Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Grundlagen des Imperialismus

um die Erscheinung im allgemeinen handelt. Aber da der Imperialismus
seine früheste und stärkste Verkörperung in England gefunden hat, so ist die
Annahme berechtigt, daß man aus feiner Betrachtung wichtige allgemeine
Schlüsse wird ziehen können. Aber man wird trotzdem nicht vorsichtig genug
sein können mit der Anwendung der aus der englischen Entwicklung abgeleiteten
Sätze auf den Imperialismus im allgemeinen; und es würde zu völlig falschen
Schlüssen führen, wenn man, wie es meistens geschieht, den Imperialismus
anderer Völker am englischen messen und danach beurteilen wollte. Dazu ist
der englische Imperialismus zu sehr durchsetzt von nationalen Zügen; er ist
nicht rein genug. Er kommt schon deswegen für die Ableitung theoretischer
Leitsätze über den Imperialismus nicht in vollem Umfang in Betracht, weil er
vorwiegend national-kulturell ist. Zwar zeigt die englische Politik auch insofern
rein imperialistische Züge, als sie im letzten Menschenalter keine Gelegenheit
versäumt hat, fremde Länder auch dann sich einzuverleiben, wenn eine Not¬
wendigkeit (Schutz oder Abrundung alter Kolonien) nicht vorlag; z. B. Uganda,
Rhodesien, Sudan, Birma. Aber anderseits wird England durch wirtschaftliche
und natürliche Verhältnisse -- außerordentliche industrielle Erzeugung, anlage¬
suchende Kapitalsansammlung -- zur Ausdehnung förmlich genötigt; und vor
allem ist seine imperialistische Politik auf das Bestreben zurückzuführen, seine
englisch besiedelten Kolonialgebiete zu einem einheitlichen Reich zusammen¬
zuschweißen, und seinen schon vor Jahrhunderten erworbenen Kolonialbesitz zu
sichern. So nahm der neubritische Imperialismus, nachdem die Hemmungen
der manchesterlichen Lehre beseitigt waren und die Stimmung des ganzen Volkes
Lord Beaconsfield an die Spitze gebracht hatte, gewissermaßen nur wieder eine
Politik auf, die schon durch Cromwell und die Kriege mit den Franzosen in die
Wege geleitet war. Wenn daher auch der britische Imperialismus dem nur ein¬
mal verwirklichten Ideal der Errichtung eines Imperiums, eines Weltreichs,
wie es die Römer geschmiedet hatten, am nächsten kommt, so ist er für die
Betrachtung des modernen Imperialismus in: allgemeinen nur in beschränkten:
Maße verwendbar.

Denn er erklärt nicht die eigentümliche Erscheinung, die wir an andern
Imperialismus treibenden Völkern betrachten: warum sie sich anscheinend ohne
innere Notwendigkeit so stark auszudehnen trachten? Ein kurzer Überblick über
die einzelnen, imperialistischen Länder ergibt die Gemeinsamkeit dieses Charakter¬
zuges. So ist Frankreich ein dicht besiedeltes Land von ungeheurem Kapital¬
reichtum, aber seine Bevölkerungsziffer vergrößert sich nicht, und es würde
keiner Siedlungskolonien bedürfen, trotzdem ist sein Streben auf die Errichtung
eines großen, nordafrikanischen Kolonialreichs gerichtet, trotzdem hat es Tonkin,
Madagaskar erobert. Auch Italien hätte, an sich betrachtet, keinen Grund zu
einer so starken Ausdehnungspolitik. Denn es ist kein vollentwickeltes Land,
das trotz intensivster Ausnützung seiner heimischen Möglichkeiten seinem Bevölke¬
rungszuwachs keine Nahrung mehr zu bieten vermöchte. Im Gegenteil: es be-


Grundlagen des Imperialismus

um die Erscheinung im allgemeinen handelt. Aber da der Imperialismus
