Vom Allgemeinen
ganz gesättigt" -- um ein Wort Dilthens zu gebrauchen -- tritt die Faust¬
fabel hervor. Aber zu diesem Allgemeinen, das in Goethes eigensten Wesen
sich bildet, hat Herder, soviel ein Mensch geben konnte, beigetragen, indem er
Goethes Wesen vom Sehen zum Schauen führte, ihn vor der Menschheit große
Fragen stellte, vor Probleme, die ihn selbst im Innersten bewegten, die er aber
dichterisch zu bewältigen unfähig war.

Zu den weniger einleuchtenden Ausführungen Jacobys möchte ich den
Versuch rechnen, in Herder den Vermittler von Lessings Faustplan an Goethe
zu erweisen. Eine Dramatisierung des Fauststoffes lag in der Luft, mindestens
seit dem Erscheinen von Lessings siebzehnten Literaturbrief; es war die Zeit,
5wo aus allen Zipfeln Deutschlands Fauste angekündigt waren", eine ganze
Anzahl hat in der nächsten Zeit das Licht der Welt erblickt. Die Tatsache,


Mehr Herder?

dem Menschen angeborene Lüge", eine Anzahl Gedichte über die Seele; am
unmittelbarsten als Zeugnis für Herders damaliges Innenleben spricht das
vielfach von faustischen Empfindungen durchzogene Reisetagebuch von 1769.
Die von Jacobo beobachtete Einwirkung auf die Gestaltung des Faustgedichtes
umfaßt die gedankliche Konzeption des Ganzen, die Nacht- und Erdgeistszene,
die Auseinandersetzungen mit Wagner und Mephisto, mit dem Schüler,
„Wald und Höhle", „Trüber Tag". Wir erleben Verzweiflung und Gottes¬
gewißheit, Geisterschau und Menschbewußtsein, Haß gegen die Schulwissenschaft
und Streben zur Kabbala, Spott über die Geschichtsphilosophie der Aufklärung
und ihre „pragmatischen Maximen" nochmals in Herders Gedankenwelt, indem
wir sie durch Fausts Inneres ziehen sehen. Der Wille zur Selbstvergottung,
dem wir im Faust begegnen, und das Zurückgestoßenwerden, das Herabsenken
zum Erdbedingten, die beiden Pole des Menschenseins — „zwei Seelen wohnen,
ach, in meiner Brust" — erscheinen wie in Faust so in Herder in typischer
Weise wirksam. Endlich ist es das gefühlsmäßige Ergreifen des Weltganzen,
auf das beider Drang ausmündet, nicht die verstandesmäßige Durchdringung,
die ja doch stets am iMorabimu8 scheitert.

Der große Apparat von Parallelstellen, durch den Jacoby diese Be¬
rührungen aufzuzeigen sucht, ist zweifellos sehr verdienstlich, indem er in den Geist
der Faustentstehung Einblick verschafft; doch wird man, ohne an der grundsätzlichen
Richtigkeit der gedanklichen Berührung zu zweifeln, bei manchen Zitaten das
Gefühl haben, daß sie an sich nicht ausreichten, um einen zwingenden Schluß
darauf zu bauen. Wie vieles von dem Gedankenreichtum in der Zeitatmosphäre
lag und bei gegebenem Nährboden an verschiedenen Stellen zugleich Keime
treiben konnte, wird im einzelnen schwer zu scheiden sein. Goethe aber hat
den Faust, den tiefen Sinn des Faustgeschehens, innerlich erlebt. Die Aus¬
strahlungen des Herderschen Geistes hatten Goethes Geist aufs stärkste befruchtet,
und so trägt die Faustdichtung, das Wesen Fausts neben anderen auch Herdersche
Züge. Wer da von Unselbständigkeit Goethes reden möchte — mit dem Neben¬
sinne von Plagiat — der verkennt doch das Verhältnis. „Vom Allgemeinen
ganz gesättigt" — um ein Wort Dilthens zu gebrauchen — tritt die Faust¬
fabel hervor. Aber zu diesem Allgemeinen, das in Goethes eigensten Wesen
sich bildet, hat Herder, soviel ein Mensch geben konnte, beigetragen, indem er
Goethes Wesen vom Sehen zum Schauen führte, ihn vor der Menschheit große
Fragen stellte, vor Probleme, die ihn selbst im Innersten bewegten, die er aber
dichterisch zu bewältigen unfähig war.

Zu den weniger einleuchtenden Ausführungen Jacobys möchte ich den
Versuch rechnen, in Herder den Vermittler von Lessings Faustplan an Goethe
zu erweisen. Eine Dramatisierung des Fauststoffes lag in der Luft, mindestens
seit dem Erscheinen von Lessings siebzehnten Literaturbrief; es war die Zeit,
5wo aus allen Zipfeln Deutschlands Fauste angekündigt waren", eine ganze
Anzahl hat in der nächsten Zeit das Licht der Welt erblickt. Die Tatsache,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/78>, abgerufen am 27.07.2024.