Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Indifferentismus in der Literatur

Gleichwertigkeit alles Daseins und aller Tendenzen, das Unnütze einer jeden
Bewegung, vor allem das Sichselbstbelügen einer jeden Bewegung. Er verliert
selbst die geringste Fähigkeit, noch irgendwie in diesem Wahn-Spiel Leben an¬
zutun, katastrophal stürzt es über ihni zusammen, ohne daß er es sür notwendig
fände, sich zu wehren, und im verzweifeltsten Unglück, das lebendige Leben durch
den eisigen Intellekt verloren zu haben, geht er durch Selbstmord zugrunde.
Und zeugt damit gegen seine Theorie.

Es ist der Schrei einer Jugend: nach Freiheit. Ein Aufschrei, zuletzt von
einer erschütternden Tragik. Vielleicht könnte man "Schloß Nornepygge" als
.das Hauptwerk Max Brods bezeichnen, als seine Auseinandersetzung mit der
Welt, als ein Bekenntnis. Dichterisch genommen hat er damit sein stärkstes
gegeben. Eine Vielfältigkeit des Lebens aufgezeigt, Charaktere von einer nicht
nur symbolischen, sondern auch naturalistisch-wirklichen Umrissenheit beleuchtet,
eine große, vielverschlungene Fabel virtuos gelenkt und zum harmonischen, fast
möchte man sagen, klassischen Ausklang gebracht. Mag manches verzerrt er¬
scheinen, über irdische Konturen hinausgebaucht: so bedenke man, daß hinter dem
Buch ein Zweck stand und daß dem Autor in einer gewissen Angst nach Verständlichkeit
jedes Mittel, diesen zu erreichen, noch zu schwach erscheinen mußte. Nur durch
enorme Kontrastwirkung des Lebendigen gegeneinander glaubte er dieses Darüber-
stehn seines Helden, dieser Zentrale aller Möglichkeiten, begreiflich zu machen.

Immerhin war mit "Schloß Nornepygge" die Lebensunfähigkeit des abso¬
luten Indifferenten festgestellt. Eine Errungenschaft, zu der Brod vielleicht erst
selbst mit diesem Buche gelangen mußte. Die Theorie war gescheitert, das
Leben selbst hatte dem Einseitigen recht gegeben. Die nächsten Bücher versuchen
kaum mehr, das ethische Problem des Jndifferentismus anzufassen. Aus dein
ethischen wird nur mehr ein rein künstlerisches. Der Schriftsteller kann als Er¬
lebender, so darf man sich diese nächsten Bücher deuten, nicht absoluter Jndiffe-
rentist sein, denn die Menschlichkeit vertrocknet in ihm; so bleibt er es nur
als Gestaltender. Der absolute Jndifferentismus wird überwunden, Gefühl
bricht auf, Liebe nach irgendeiner Seite, Haß gegen irgendeine andere. Das
Lächeln des Überlegenen ist nicht mehr der Grundzug dieser Werke"), es ist schon
das Lächeln der an irgendeine Sache dieser schönen Welt Hingegebenen, ist ein Leid¬
tragen, eine Freude, ein Unterscheiden zwischen Dunkel und Licht. Wie weit ist doch
dieser kleine, ängstliche, schwachstnnliche, opferbereite Hugo aus den "Jüdinnen"
von jenem Carus der ersten Bücher entfernt. Von einer indifferentistischen
Weltbetrachtung liegt nicht viel mehr in ihm als in einem jeden intelligenten,
frühreifen, jüdischen Knaben unserer Zeit.

Das ethische Problem ist, wie schon einmal erklärt, zum künstlerischen ge¬
worden. Die Helden dieser Bücher haben beinahe den Jndifferentismus abge¬
streift, nur Max Brod selbst, der Autor, der Erzähler, der Alleswissende, hat



") "Jüdinnen". Roman. "Arnold Beer". Das Schicksal eines Juden. Roman.
Indifferentismus in der Literatur

Gleichwertigkeit alles Daseins und aller Tendenzen, das Unnütze einer jeden
Bewegung, vor allem das Sichselbstbelügen einer jeden Bewegung. Er verliert
selbst die geringste Fähigkeit, noch irgendwie in diesem Wahn-Spiel Leben an¬
zutun, katastrophal stürzt es über ihni zusammen, ohne daß er es sür notwendig
fände, sich zu wehren, und im verzweifeltsten Unglück, das lebendige Leben durch
den eisigen Intellekt verloren zu haben, geht er durch Selbstmord zugrunde.
Und zeugt damit gegen seine Theorie.