seine früheste und stärkste Verkörperung in England gefunden hat, so ist die
Annahme berechtigt, daß man aus feiner Betrachtung wichtige allgemeine
Schlüsse wird ziehen können. Aber man wird trotzdem nicht vorsichtig genug
sein können mit der Anwendung der aus der englischen Entwicklung abgeleiteten
Sätze auf den Imperialismus im allgemeinen; und es würde zu völlig falschen
Schlüssen führen, wenn man, wie es meistens geschieht, den Imperialismus
anderer Völker am englischen messen und danach beurteilen wollte. Dazu ist
der englische Imperialismus zu sehr durchsetzt von nationalen Zügen; er ist
nicht rein genug. Er kommt schon deswegen für die Ableitung theoretischer
Leitsätze über den Imperialismus nicht in vollem Umfang in Betracht, weil er
vorwiegend national-kulturell ist. Zwar zeigt die englische Politik auch insofern
rein imperialistische Züge, als sie im letzten Menschenalter keine Gelegenheit
versäumt hat, fremde Länder auch dann sich einzuverleiben, wenn eine Not¬
wendigkeit (Schutz oder Abrundung alter Kolonien) nicht vorlag; z. B. Uganda,
Rhodesien, Sudan, Birma. Aber anderseits wird England durch wirtschaftliche
und natürliche Verhältnisse — außerordentliche industrielle Erzeugung, anlage¬
suchende Kapitalsansammlung — zur Ausdehnung förmlich genötigt; und vor
allem ist seine imperialistische Politik auf das Bestreben zurückzuführen, seine
englisch besiedelten Kolonialgebiete zu einem einheitlichen Reich zusammen¬
zuschweißen, und seinen schon vor Jahrhunderten erworbenen Kolonialbesitz zu
sichern. So nahm der neubritische Imperialismus, nachdem die Hemmungen
der manchesterlichen Lehre beseitigt waren und die Stimmung des ganzen Volkes
Lord Beaconsfield an die Spitze gebracht hatte, gewissermaßen nur wieder eine
Politik auf, die schon durch Cromwell und die Kriege mit den Franzosen in die
Wege geleitet war. Wenn daher auch der britische Imperialismus dem nur ein¬
mal verwirklichten Ideal der Errichtung eines Imperiums, eines Weltreichs,
wie es die Römer geschmiedet hatten, am nächsten kommt, so ist er für die
Betrachtung des modernen Imperialismus in: allgemeinen nur in beschränkten:
Maße verwendbar.

Denn er erklärt nicht die eigentümliche Erscheinung, die wir an andern
Imperialismus treibenden Völkern betrachten: warum sie sich anscheinend ohne
innere Notwendigkeit so stark auszudehnen trachten? Ein kurzer Überblick über
die einzelnen, imperialistischen Länder ergibt die Gemeinsamkeit dieses Charakter¬
zuges. So ist Frankreich ein dicht besiedeltes Land von ungeheurem Kapital¬
reichtum, aber seine Bevölkerungsziffer vergrößert sich nicht, und es würde
keiner Siedlungskolonien bedürfen, trotzdem ist sein Streben auf die Errichtung
eines großen, nordafrikanischen Kolonialreichs gerichtet, trotzdem hat es Tonkin,
Madagaskar erobert. Auch Italien hätte, an sich betrachtet, keinen Grund zu
einer so starken Ausdehnungspolitik. Denn es ist kein vollentwickeltes Land,
das trotz intensivster Ausnützung seiner heimischen Möglichkeiten seinem Bevölke¬
rungszuwachs keine Nahrung mehr zu bieten vermöchte. Im Gegenteil: es be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0274" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325794"/>
          <fw type="header" place="top"> Grundlagen des Imperialismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1076" prev="#ID_1075"> um die Erscheinung im allgemeinen handelt. Aber da der Imperialismus<lb/>
