Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vom alten und vom neuen Rcichsarchiv

Am organischsten erwuchs das Archiv des Reichskammergerichts in Speyer,
später in Wetzlar. In jahrhundertelangem Bestand häuften sich in ihm die
Prozeßakten, heute eine schier unerschöpfliche Quelle vor allem der neuen Wissen¬
schaft der Fanliliengeschichte. Seine Schätze sind 1845 unter die damaligen
Bundesstaaten verteilt worden. Nach 1871 hat auch Elsaß-Lothringen seinen
Anteil erhalten. Nur ein "untrennbarer" Bestand sowie alle Akten, die bei der
Auflösung des Archivs an Preußen fielen, stehen jetzt als selbständiges Staats¬
archiv in Wetzlar unter besonderer Verwaltung.

Im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist, ebenfalls gesondert, das
Archiv des alten, berühmten und berüchtigten Reichshofrath aufgestellt, das unter
Aufsicht des Erzkanzlers, des Kurfürsten von Mainz, der Reichsvizekanzler leitete.
Die Akten der eigentlichen "Reichskanzlei" dagegen, die unter der unmittelbaren
Aufsicht und Obhut des Mainzer Kurfürsten in dessen Residenzen Mainz und
Erfurt die "Reichs"geschäfte führte, wurden nach der Neuordnung der deutschen
Verhältnisse 1815 dem Bundestag in Frankfurt am Main unterstellt. Von hier
entführte sie 1866 die österreichische Regierung ohne jeden Rechtsgrund und
gliederte sie dem K. und K. Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien ein. Nur
einzelne Splitter sind in dem Archiv des Kurfürstentums Mainz geblieben, das
jetzt im Kreisarchiv zu Würzburg, zum Teil auch im Hausarchiv der Grafen
Schönborn, der Inhaber des Kurhuts im siebzehnten Jahrhundert, in Wiesenteid
in Franken ruht.

Das vierte "Reichsarchiv" endlich hat sich aus der Registratur des Regens¬
burger Reichstags entwickelt. Die Grafen von Pappenheim führten als Reichs-
erbmarschälle die Aufsicht und Verwaltung. In ihrem Hausarchiv auf Schloß
Pappenheim sind die hier erwachsenen Akten untergebracht, da sich nach dem
schmählichen Ende des alten Reichs niemand als "Erbe" des seligen Reichstags
bekennen wollte.

In der bunten Mannigfaltigkeit dieser Bestände, in der Rechtlosigkeit des
.'Reichsarchivs" und in seinen wechselvollen Schicksalen spiegelt sich die ganze
Schwäche des Reichs vielleicht stärker noch, als es uns die Urkunden und Akten
selbst berichten könnten. Im zufällig, meist rechtlos erworbenen Besitz von
alten Familien in Deutschland und Italien, im Archivgewölbe geistlicher und
weltlicher Körperschaften ruht die Überlieferung des alten "Reiches . Allem
die Reihenfolge der Orte und Landschaften, wo der Historiker heute seine Nach¬
forschungen anstellen muß, erzählt seine Geschichte: Neapel, Turm/ut Pisa;
Karlsruhe (für Ruprecht von der Pfalz). München und Wien; Wetzlar Frank¬
furt. Würzburg. Pappenheim. Wiesenteid und wieder Wien, das sind d,e Etappen
der Reichsverwaltunq bis 1806.

