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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Iveltpolitik nach der Grientkrisis

Durchdenken der deutschen Politik im nahen Orient in dieser Beziehung ver¬
anlaßt.

Das entschiedene Eintreten für Österreich in jenen beiden Krisen ist bei
uns vielfach und mit Recht auch damit motiviert worden, daß mit durch die
österreichische Politik den deutschen Exportinteressen ein dauernd freies Feld ge¬
schaffen werden solle in den zukunftsreichen Gebieten der Balkanhalbinsel und
dann auch Vorderasiens. In manchen Schriften dazu sah man schon ein
großes deutsch - österreichisch - balkan - türkisches wirtschaftliches Interessengebiet
zwischen Hamburg, Trieft, der Südspitze Griechenlands und dem Ausgang der
Bagdadbahn vor sich. Eine merkwürdige und immerhin beachtliche Äußerung
des bekannten englischen Kolonialpolitikers Harm Johnston, die diesen Gedanken
in recht abenteuerlicher Fassung aussprach, ist für diese Auffassung gewisser¬
maßen als Schwurzeuge herangezogen worden. Wir verkennen nicht, daß in
solcher Betrachtung ein großer zukunftsfroher Zug liegt, und sehen nicht ein,
warum in Deutschland dergleichen nicht ausgesprochen werden soll, da es sich
ja doch nicht um die Gewinnung politischer Interessensphären oder Kolonien
handelt, sondern nur um ein großes wirtschaftliches Interessengebiet. Aber dabei
ist nicht zu vergessen und das macht es wiederum schwer, sich diesen:
zweifellos verlockenden Gedankengang hinzugeben, daß heute die wirtschaftlichen
Interessen auf diesem Gebiete im Gesamtbereich unserer Interessen noch erst
einen verhältnismäßig geringen Teil einnehmen. Sie betragen doch für unseren
deutschen Gesamthandel in Ausfuhr und Einfuhr, selbst wenn man dabei
Österreich, Italien, die gesamte Türkei, Rumänien, Bulgarien, Serbien und
Griechenland zusammenrechnet, nur höchstens ein Sechstel (1911 von 17,8 Mil¬
liarden Mark nur 2,7 Milliarden). Ob diese Interessen in großem Um¬
fange steigerungsfähig sind, auch wenn die Bagdadbahn alle auf sie gesetzten
Hoffnungen erfüllt, ist doch recht zweifelhaft. Es ist ganz richtig und wird
jetzt auch mit gutem Grunde häufiger betont, weil es für unser Verhältnis zu
England von großer Wichtigkeit ist, daß im Überseehandel England nach wie
vor an der Spitze bleibt und die große Vorwärtsbewegung Deutschlands vor
allem aus seinem Landhandel stammt. Aber dabei muß gleich beachtet werden,
daß innerhalb dieses Landhandels die Interessen Deutschlands gegenüber jenem
(schon sehr weit gezogenen) Gebiete Südosteuropas und Vorderasiens nicht er¬
heblich viel größer sind, als seine wirtschaftlichen Interessen mit Rußland
(Gesamthandel in 1911 sür jenes Gebiet 2,7 und mit Rußland 2,2 Milliarden
Mark). Schon diese wirtschaftliche Teilung weist darauf hin, daß die Stellung
Deutschlands zum nahen Orient kompliziert genug ist. Dauert die innere Er¬
starkung Rußlands an, so wird in absehbarer Zeit das wirtschaftliche Interesse
Deutschlands an seinem östlichen Nachbarn das am nahen Orient erreicht oder
übertroffen haben.

Zu diesen wirtschaftlichen Interessen Rußland gegenüber kommen aber
weiter die politischen. Wie schon betont wurde, rückt der asiatische Teil


Deutsche Iveltpolitik nach der Grientkrisis

Durchdenken der deutschen Politik im nahen Orient in dieser Beziehung ver¬
anlaßt.

