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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

Die Engländer in Indien
Nadir von

Siehe auch Heft Ur. 2, 11, 12 von diesem Jahre

Ein hoher englischer Beamter in indischen Diensten sagte mir einmal:
"Um den Indern handgreiflich zu beweisen, wie unberechtigt ihr Wunsch nach
völliger Unabhängigkeit ist, müßte eigentlich eines schönen Tages die ganze
englische Militär- und Zivilverwaltung einpacken und die Heimreise nach Eng¬
land antreten. Schon in Aden würden wir ein Telegramm vorfinden, das
uns dringend wieder zurückriefe. Leider ist das Experiment zu teuer, als daß
es versucht werden könnte. Denn der sofort ausbrechende Krieg aller gegen
alle würde in wenigen Tagen die ganze englische Kulturarbeit vernichten."

Dieser Ausspruch eines Mannes, welcher Indien kennt, trifft den Kern der
ganzen Frage. England hat den Kämpfen der ewig untereinander verfesteten
indischen Machthaber ein Ende gemacht und die mit wildem Fanatismus ge¬
führten Religionsstreitigkeiten unterdrückt. Die Ursachen der Uneinigkeit sind
aber damit noch nicht beseitigt. Äußerlich herrscht zwar Friede, aber das Feuer
glimmt unter der Asche weiter. Schon bei geringfügigen Anlässen züngeln hier
und da die Flammen empor. Fehlte die starke und wachsame Macht, welche
immer wieder das Feuer lokalisiert und löscht, der Brand wäre bald allgemein.

Im Jahre 1908 ereignete sich ein sür den Religionshaß charakteristischer
Zwischenfall. In Tithagur, einem vor den Toren Kalkuttas gelegenen Fabrikort,
veranstalteten die Mohammedaner während des Trauermonats Moharrem einen
religiösen Umzug. Die Wogen der Neligionsbegeisterung gingen, wie so häufig
bei solchen Anlässen, höher und höher, so daß man schließlich einige Kühe
schlachtete und mit deren Blut die Hinduheiligtümer besudelte. Nun ist bekannt¬
lich für den Hindu die Kuh ein heiliges Tier, deren Tötung für ein weit
schwereres Verbrechen gilt, als die Ermordung eines Menschen. Die Tat der
Mohammedaner verletzte also die heiligsten Gefühle der Hindus und forderte
Rache. Den Bemühungen der Polizei gelang es zwar noch an diesem Tage,
einen Zusammenstoß der beiden Parteien zu verhindern. Während der Nacht
aber rächten sich die Hindus, indem sie ein totes Schwein in eine Moschee
warfen. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich die Nachricht von dieser der
mohammedanischen Religion angetanen Schmach in der Umgegend und schon
am folgenden Tage zogen von allen Seiten mit Knütteln bewaffnete Moham¬
medaner auf Tithagur -- es sollen mehr als zehntausend gewesen sein --, um
über die Hindus herzufallen. In Kalkutta herrschte damals über den Zwischen-
fall nicht geringe Erregung. Truppen wurden abgeschickt, um den bedrohten
Ort vor den anrückenden Horden zu schützen. Während der nun folgenden
langen Verhandlungen zwischen dem Truppenkommandanten und den Führern
der "Belagerungsarmee" betonten diese letzteren immer wieder, sie seien ganz
loyale Untertanen der englischen Regierung; aber an den Hindus wollten sie


Die Engländer in Indien

Die Engländer in Indien
Nadir von

Siehe auch Heft Ur. 2, 11, 12 von diesem Jahre

Ein hoher englischer Beamter in indischen Diensten sagte mir einmal:
„Um den Indern handgreiflich zu beweisen, wie unberechtigt ihr Wunsch nach
völliger Unabhängigkeit ist, müßte eigentlich eines schönen Tages die ganze
englische Militär- und Zivilverwaltung einpacken und die Heimreise nach Eng¬
land antreten. Schon in Aden würden wir ein Telegramm vorfinden, das
uns dringend wieder zurückriefe. Leider ist das Experiment zu teuer, als daß
es versucht werden könnte. Denn der sofort ausbrechende Krieg aller gegen
alle würde in wenigen Tagen die ganze englische Kulturarbeit vernichten."

Dieser Ausspruch eines Mannes, welcher Indien kennt, trifft den Kern der
ganzen Frage. England hat den Kämpfen der ewig untereinander verfesteten
indischen Machthaber ein Ende gemacht und die mit wildem Fanatismus ge¬
führten Religionsstreitigkeiten unterdrückt. Die Ursachen der Uneinigkeit sind
aber damit noch nicht beseitigt. Äußerlich herrscht zwar Friede, aber das Feuer
glimmt unter der Asche weiter. Schon bei geringfügigen Anlässen züngeln hier
und da die Flammen empor. Fehlte die starke und wachsame Macht, welche
immer wieder das Feuer lokalisiert und löscht, der Brand wäre bald allgemein.

