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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Gärung in Belgien

nicht verrückt ist, die Fähigkeit zu, einen Volksvertreter zu wählen und so an
der Regierung des Staates indirekt teilzunehmen. Diese seltene Fähigkeit, zu
der doch eine gewisse Intelligenz und Erfahrung gehören sollte, traut es dem
Dummkopf in demselben Grade zu wie dem Klugen; der Ungebildete hat das
gleiche Recht, die Regierung mitzubestimmen wie der Gebildete, und der
arbeitende Familienvater, der die Schwierigkeiten und Kosten eines Haushalts
aus eigener Erfahrung kennt und die Verantwortung für mehr als ein Menschen¬
leben trägt, hat kein Vorrecht vor dem reichen Flaneur der Lebewelt, dem es
zu lästig ist, eine Familie zu gründen und der keine Ahnung hat vom harten
Kampfe der Menschen, die für Weib und Kind sorgen müssen. Das sind
einige Beispiele für die Gerechtigkeit dieses idealen, allgemeinen, gleichen
Wahlrechts!

Das belgische Wahlrecht versucht, diese Ungerechtigkeiten zu mildern und
berücksichtigt die Tatsache, daß die Menschen ungleich sind und ungleiche Fähig¬
keiten besitzen. Es verleiht dem seßhaften, dem Familienvater und dem Gebildeten
mehr Rechte als dem Ausladen, dem Unverheirateten und dem Ungebildeten,
indem es dem einzelnen ein einfaches, doppeltes oder dreifaches Stimmrecht
erteilt. Dabei wird auf Besitz von Geld nicht viel Wert gelegt, wohl aber auf
Grund- und Hausbesitz.

Vorausgesetzt, daß er wenigstens ein Jahr am Orte ansässig und im Besitz
der bürgerlichen Ehrenrechte ist, hat jeder Belgier das aktive Wahlrecht, und
zwar für die Deputiertenkammer (Unterhaus) vom fünfundzwanzigsten, für den
Senat (Oberhaus) vom dreißigsten Lebensjahre an.

Seiner Abstimmung wird nun eine doppelte oder dreifache Geltung verliehen
durch ein oder zwei Zusatzstimmen. Durch diese "vote8 8UppIömentaire8"
werden nach dem Gesetze folgende Personen ausgezeichnet:

1. Wer fünfunddreißig Jahre alt und verheiratet (oder Vater ehelicher
Kinder) ist und mindestens 5 Franken Steuer zahlt;

2. wer Immobilien von einem gewissen (ziemlich niedrig bemessenen) Wert
besitzt oder von einem (gleichfalls niedrig bemessenen) Kapital, dessen Anlage
näher bestimmt ist, Renten bezieht;

3. wer einen gewissen Bildungsgrad, Examina, Diplome usw. auf¬
weisen kann;

4. wer eine Stellung einnimmt, die Bildung, Intelligenz und Verantwortung
erfordert (Minister, Deputierte, Richter, Advokaten, Ärzte, Pharmazeuten,
Ingenieure, Geistliche, Offiziere, Professoren, Lehrer u. a.).

Von diesen vier Gruppen erhalten die ersten zwei je eine Stimme zu
ihrem Wahlrecht hinzu; die dritte und vierte Gruppe erhalten je zwei Zusatz¬
stimmen. Doch darf kein Wühler mehr als drei Stimmen haben.

Wenn z. B. ein sechsunddreißigjähriger Bürger, der fünf Franken Steuer
zahlt, Familienvater ist und ein Haus besitzt, so hat er also drei Stimmen,
eine als wahlfähiger Staatsbürger, eine zweite in seiner Eigenschaft als


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Die Gärung in Belgien

nicht verrückt ist, die Fähigkeit zu, einen Volksvertreter zu wählen und so an
der Regierung des Staates indirekt teilzunehmen. Diese seltene Fähigkeit, zu
der doch eine gewisse Intelligenz und Erfahrung gehören sollte, traut es dem
Dummkopf in demselben Grade zu wie dem Klugen; der Ungebildete hat das
gleiche Recht, die Regierung mitzubestimmen wie der Gebildete, und der
arbeitende Familienvater, der die Schwierigkeiten und Kosten eines Haushalts
aus eigener Erfahrung kennt und die Verantwortung für mehr als ein Menschen¬
leben trägt, hat kein Vorrecht vor dem reichen Flaneur der Lebewelt, dem es
zu lästig ist, eine Familie zu gründen und der keine Ahnung hat vom harten
Kampfe der Menschen, die für Weib und Kind sorgen müssen. Das sind
einige Beispiele für die Gerechtigkeit dieses idealen, allgemeinen, gleichen
Wahlrechts!

Das belgische Wahlrecht versucht, diese Ungerechtigkeiten zu mildern und
berücksichtigt die Tatsache, daß die Menschen ungleich sind und ungleiche Fähig¬
keiten besitzen. Es verleiht dem seßhaften, dem Familienvater und dem Gebildeten
mehr Rechte als dem Ausladen, dem Unverheirateten und dem Ungebildeten,
indem es dem einzelnen ein einfaches, doppeltes oder dreifaches Stimmrecht
erteilt. Dabei wird auf Besitz von Geld nicht viel Wert gelegt, wohl aber auf
Grund- und Hausbesitz.