seine früheste und stärkste Verkörperung in England gefunden hat, so ist die<lb/>
Annahme berechtigt, daß man aus feiner Betrachtung wichtige allgemeine<lb/>
Schlüsse wird ziehen können. Aber man wird trotzdem nicht vorsichtig genug<lb/>
sein können mit der Anwendung der aus der englischen Entwicklung abgeleiteten<lb/>
Sätze auf den Imperialismus im allgemeinen; und es würde zu völlig falschen<lb/>
Schlüssen führen, wenn man, wie es meistens geschieht, den Imperialismus<lb/>
anderer Völker am englischen messen und danach beurteilen wollte. Dazu ist<lb/>
der englische Imperialismus zu sehr durchsetzt von nationalen Zügen; er ist<lb/>
nicht rein genug. Er kommt schon deswegen für die Ableitung theoretischer<lb/>
Leitsätze über den Imperialismus nicht in vollem Umfang in Betracht, weil er<lb/>
vorwiegend national-kulturell ist. Zwar zeigt die englische Politik auch insofern<lb/>
rein imperialistische Züge, als sie im letzten Menschenalter keine Gelegenheit<lb/>
versäumt hat, fremde Länder auch dann sich einzuverleiben, wenn eine Not¬<lb/>
wendigkeit (Schutz oder Abrundung alter Kolonien) nicht vorlag; z. B. Uganda,<lb/>
Rhodesien, Sudan, Birma. Aber anderseits wird England durch wirtschaftliche<lb/>
und natürliche Verhältnisse &#x2014; außerordentliche industrielle Erzeugung, anlage¬<lb/>
suchende Kapitalsansammlung &#x2014; zur Ausdehnung förmlich genötigt; und vor<lb/>
allem ist seine imperialistische Politik auf das Bestreben zurückzuführen, seine<lb/>
englisch besiedelten Kolonialgebiete zu einem einheitlichen Reich zusammen¬<lb/>
zuschweißen, und seinen schon vor Jahrhunderten erworbenen Kolonialbesitz zu<lb/>
sichern. So nahm der neubritische Imperialismus, nachdem die Hemmungen<lb/>
der manchesterlichen Lehre beseitigt waren und die Stimmung des ganzen Volkes<lb/>
Lord Beaconsfield an die Spitze gebracht hatte, gewissermaßen nur wieder eine<lb/>
Politik auf, die schon durch Cromwell und die Kriege mit den Franzosen in die<lb/>
Wege geleitet war. Wenn daher auch der britische Imperialismus dem nur ein¬<lb/>
mal verwirklichten Ideal der Errichtung eines Imperiums, eines Weltreichs,<lb/>
wie es die Römer geschmiedet hatten, am nächsten kommt, so ist er für die<lb/>
Betrachtung des modernen Imperialismus in: allgemeinen nur in beschränkten:<lb/>
Maße verwendbar.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1077" next="#ID_1078"> Denn er erklärt nicht die eigentümliche Erscheinung, die wir an andern<lb/>
Imperialismus treibenden Völkern betrachten: warum sie sich anscheinend ohne<lb/>
innere Notwendigkeit so stark auszudehnen trachten? Ein kurzer Überblick über<lb/>
die einzelnen, imperialistischen Länder ergibt die Gemeinsamkeit dieses Charakter¬<lb/>
zuges. So ist Frankreich ein dicht besiedeltes Land von ungeheurem Kapital¬<lb/>
reichtum, aber seine Bevölkerungsziffer vergrößert sich nicht, und es würde<lb/>
keiner Siedlungskolonien bedürfen, trotzdem ist sein Streben auf die Errichtung<lb/>
eines großen, nordafrikanischen Kolonialreichs gerichtet, trotzdem hat es Tonkin,<lb/>
Madagaskar erobert. Auch Italien hätte, an sich betrachtet, keinen Grund zu<lb/>
einer so starken Ausdehnungspolitik. Denn es ist kein vollentwickeltes Land,<lb/>
das trotz intensivster Ausnützung seiner heimischen Möglichkeiten seinem Bevölke¬<lb/>