Es ist der Schrei einer Jugend: nach Freiheit. Ein Aufschrei, zuletzt von
einer erschütternden Tragik. Vielleicht könnte man „Schloß Nornepygge" als
.das Hauptwerk Max Brods bezeichnen, als seine Auseinandersetzung mit der
Welt, als ein Bekenntnis. Dichterisch genommen hat er damit sein stärkstes
gegeben. Eine Vielfältigkeit des Lebens aufgezeigt, Charaktere von einer nicht
nur symbolischen, sondern auch naturalistisch-wirklichen Umrissenheit beleuchtet,
eine große, vielverschlungene Fabel virtuos gelenkt und zum harmonischen, fast
möchte man sagen, klassischen Ausklang gebracht. Mag manches verzerrt er¬
scheinen, über irdische Konturen hinausgebaucht: so bedenke man, daß hinter dem
Buch ein Zweck stand und daß dem Autor in einer gewissen Angst nach Verständlichkeit
jedes Mittel, diesen zu erreichen, noch zu schwach erscheinen mußte. Nur durch
enorme Kontrastwirkung des Lebendigen gegeneinander glaubte er dieses Darüber-
stehn seines Helden, dieser Zentrale aller Möglichkeiten, begreiflich zu machen.

Immerhin war mit „Schloß Nornepygge" die Lebensunfähigkeit des abso¬
luten Indifferenten festgestellt. Eine Errungenschaft, zu der Brod vielleicht erst
selbst mit diesem Buche gelangen mußte. Die Theorie war gescheitert, das
Leben selbst hatte dem Einseitigen recht gegeben. Die nächsten Bücher versuchen
kaum mehr, das ethische Problem des Jndifferentismus anzufassen. Aus dein
ethischen wird nur mehr ein rein künstlerisches. Der Schriftsteller kann als Er¬
lebender, so darf man sich diese nächsten Bücher deuten, nicht absoluter Jndiffe-
rentist sein, denn die Menschlichkeit vertrocknet in ihm; so bleibt er es nur
als Gestaltender. Der absolute Jndifferentismus wird überwunden, Gefühl
bricht auf, Liebe nach irgendeiner Seite, Haß gegen irgendeine andere. Das
Lächeln des Überlegenen ist nicht mehr der Grundzug dieser Werke"), es ist schon
das Lächeln der an irgendeine Sache dieser schönen Welt Hingegebenen, ist ein Leid¬
tragen, eine Freude, ein Unterscheiden zwischen Dunkel und Licht. Wie weit ist doch
dieser kleine, ängstliche, schwachstnnliche, opferbereite Hugo aus den „Jüdinnen"
von jenem Carus der ersten Bücher entfernt. Von einer indifferentistischen
Weltbetrachtung liegt nicht viel mehr in ihm als in einem jeden intelligenten,
frühreifen, jüdischen Knaben unserer Zeit.

Das ethische Problem ist, wie schon einmal erklärt, zum künstlerischen ge¬
worden. Die Helden dieser Bücher haben beinahe den Jndifferentismus abge¬
streift, nur Max Brod selbst, der Autor, der Erzähler, der Alleswissende, hat