Mit dem Rheinbund entschwand das Deutsche Ne:et, Em Ne.chsarch w
aber hat sich noch im neunzehnten Jahrhundert der eutsche Parttkulan"
selbstbewußt geschaffen. Als Bayern seinen Besitzstand unter dem ^Napoleons aus den Trümmern des alten Reiches mehr als verdoppelte, dachten


Grenzboten II 1913
vom alten und vom neuen Rcichsarchiv

Am organischsten erwuchs das Archiv des Reichskammergerichts in Speyer,
später in Wetzlar. In jahrhundertelangem Bestand häuften sich in ihm die
Prozeßakten, heute eine schier unerschöpfliche Quelle vor allem der neuen Wissen¬
schaft der Fanliliengeschichte. Seine Schätze sind 1845 unter die damaligen
Bundesstaaten verteilt worden. Nach 1871 hat auch Elsaß-Lothringen seinen
Anteil erhalten. Nur ein „untrennbarer" Bestand sowie alle Akten, die bei der
Auflösung des Archivs an Preußen fielen, stehen jetzt als selbständiges Staats¬
archiv in Wetzlar unter besonderer Verwaltung.

Im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist, ebenfalls gesondert, das
Archiv des alten, berühmten und berüchtigten Reichshofrath aufgestellt, das unter
Aufsicht des Erzkanzlers, des Kurfürsten von Mainz, der Reichsvizekanzler leitete.
Die Akten der eigentlichen „Reichskanzlei" dagegen, die unter der unmittelbaren
Aufsicht und Obhut des Mainzer Kurfürsten in dessen Residenzen Mainz und
Erfurt die „Reichs"geschäfte führte, wurden nach der Neuordnung der deutschen
Verhältnisse 1815 dem Bundestag in Frankfurt am Main unterstellt. Von hier
entführte sie 1866 die österreichische Regierung ohne jeden Rechtsgrund und
gliederte sie dem K. und K. Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien ein. Nur
einzelne Splitter sind in dem Archiv des Kurfürstentums Mainz geblieben, das
jetzt im Kreisarchiv zu Würzburg, zum Teil auch im Hausarchiv der Grafen
Schönborn, der Inhaber des Kurhuts im siebzehnten Jahrhundert, in Wiesenteid
in Franken ruht.

Das vierte „Reichsarchiv" endlich hat sich aus der Registratur des Regens¬
burger Reichstags entwickelt. Die Grafen von Pappenheim führten als Reichs-
erbmarschälle die Aufsicht und Verwaltung. In ihrem Hausarchiv auf Schloß
Pappenheim sind die hier erwachsenen Akten untergebracht, da sich nach dem
schmählichen Ende des alten Reichs niemand als „Erbe" des seligen Reichstags
bekennen wollte.

In der bunten Mannigfaltigkeit dieser Bestände, in der Rechtlosigkeit des
.'Reichsarchivs" und in seinen wechselvollen Schicksalen spiegelt sich die ganze
Schwäche des Reichs vielleicht stärker noch, als es uns die Urkunden und Akten
selbst berichten könnten. Im zufällig, meist rechtlos erworbenen Besitz von
alten Familien in Deutschland und Italien, im Archivgewölbe geistlicher und
weltlicher Körperschaften ruht die Überlieferung des alten „Reiches . Allem
die Reihenfolge der Orte und Landschaften, wo der Historiker heute seine Nach¬
forschungen anstellen muß, erzählt seine Geschichte: Neapel, Turm/ut Pisa;
Karlsruhe (für Ruprecht von der Pfalz). München und Wien; Wetzlar Frank¬
furt. Würzburg. Pappenheim. Wiesenteid und wieder Wien, das sind d,e Etappen
der Reichsverwaltunq bis 1806.

Mit dem Rheinbund entschwand das Deutsche Ne:et, Em Ne.chsarch w
aber hat sich noch im neunzehnten Jahrhundert der eutsche Parttkulan«
selbstbewußt geschaffen. Als Bayern seinen Besitzstand unter dem ^Napoleons aus den Trümmern des alten Reiches mehr als verdoppelte, dachten