Im Jahre 1908 ereignete sich ein sür den Religionshaß charakteristischer
Zwischenfall. In Tithagur, einem vor den Toren Kalkuttas gelegenen Fabrikort,
veranstalteten die Mohammedaner während des Trauermonats Moharrem einen
religiösen Umzug. Die Wogen der Neligionsbegeisterung gingen, wie so häufig
bei solchen Anlässen, höher und höher, so daß man schließlich einige Kühe
schlachtete und mit deren Blut die Hinduheiligtümer besudelte. Nun ist bekannt¬
lich für den Hindu die Kuh ein heiliges Tier, deren Tötung für ein weit
schwereres Verbrechen gilt, als die Ermordung eines Menschen. Die Tat der
Mohammedaner verletzte also die heiligsten Gefühle der Hindus und forderte
Rache. Den Bemühungen der Polizei gelang es zwar noch an diesem Tage,
einen Zusammenstoß der beiden Parteien zu verhindern. Während der Nacht
aber rächten sich die Hindus, indem sie ein totes Schwein in eine Moschee
warfen. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich die Nachricht von dieser der
mohammedanischen Religion angetanen Schmach in der Umgegend und schon
am folgenden Tage zogen von allen Seiten mit Knütteln bewaffnete Moham¬
medaner auf Tithagur — es sollen mehr als zehntausend gewesen sein —, um
über die Hindus herzufallen. In Kalkutta herrschte damals über den Zwischen-
fall nicht geringe Erregung. Truppen wurden abgeschickt, um den bedrohten
Ort vor den anrückenden Horden zu schützen. Während der nun folgenden
langen Verhandlungen zwischen dem Truppenkommandanten und den Führern
der „Belagerungsarmee" betonten diese letzteren immer wieder, sie seien ganz
loyale Untertanen der englischen Regierung; aber an den Hindus wollten sie


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[0333] Die Engländer in Indien Die Engländer in Indien Nadir von Siehe auch Heft Ur. 2, 11, 12 von diesem Jahre Ein hoher englischer Beamter in indischen Diensten sagte mir einmal: „Um den Indern handgreiflich zu beweisen, wie unberechtigt ihr Wunsch nach völliger Unabhängigkeit ist, müßte eigentlich eines schönen Tages die ganze englische Militär- und Zivilverwaltung einpacken und die Heimreise nach Eng¬ land antreten. Schon in Aden würden wir ein Telegramm vorfinden, das uns dringend wieder zurückriefe. Leider ist das Experiment zu teuer, als daß es versucht werden könnte. Denn der sofort ausbrechende Krieg aller gegen alle würde in wenigen Tagen die ganze englische Kulturarbeit vernichten." Dieser Ausspruch eines Mannes, welcher Indien kennt, trifft den Kern der ganzen Frage. England hat den Kämpfen der ewig untereinander verfesteten indischen Machthaber ein Ende gemacht und die mit wildem Fanatismus ge¬ führten Religionsstreitigkeiten unterdrückt. Die Ursachen der Uneinigkeit sind aber damit noch nicht beseitigt. Äußerlich herrscht zwar Friede, aber das Feuer glimmt unter der Asche weiter. Schon bei geringfügigen Anlässen züngeln hier und da die Flammen empor. Fehlte die starke und wachsame Macht, welche immer wieder das Feuer lokalisiert und löscht, der Brand wäre bald allgemein. Im Jahre 1908 ereignete sich ein sür den Religionshaß charakteristischer Zwischenfall. In Tithagur, einem vor den Toren Kalkuttas gelegenen Fabrikort, veranstalteten die Mohammedaner während des Trauermonats Moharrem einen religiösen Umzug. Die Wogen der Neligionsbegeisterung gingen, wie so häufig bei solchen Anlässen, höher und höher, so daß man schließlich einige Kühe schlachtete und mit deren Blut die Hinduheiligtümer besudelte. Nun ist bekannt¬ lich für den Hindu die Kuh ein heiliges Tier, deren Tötung für ein weit schwereres Verbrechen gilt, als die Ermordung eines Menschen. Die Tat der Mohammedaner verletzte also die heiligsten Gefühle der Hindus und forderte Rache. Den Bemühungen der Polizei gelang es zwar noch an diesem Tage, einen Zusammenstoß der beiden Parteien zu verhindern. Während der Nacht aber rächten sich die Hindus, indem sie ein totes Schwein in eine Moschee warfen. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich die Nachricht von dieser der mohammedanischen Religion angetanen Schmach in der Umgegend und schon am folgenden Tage zogen von allen Seiten mit Knütteln bewaffnete Moham¬ medaner auf Tithagur — es sollen mehr als zehntausend gewesen sein —, um über die Hindus herzufallen. In Kalkutta herrschte damals über den Zwischen- fall nicht geringe Erregung. Truppen wurden abgeschickt, um den bedrohten Ort vor den anrückenden Horden zu schützen. Während der nun folgenden langen Verhandlungen zwischen dem Truppenkommandanten und den Führern der „Belagerungsarmee" betonten diese letzteren immer wieder, sie seien ganz loyale Untertanen der englischen Regierung; aber an den Hindus wollten sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/333>, abgerufen am 27.07.2024.