Vorausgesetzt, daß er wenigstens ein Jahr am Orte ansässig und im Besitz
der bürgerlichen Ehrenrechte ist, hat jeder Belgier das aktive Wahlrecht, und
zwar für die Deputiertenkammer (Unterhaus) vom fünfundzwanzigsten, für den
Senat (Oberhaus) vom dreißigsten Lebensjahre an.

Seiner Abstimmung wird nun eine doppelte oder dreifache Geltung verliehen
durch ein oder zwei Zusatzstimmen. Durch diese „vote8 8UppIömentaire8"
werden nach dem Gesetze folgende Personen ausgezeichnet:

1. Wer fünfunddreißig Jahre alt und verheiratet (oder Vater ehelicher
Kinder) ist und mindestens 5 Franken Steuer zahlt;

2. wer Immobilien von einem gewissen (ziemlich niedrig bemessenen) Wert
besitzt oder von einem (gleichfalls niedrig bemessenen) Kapital, dessen Anlage
näher bestimmt ist, Renten bezieht;

3. wer einen gewissen Bildungsgrad, Examina, Diplome usw. auf¬
weisen kann;

4. wer eine Stellung einnimmt, die Bildung, Intelligenz und Verantwortung
erfordert (Minister, Deputierte, Richter, Advokaten, Ärzte, Pharmazeuten,
Ingenieure, Geistliche, Offiziere, Professoren, Lehrer u. a.).

Von diesen vier Gruppen erhalten die ersten zwei je eine Stimme zu
ihrem Wahlrecht hinzu; die dritte und vierte Gruppe erhalten je zwei Zusatz¬
stimmen. Doch darf kein Wühler mehr als drei Stimmen haben.

Wenn z. B. ein sechsunddreißigjähriger Bürger, der fünf Franken Steuer
zahlt, Familienvater ist und ein Haus besitzt, so hat er also drei Stimmen,
eine als wahlfähiger Staatsbürger, eine zweite in seiner Eigenschaft als


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[0311] Die Gärung in Belgien nicht verrückt ist, die Fähigkeit zu, einen Volksvertreter zu wählen und so an der Regierung des Staates indirekt teilzunehmen. Diese seltene Fähigkeit, zu der doch eine gewisse Intelligenz und Erfahrung gehören sollte, traut es dem Dummkopf in demselben Grade zu wie dem Klugen; der Ungebildete hat das gleiche Recht, die Regierung mitzubestimmen wie der Gebildete, und der arbeitende Familienvater, der die Schwierigkeiten und Kosten eines Haushalts aus eigener Erfahrung kennt und die Verantwortung für mehr als ein Menschen¬ leben trägt, hat kein Vorrecht vor dem reichen Flaneur der Lebewelt, dem es zu lästig ist, eine Familie zu gründen und der keine Ahnung hat vom harten Kampfe der Menschen, die für Weib und Kind sorgen müssen. Das sind einige Beispiele für die Gerechtigkeit dieses idealen, allgemeinen, gleichen Wahlrechts! Das belgische Wahlrecht versucht, diese Ungerechtigkeiten zu mildern und berücksichtigt die Tatsache, daß die Menschen ungleich sind und ungleiche Fähig¬ keiten besitzen. Es verleiht dem seßhaften, dem Familienvater und dem Gebildeten mehr Rechte als dem Ausladen, dem Unverheirateten und dem Ungebildeten, indem es dem einzelnen ein einfaches, doppeltes oder dreifaches Stimmrecht erteilt. Dabei wird auf Besitz von Geld nicht viel Wert gelegt, wohl aber auf Grund- und Hausbesitz. Vorausgesetzt, daß er wenigstens ein Jahr am Orte ansässig und im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte ist, hat jeder Belgier das aktive Wahlrecht, und zwar für die Deputiertenkammer (Unterhaus) vom fünfundzwanzigsten, für den Senat (Oberhaus) vom dreißigsten Lebensjahre an. Seiner Abstimmung wird nun eine doppelte oder dreifache Geltung verliehen durch ein oder zwei Zusatzstimmen. Durch diese „vote8 8UppIömentaire8" werden nach dem Gesetze folgende Personen ausgezeichnet: 1. Wer fünfunddreißig Jahre alt und verheiratet (oder Vater ehelicher Kinder) ist und mindestens 5 Franken Steuer zahlt; 2. wer Immobilien von einem gewissen (ziemlich niedrig bemessenen) Wert besitzt oder von einem (gleichfalls niedrig bemessenen) Kapital, dessen Anlage näher bestimmt ist, Renten bezieht; 3. wer einen gewissen Bildungsgrad, Examina, Diplome usw. auf¬ weisen kann; 4. wer eine Stellung einnimmt, die Bildung, Intelligenz und Verantwortung erfordert (Minister, Deputierte, Richter, Advokaten, Ärzte, Pharmazeuten, Ingenieure, Geistliche, Offiziere, Professoren, Lehrer u. a.). Von diesen vier Gruppen erhalten die ersten zwei je eine Stimme zu ihrem Wahlrecht hinzu; die dritte und vierte Gruppe erhalten je zwei Zusatz¬ stimmen. Doch darf kein Wühler mehr als drei Stimmen haben. Wenn z. B. ein sechsunddreißigjähriger Bürger, der fünf Franken Steuer zahlt, Familienvater ist und ein Haus besitzt, so hat er also drei Stimmen, eine als wahlfähiger Staatsbürger, eine zweite in seiner Eigenschaft als 20"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/311>, abgerufen am 27.07.2024.