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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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rechnen; es ist vielmehr eine streng kritische
Untersuchung, die, ohne irgendeine Tendenz
zu betonen, nur auf den urkundlichen Quellen
beruht und einen Beitrag zur Rechtsgeschichte
der preußischen Juden geben, nicht aber die
politischen, kulturellen, religiösen oder wirt¬
schaftlichen Grundlagen der Emanzipation er¬
forschen will.

Aber auch in dieser Beschränkung trägt
das Buch wesentlich zur Kenntnis der Preu¬
ßischen Reform bei, indem es z. B. auch den
starken französischen Einfluß auf die Haltung
der Negierung aufdeckt. Von den beiden
Bänden wendet sich der Darstellungsband an
einen weiteren Leserkreis, während die im
zweiten Band zum erstenmal gedruckten Ur¬
kunden mehr für den Forscher bestimmt, zum
bequemeren Vergleichen aber nach den Ka¬
piteln des Darstellungsbandes geordnet sind.
-- Das Edikt vom 11. März 1312 schließt
eine Kette von Emanzipationsversuchen ab,
die nach dem Tode Friedrich des Großen ein¬
setzten. -- Die Juden waren nach ihrer Ver¬
treibung im Jahre 1S73 durch den Großen
Kurfürsten 1671 wieder aufgenommen worden,
um Handel und Verkehr in seinen Staaten
zu heben.

Seine den Juden freundliche Wirtschafts¬
politik wurde von seinen Nachfolgern aber
verlassen; sie hielten den Einfluß der Juden
auf das Wirtschaftsleben für schädlich und
suchten darum die Grenzen ihrer Erwerbs¬
tätigkeit möglichst zu verengen, die Vermeh¬
rung der einmal Aufgenommenen und Zuzug
von außen zu hindern, daneben aber ihre
Steuerkraft aufs höchste anzuspannen. Fried¬
rich Wilhelm der Erste und Friedrich der
Zweite hielten es beide für ihre Pflicht, die
Vermehrung der Juden zu verhindern, ihre
Schädlichkeit für den Staat durch Lasten zu
paralysieren; in diesem Geist wurden die
Judengesetze bis zum Tode Friedrich des
Großen erlassen und ausgeführt. Die poli¬
tische und rechtliche Stellung hatte sich also
bedeutend verschlechtert, während sich die
preußischen Juden kulturell und gesellschaft¬
lich ebenso bedeutend gehoben hatten; in
dieseni Kontrast und in dem Vorbild der
milderen Gesetze Österreichs und Frankreichs
lagen die Keime der Reformbewegung, die
unmittelbar nach dem Regierungsantritt

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Friedrich Wilhelm des Zweiten begann, aber
trotz der wohlwollenden Stellung des Königs
und den lebhaften Bemühungen der Juden,
vor allem David Friedländers, im Sande
verlief, -- ebenso wie der zweite und dritte
Reformversuch unter seinem Nachfolger. Es
mußten stärkere Erschütterungen kommen, um
den einmal angeregten Emanzipationsideen
gegen die entgegenstehenden, konservativen
Prinzipien zum Siege zu verhelfen.

Zunächst wirkte das Beispiel der fran¬
zösischen Revolution, die schon 1791 die völlige
Gleichstellung der Juden proklamiert hatte,
hindernd auf die schwache preußische Eman¬
zipationstendenz, denn wie auf allen anderen
Gebieten, wollte das legitimistische Preußen
auch in diesen: seine entschiedene Stellung
gegen die Gedanken der Revolution betonen.
Durch eine 1803 erschienene Schrift: "of
civitste ^ucZaeorum" wurde eine heftige
publizistische Polemik über die Judenfrage
hervorgerufen, die erst durch das Ein¬
schreiten der Regierung, die den Druck von
Schriften Wider und für die Juden unter¬
sagte, aufhörte und bei prinzipiellen Ent¬
scheidungen die Behörden im judenfeindlichen
Sinne beinflußte.