Grenzboten II 1913
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0045" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325565"/>
          <fw type="header" place="top"> vom alten und vom neuen Rcichsarchiv</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_204"> Am organischsten erwuchs das Archiv des Reichskammergerichts in Speyer,<lb/>
später in Wetzlar. In jahrhundertelangem Bestand häuften sich in ihm die<lb/>
Prozeßakten, heute eine schier unerschöpfliche Quelle vor allem der neuen Wissen¬<lb/>
schaft der Fanliliengeschichte. Seine Schätze sind 1845 unter die damaligen<lb/>
Bundesstaaten verteilt worden. Nach 1871 hat auch Elsaß-Lothringen seinen<lb/>
Anteil erhalten. Nur ein &#x201E;untrennbarer" Bestand sowie alle Akten, die bei der<lb/>
Auflösung des Archivs an Preußen fielen, stehen jetzt als selbständiges Staats¬<lb/>
archiv in Wetzlar unter besonderer Verwaltung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_205"> Im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist, ebenfalls gesondert, das<lb/>
Archiv des alten, berühmten und berüchtigten Reichshofrath aufgestellt, das unter<lb/>
Aufsicht des Erzkanzlers, des Kurfürsten von Mainz, der Reichsvizekanzler leitete.<lb/>
Die Akten der eigentlichen &#x201E;Reichskanzlei" dagegen, die unter der unmittelbaren<lb/>
Aufsicht und Obhut des Mainzer Kurfürsten in dessen Residenzen Mainz und<lb/>
Erfurt die &#x201E;Reichs"geschäfte führte, wurden nach der Neuordnung der deutschen<lb/>
Verhältnisse 1815 dem Bundestag in Frankfurt am Main unterstellt. Von hier<lb/>
entführte sie 1866 die österreichische Regierung ohne jeden Rechtsgrund und<lb/>
gliederte sie dem K. und K. Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien ein. Nur<lb/>
einzelne Splitter sind in dem Archiv des Kurfürstentums Mainz geblieben, das<lb/>
jetzt im Kreisarchiv zu Würzburg, zum Teil auch im Hausarchiv der Grafen<lb/>
Schönborn, der Inhaber des Kurhuts im siebzehnten Jahrhundert, in Wiesenteid<lb/>
in Franken ruht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_206"> Das vierte &#x201E;Reichsarchiv" endlich hat sich aus der Registratur des Regens¬<lb/>
burger Reichstags entwickelt. Die Grafen von Pappenheim führten als Reichs-<lb/>
erbmarschälle die Aufsicht und Verwaltung. In ihrem Hausarchiv auf Schloß<lb/>
Pappenheim sind die hier erwachsenen Akten untergebracht, da sich nach dem<lb/>
schmählichen Ende des alten Reichs niemand als &#x201E;Erbe" des seligen Reichstags<lb/>
bekennen wollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_207"> In der bunten Mannigfaltigkeit dieser Bestände, in der Rechtlosigkeit des<lb/>
.'Reichsarchivs" und in seinen wechselvollen Schicksalen spiegelt sich die ganze<lb/>
Schwäche des Reichs vielleicht stärker noch, als es uns die Urkunden und Akten<lb/>
selbst berichten könnten. Im zufällig, meist rechtlos erworbenen Besitz von<lb/>
alten Familien in Deutschland und Italien, im Archivgewölbe geistlicher und<lb/>
weltlicher Körperschaften ruht die Überlieferung des alten &#x201E;Reiches . Allem<lb/>
die Reihenfolge der Orte und Landschaften, wo der Historiker heute seine Nach¬<lb/>
forschungen anstellen muß, erzählt seine Geschichte: Neapel, Turm/ut Pisa;<lb/>
Karlsruhe (für Ruprecht von der Pfalz). München und Wien; Wetzlar Frank¬<lb/>
furt. Würzburg. Pappenheim. Wiesenteid und wieder Wien, das sind d,e Etappen<lb/>
der Reichsverwaltunq bis 1806.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_208" next="#ID_209"> Mit dem Rheinbund entschwand das Deutsche Ne:et,  Em Ne.chsarch w<lb/>