") „Jüdinnen". Roman. „Arnold Beer". Das Schicksal eines Juden. Roman.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0427" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325947"/>
          <fw type="header" place="top"> Indifferentismus in der Literatur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1903" prev="#ID_1902"> Gleichwertigkeit alles Daseins und aller Tendenzen, das Unnütze einer jeden<lb/>
Bewegung, vor allem das Sichselbstbelügen einer jeden Bewegung. Er verliert<lb/>
selbst die geringste Fähigkeit, noch irgendwie in diesem Wahn-Spiel Leben an¬<lb/>
zutun, katastrophal stürzt es über ihni zusammen, ohne daß er es sür notwendig<lb/>
fände, sich zu wehren, und im verzweifeltsten Unglück, das lebendige Leben durch<lb/>
den eisigen Intellekt verloren zu haben, geht er durch Selbstmord zugrunde.<lb/>
Und zeugt damit gegen seine Theorie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1904"> Es ist der Schrei einer Jugend: nach Freiheit. Ein Aufschrei, zuletzt von<lb/>
einer erschütternden Tragik. Vielleicht könnte man &#x201E;Schloß Nornepygge" als<lb/>
.das Hauptwerk Max Brods bezeichnen, als seine Auseinandersetzung mit der<lb/>
Welt, als ein Bekenntnis. Dichterisch genommen hat er damit sein stärkstes<lb/>
gegeben. Eine Vielfältigkeit des Lebens aufgezeigt, Charaktere von einer nicht<lb/>
nur symbolischen, sondern auch naturalistisch-wirklichen Umrissenheit beleuchtet,<lb/>
eine große, vielverschlungene Fabel virtuos gelenkt und zum harmonischen, fast<lb/>
möchte man sagen, klassischen Ausklang gebracht. Mag manches verzerrt er¬<lb/>
scheinen, über irdische Konturen hinausgebaucht: so bedenke man, daß hinter dem<lb/>
Buch ein Zweck stand und daß dem Autor in einer gewissen Angst nach Verständlichkeit<lb/>
jedes Mittel, diesen zu erreichen, noch zu schwach erscheinen mußte. Nur durch<lb/>
enorme Kontrastwirkung des Lebendigen gegeneinander glaubte er dieses Darüber-<lb/>
stehn seines Helden, dieser Zentrale aller Möglichkeiten, begreiflich zu machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1905"> Immerhin war mit &#x201E;Schloß Nornepygge" die Lebensunfähigkeit des abso¬<lb/>
luten Indifferenten festgestellt. Eine Errungenschaft, zu der Brod vielleicht erst<lb/>
selbst mit diesem Buche gelangen mußte. Die Theorie war gescheitert, das<lb/>
Leben selbst hatte dem Einseitigen recht gegeben. Die nächsten Bücher versuchen<lb/>
kaum mehr, das ethische Problem des Jndifferentismus anzufassen. Aus dein<lb/>
ethischen wird nur mehr ein rein künstlerisches. Der Schriftsteller kann als Er¬<lb/>
lebender, so darf man sich diese nächsten Bücher deuten, nicht absoluter Jndiffe-<lb/>
rentist sein, denn die Menschlichkeit vertrocknet in ihm; so bleibt er es nur<lb/>
als Gestaltender. Der absolute Jndifferentismus wird überwunden, Gefühl<lb/>
bricht auf, Liebe nach irgendeiner Seite, Haß gegen irgendeine andere. Das<lb/>
Lächeln des Überlegenen ist nicht mehr der Grundzug dieser Werke"), es ist schon<lb/>
das Lächeln der an irgendeine Sache dieser schönen Welt Hingegebenen, ist ein Leid¬<lb/>
tragen, eine Freude, ein Unterscheiden zwischen Dunkel und Licht. Wie weit ist doch<lb/>
dieser kleine, ängstliche, schwachstnnliche, opferbereite Hugo aus den &#x201E;Jüdinnen"<lb/>
von jenem Carus der ersten Bücher entfernt. Von einer indifferentistischen<lb/>
Weltbetrachtung liegt nicht viel mehr in ihm als in einem jeden intelligenten,<lb/>
frühreifen, jüdischen Knaben unserer Zeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1906" next="#ID_1907"> Das ethische Problem ist, wie schon einmal erklärt, zum künstlerischen ge¬<lb/>