Das entschiedene Eintreten für Österreich in jenen beiden Krisen ist bei
uns vielfach und mit Recht auch damit motiviert worden, daß mit durch die
österreichische Politik den deutschen Exportinteressen ein dauernd freies Feld ge¬
schaffen werden solle in den zukunftsreichen Gebieten der Balkanhalbinsel und
dann auch Vorderasiens. In manchen Schriften dazu sah man schon ein
großes deutsch - österreichisch - balkan - türkisches wirtschaftliches Interessengebiet
zwischen Hamburg, Trieft, der Südspitze Griechenlands und dem Ausgang der
Bagdadbahn vor sich. Eine merkwürdige und immerhin beachtliche Äußerung
des bekannten englischen Kolonialpolitikers Harm Johnston, die diesen Gedanken
in recht abenteuerlicher Fassung aussprach, ist für diese Auffassung gewisser¬
maßen als Schwurzeuge herangezogen worden. Wir verkennen nicht, daß in
solcher Betrachtung ein großer zukunftsfroher Zug liegt, und sehen nicht ein,
warum in Deutschland dergleichen nicht ausgesprochen werden soll, da es sich
ja doch nicht um die Gewinnung politischer Interessensphären oder Kolonien
handelt, sondern nur um ein großes wirtschaftliches Interessengebiet. Aber dabei
ist nicht zu vergessen und das macht es wiederum schwer, sich diesen:
zweifellos verlockenden Gedankengang hinzugeben, daß heute die wirtschaftlichen
Interessen auf diesem Gebiete im Gesamtbereich unserer Interessen noch erst
einen verhältnismäßig geringen Teil einnehmen. Sie betragen doch für unseren
deutschen Gesamthandel in Ausfuhr und Einfuhr, selbst wenn man dabei
Österreich, Italien, die gesamte Türkei, Rumänien, Bulgarien, Serbien und
Griechenland zusammenrechnet, nur höchstens ein Sechstel (1911 von 17,8 Mil¬
liarden Mark nur 2,7 Milliarden). Ob diese Interessen in großem Um¬
fange steigerungsfähig sind, auch wenn die Bagdadbahn alle auf sie gesetzten
Hoffnungen erfüllt, ist doch recht zweifelhaft. Es ist ganz richtig und wird
jetzt auch mit gutem Grunde häufiger betont, weil es für unser Verhältnis zu
England von großer Wichtigkeit ist, daß im Überseehandel England nach wie
vor an der Spitze bleibt und die große Vorwärtsbewegung Deutschlands vor
allem aus seinem Landhandel stammt. Aber dabei muß gleich beachtet werden,
daß innerhalb dieses Landhandels die Interessen Deutschlands gegenüber jenem
(schon sehr weit gezogenen) Gebiete Südosteuropas und Vorderasiens nicht er¬
heblich viel größer sind, als seine wirtschaftlichen Interessen mit Rußland
(Gesamthandel in 1911 sür jenes Gebiet 2,7 und mit Rußland 2,2 Milliarden
Mark). Schon diese wirtschaftliche Teilung weist darauf hin, daß die Stellung
Deutschlands zum nahen Orient kompliziert genug ist. Dauert die innere Er¬
starkung Rußlands an, so wird in absehbarer Zeit das wirtschaftliche Interesse
Deutschlands an seinem östlichen Nachbarn das am nahen Orient erreicht oder
übertroffen haben.

Zu diesen wirtschaftlichen Interessen Rußland gegenüber kommen aber
weiter die politischen. Wie schon betont wurde, rückt der asiatische Teil


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[0458] Deutsche Iveltpolitik nach der Grientkrisis Durchdenken der deutschen Politik im nahen Orient in dieser Beziehung ver¬ anlaßt. Das entschiedene Eintreten für Österreich in jenen beiden Krisen ist bei uns vielfach und mit Recht auch damit motiviert worden, daß mit durch die österreichische Politik den deutschen Exportinteressen ein dauernd freies Feld ge¬ schaffen werden solle in den zukunftsreichen Gebieten der Balkanhalbinsel und dann auch Vorderasiens. In manchen Schriften dazu sah man schon ein großes deutsch - österreichisch - balkan - türkisches wirtschaftliches Interessengebiet zwischen Hamburg, Trieft, der Südspitze Griechenlands und dem Ausgang der Bagdadbahn vor sich. Eine merkwürdige und immerhin beachtliche Äußerung des bekannten englischen Kolonialpolitikers Harm Johnston, die diesen Gedanken in recht abenteuerlicher Fassung aussprach, ist für diese Auffassung gewisser¬ maßen als Schwurzeuge herangezogen worden. Wir verkennen nicht, daß in solcher Betrachtung ein großer zukunftsfroher Zug liegt, und sehen nicht ein, warum in Deutschland dergleichen nicht ausgesprochen werden soll, da es sich ja doch nicht um die Gewinnung politischer Interessensphären oder Kolonien handelt, sondern nur um ein großes wirtschaftliches Interessengebiet. Aber dabei ist nicht zu vergessen und das macht es wiederum schwer, sich diesen: zweifellos verlockenden Gedankengang hinzugeben, daß heute die wirtschaftlichen Interessen auf diesem Gebiete im Gesamtbereich unserer Interessen noch erst einen verhältnismäßig geringen Teil einnehmen. Sie betragen doch für unseren deutschen Gesamthandel in Ausfuhr und Einfuhr, selbst wenn man dabei Österreich, Italien, die gesamte Türkei, Rumänien, Bulgarien, Serbien und Griechenland zusammenrechnet, nur höchstens ein Sechstel (1911 von 17,8 Mil¬ liarden Mark nur 2,7 Milliarden). Ob diese Interessen in großem Um¬ fange steigerungsfähig sind, auch wenn die Bagdadbahn alle auf sie gesetzten Hoffnungen erfüllt, ist doch recht zweifelhaft. Es ist ganz richtig und wird jetzt auch mit gutem Grunde häufiger betont, weil es für unser Verhältnis zu England von großer Wichtigkeit ist, daß im Überseehandel England nach wie vor an der Spitze bleibt und die große Vorwärtsbewegung Deutschlands vor allem aus seinem Landhandel stammt. Aber dabei muß gleich beachtet werden, daß innerhalb dieses Landhandels die Interessen Deutschlands gegenüber jenem (schon sehr weit gezogenen) Gebiete Südosteuropas und Vorderasiens nicht er¬ heblich viel größer sind, als seine wirtschaftlichen Interessen mit Rußland (Gesamthandel in 1911 sür jenes Gebiet 2,7 und mit Rußland 2,2 Milliarden Mark). Schon diese wirtschaftliche Teilung weist darauf hin, daß die Stellung Deutschlands zum nahen Orient kompliziert genug ist. Dauert die innere Er¬ starkung Rußlands an, so wird in absehbarer Zeit das wirtschaftliche Interesse Deutschlands an seinem östlichen Nachbarn das am nahen Orient erreicht oder übertroffen haben. Zu diesen wirtschaftlichen Interessen Rußland gegenüber kommen aber weiter die politischen. Wie schon betont wurde, rückt der asiatische Teil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/458>, abgerufen am 22.12.2024.