rungszuwachs keine Nahrung mehr zu bieten vermöchte. Im Gegenteil: es be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0274] Grundlagen des Imperialismus um die Erscheinung im allgemeinen handelt. Aber da der Imperialismus seine früheste und stärkste Verkörperung in England gefunden hat, so ist die Annahme berechtigt, daß man aus feiner Betrachtung wichtige allgemeine Schlüsse wird ziehen können. Aber man wird trotzdem nicht vorsichtig genug sein können mit der Anwendung der aus der englischen Entwicklung abgeleiteten Sätze auf den Imperialismus im allgemeinen; und es würde zu völlig falschen Schlüssen führen, wenn man, wie es meistens geschieht, den Imperialismus anderer Völker am englischen messen und danach beurteilen wollte. Dazu ist der englische Imperialismus zu sehr durchsetzt von nationalen Zügen; er ist nicht rein genug. Er kommt schon deswegen für die Ableitung theoretischer Leitsätze über den Imperialismus nicht in vollem Umfang in Betracht, weil er vorwiegend national-kulturell ist. Zwar zeigt die englische Politik auch insofern rein imperialistische Züge, als sie im letzten Menschenalter keine Gelegenheit versäumt hat, fremde Länder auch dann sich einzuverleiben, wenn eine Not¬ wendigkeit (Schutz oder Abrundung alter Kolonien) nicht vorlag; z. B. Uganda, Rhodesien, Sudan, Birma. Aber anderseits wird England durch wirtschaftliche und natürliche Verhältnisse — außerordentliche industrielle Erzeugung, anlage¬ suchende Kapitalsansammlung — zur Ausdehnung förmlich genötigt; und vor allem ist seine imperialistische Politik auf das Bestreben zurückzuführen, seine englisch besiedelten Kolonialgebiete zu einem einheitlichen Reich zusammen¬ zuschweißen, und seinen schon vor Jahrhunderten erworbenen Kolonialbesitz zu sichern. So nahm der neubritische Imperialismus, nachdem die Hemmungen der manchesterlichen Lehre beseitigt waren und die Stimmung des ganzen Volkes Lord Beaconsfield an die Spitze gebracht hatte, gewissermaßen nur wieder eine Politik auf, die schon durch Cromwell und die Kriege mit den Franzosen in die Wege geleitet war. Wenn daher auch der britische Imperialismus dem nur ein¬ mal verwirklichten Ideal der Errichtung eines Imperiums, eines Weltreichs, wie es die Römer geschmiedet hatten, am nächsten kommt, so ist er für die Betrachtung des modernen Imperialismus in: allgemeinen nur in beschränkten: Maße verwendbar. Denn er erklärt nicht die eigentümliche Erscheinung, die wir an andern Imperialismus treibenden Völkern betrachten: warum sie sich anscheinend ohne innere Notwendigkeit so stark auszudehnen trachten? Ein kurzer Überblick über die einzelnen, imperialistischen Länder ergibt die Gemeinsamkeit dieses Charakter¬ zuges. So ist Frankreich ein dicht besiedeltes Land von ungeheurem Kapital¬ reichtum, aber seine Bevölkerungsziffer vergrößert sich nicht, und es würde keiner Siedlungskolonien bedürfen, trotzdem ist sein Streben auf die Errichtung eines großen, nordafrikanischen Kolonialreichs gerichtet, trotzdem hat es Tonkin, Madagaskar erobert. Auch Italien hätte, an sich betrachtet, keinen Grund zu einer so starken Ausdehnungspolitik. Denn es ist kein vollentwickeltes Land, das trotz intensivster Ausnützung seiner heimischen Möglichkeiten seinem Bevölke¬ rungszuwachs keine Nahrung mehr zu bieten vermöchte. Im Gegenteil: es be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/274
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/274>, abgerufen am 28.07.2024.