worden. Die Helden dieser Bücher haben beinahe den Jndifferentismus abge¬<lb/>
streift, nur Max Brod selbst, der Autor, der Erzähler, der Alleswissende, hat</p><lb/>
          <note xml:id="FID_85" place="foot"> ") &#x201E;Jüdinnen". Roman.  &#x201E;Arnold Beer".  Das Schicksal eines Juden. Roman.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0427] Indifferentismus in der Literatur Gleichwertigkeit alles Daseins und aller Tendenzen, das Unnütze einer jeden Bewegung, vor allem das Sichselbstbelügen einer jeden Bewegung. Er verliert selbst die geringste Fähigkeit, noch irgendwie in diesem Wahn-Spiel Leben an¬ zutun, katastrophal stürzt es über ihni zusammen, ohne daß er es sür notwendig fände, sich zu wehren, und im verzweifeltsten Unglück, das lebendige Leben durch den eisigen Intellekt verloren zu haben, geht er durch Selbstmord zugrunde. Und zeugt damit gegen seine Theorie. Es ist der Schrei einer Jugend: nach Freiheit. Ein Aufschrei, zuletzt von einer erschütternden Tragik. Vielleicht könnte man „Schloß Nornepygge" als .das Hauptwerk Max Brods bezeichnen, als seine Auseinandersetzung mit der Welt, als ein Bekenntnis. Dichterisch genommen hat er damit sein stärkstes gegeben. Eine Vielfältigkeit des Lebens aufgezeigt, Charaktere von einer nicht nur symbolischen, sondern auch naturalistisch-wirklichen Umrissenheit beleuchtet, eine große, vielverschlungene Fabel virtuos gelenkt und zum harmonischen, fast möchte man sagen, klassischen Ausklang gebracht. Mag manches verzerrt er¬ scheinen, über irdische Konturen hinausgebaucht: so bedenke man, daß hinter dem Buch ein Zweck stand und daß dem Autor in einer gewissen Angst nach Verständlichkeit jedes Mittel, diesen zu erreichen, noch zu schwach erscheinen mußte. Nur durch enorme Kontrastwirkung des Lebendigen gegeneinander glaubte er dieses Darüber- stehn seines Helden, dieser Zentrale aller Möglichkeiten, begreiflich zu machen. Immerhin war mit „Schloß Nornepygge" die Lebensunfähigkeit des abso¬ luten Indifferenten festgestellt. Eine Errungenschaft, zu der Brod vielleicht erst selbst mit diesem Buche gelangen mußte. Die Theorie war gescheitert, das Leben selbst hatte dem Einseitigen recht gegeben. Die nächsten Bücher versuchen kaum mehr, das ethische Problem des Jndifferentismus anzufassen. Aus dein ethischen wird nur mehr ein rein künstlerisches. Der Schriftsteller kann als Er¬ lebender, so darf man sich diese nächsten Bücher deuten, nicht absoluter Jndiffe- rentist sein, denn die Menschlichkeit vertrocknet in ihm; so bleibt er es nur als Gestaltender. Der absolute Jndifferentismus wird überwunden, Gefühl bricht auf, Liebe nach irgendeiner Seite, Haß gegen irgendeine andere. Das Lächeln des Überlegenen ist nicht mehr der Grundzug dieser Werke"), es ist schon das Lächeln der an irgendeine Sache dieser schönen Welt Hingegebenen, ist ein Leid¬ tragen, eine Freude, ein Unterscheiden zwischen Dunkel und Licht. Wie weit ist doch dieser kleine, ängstliche, schwachstnnliche, opferbereite Hugo aus den „Jüdinnen" von jenem Carus der ersten Bücher entfernt. Von einer indifferentistischen Weltbetrachtung liegt nicht viel mehr in ihm als in einem jeden intelligenten, frühreifen, jüdischen Knaben unserer Zeit. Das ethische Problem ist, wie schon einmal erklärt, zum künstlerischen ge¬ worden. Die Helden dieser Bücher haben beinahe den Jndifferentismus abge¬ streift, nur Max Brod selbst, der Autor, der Erzähler, der Alleswissende, hat ") „Jüdinnen". Roman. „Arnold Beer". Das Schicksal eines Juden. Roman.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/427
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/427>, abgerufen am 28.07.2024.