aber hat sich noch im neunzehnten Jahrhundert der  eutsche Parttkulan«<lb/>
selbstbewußt geschaffen.  Als Bayern seinen Besitzstand unter dem ^Napoleons aus den Trümmern des alten Reiches mehr als verdoppelte, dachten</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1913</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0045] vom alten und vom neuen Rcichsarchiv Am organischsten erwuchs das Archiv des Reichskammergerichts in Speyer, später in Wetzlar. In jahrhundertelangem Bestand häuften sich in ihm die Prozeßakten, heute eine schier unerschöpfliche Quelle vor allem der neuen Wissen¬ schaft der Fanliliengeschichte. Seine Schätze sind 1845 unter die damaligen Bundesstaaten verteilt worden. Nach 1871 hat auch Elsaß-Lothringen seinen Anteil erhalten. Nur ein „untrennbarer" Bestand sowie alle Akten, die bei der Auflösung des Archivs an Preußen fielen, stehen jetzt als selbständiges Staats¬ archiv in Wetzlar unter besonderer Verwaltung. Im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist, ebenfalls gesondert, das Archiv des alten, berühmten und berüchtigten Reichshofrath aufgestellt, das unter Aufsicht des Erzkanzlers, des Kurfürsten von Mainz, der Reichsvizekanzler leitete. Die Akten der eigentlichen „Reichskanzlei" dagegen, die unter der unmittelbaren Aufsicht und Obhut des Mainzer Kurfürsten in dessen Residenzen Mainz und Erfurt die „Reichs"geschäfte führte, wurden nach der Neuordnung der deutschen Verhältnisse 1815 dem Bundestag in Frankfurt am Main unterstellt. Von hier entführte sie 1866 die österreichische Regierung ohne jeden Rechtsgrund und gliederte sie dem K. und K. Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien ein. Nur einzelne Splitter sind in dem Archiv des Kurfürstentums Mainz geblieben, das jetzt im Kreisarchiv zu Würzburg, zum Teil auch im Hausarchiv der Grafen Schönborn, der Inhaber des Kurhuts im siebzehnten Jahrhundert, in Wiesenteid in Franken ruht. Das vierte „Reichsarchiv" endlich hat sich aus der Registratur des Regens¬ burger Reichstags entwickelt. Die Grafen von Pappenheim führten als Reichs- erbmarschälle die Aufsicht und Verwaltung. In ihrem Hausarchiv auf Schloß Pappenheim sind die hier erwachsenen Akten untergebracht, da sich nach dem schmählichen Ende des alten Reichs niemand als „Erbe" des seligen Reichstags bekennen wollte. In der bunten Mannigfaltigkeit dieser Bestände, in der Rechtlosigkeit des .'Reichsarchivs" und in seinen wechselvollen Schicksalen spiegelt sich die ganze Schwäche des Reichs vielleicht stärker noch, als es uns die Urkunden und Akten selbst berichten könnten. Im zufällig, meist rechtlos erworbenen Besitz von alten Familien in Deutschland und Italien, im Archivgewölbe geistlicher und weltlicher Körperschaften ruht die Überlieferung des alten „Reiches . Allem die Reihenfolge der Orte und Landschaften, wo der Historiker heute seine Nach¬ forschungen anstellen muß, erzählt seine Geschichte: Neapel, Turm/ut Pisa; Karlsruhe (für Ruprecht von der Pfalz). München und Wien; Wetzlar Frank¬ furt. Würzburg. Pappenheim. Wiesenteid und wieder Wien, das sind d,e Etappen der Reichsverwaltunq bis 1806. Mit dem Rheinbund entschwand das Deutsche Ne:et, Em Ne.chsarch w aber hat sich noch im neunzehnten Jahrhundert der eutsche Parttkulan« selbstbewußt geschaffen. Als Bayern seinen Besitzstand unter dem ^Napoleons aus den Trümmern des alten Reiches mehr als verdoppelte, dachten Grenzboten II 1913

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/45
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/45>, abgerufen am 27.07.2024.