Wie für den ganzen preußischen Staat,
so bedeutete auch für seine Judenpolitik die
Katastrophe von 1800/07 einen Wendepunkt.
Der Staat Friedrich des Großen hatte die
Belastungsprobe nicht mehr bestanden, und es
mußten ganz andere Grundlagen geschaffen
worden, um auf ihnen einen modernen Staat
aufzubauen. Indem die Neuschöpfer Preußens
die strenge soziale Schichtung des alten
Staates aufhoben, mußten sie sich notwendig
auch mit dem Judenproblem befassen, zu dem
man eine ganz andere Stellung einnahm als
vor 1806. Stein hat dieses Reformwerk in
der kurzen ihm gegönnten Zeitspanne nicht
mehr beginnen können, sondern sein Mit¬
arbeiter Freiherr von Schroetter, der von
einem schroffen Judenfeind durch den Ein¬
fluß Steins, mit dessen Ideen sich die bis¬
herige Judenpolitik nicht vertrug, und durch
Persönliche Erfahrung sich so wandelte, daß
er in seinem Gesetzentwurf für die völlige
Gleichstellung der Juden eintrat.

Schroetter hat dann nichts weiter für seinen
Borschlag tun können, da er nach der Neu-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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rechnen; es ist vielmehr eine streng kritische
Untersuchung, die, ohne irgendeine Tendenz
zu betonen, nur auf den urkundlichen Quellen
beruht und einen Beitrag zur Rechtsgeschichte
der preußischen Juden geben, nicht aber die
politischen, kulturellen, religiösen oder wirt¬
schaftlichen Grundlagen der Emanzipation er¬
forschen will.

Aber auch in dieser Beschränkung trägt
das Buch wesentlich zur Kenntnis der Preu¬
ßischen Reform bei, indem es z. B. auch den
starken französischen Einfluß auf die Haltung
der Negierung aufdeckt. Von den beiden
Bänden wendet sich der Darstellungsband an
einen weiteren Leserkreis, während die im
zweiten Band zum erstenmal gedruckten Ur¬
kunden mehr für den Forscher bestimmt, zum
bequemeren Vergleichen aber nach den Ka¬
piteln des Darstellungsbandes geordnet sind.
— Das Edikt vom 11. März 1312 schließt
eine Kette von Emanzipationsversuchen ab,
die nach dem Tode Friedrich des Großen ein¬
setzten. — Die Juden waren nach ihrer Ver¬
treibung im Jahre 1S73 durch den Großen
Kurfürsten 1671 wieder aufgenommen worden,
um Handel und Verkehr in seinen Staaten
zu heben.

Seine den Juden freundliche Wirtschafts¬
politik wurde von seinen Nachfolgern aber
verlassen; sie hielten den Einfluß der Juden
auf das Wirtschaftsleben für schädlich und
suchten darum die Grenzen ihrer Erwerbs¬
tätigkeit möglichst zu verengen, die Vermeh¬
rung der einmal Aufgenommenen und Zuzug
von außen zu hindern, daneben aber ihre
Steuerkraft aufs höchste anzuspannen. Fried¬
rich Wilhelm der Erste und Friedrich der
Zweite hielten es beide für ihre Pflicht, die
Vermehrung der Juden zu verhindern, ihre
Schädlichkeit für den Staat durch Lasten zu
paralysieren; in diesem Geist wurden die
Judengesetze bis zum Tode Friedrich des
Großen erlassen und ausgeführt. Die poli¬
tische und rechtliche Stellung hatte sich also
bedeutend verschlechtert, während sich die
preußischen Juden kulturell und gesellschaft¬
lich ebenso bedeutend gehoben hatten; in
dieseni Kontrast und in dem Vorbild der
milderen Gesetze Österreichs und Frankreichs
lagen die Keime der Reformbewegung, die
unmittelbar nach dem Regierungsantritt

[Spaltenumbruch]

Friedrich Wilhelm des Zweiten begann, aber
trotz der wohlwollenden Stellung des Königs
und den lebhaften Bemühungen der Juden,
vor allem David Friedländers, im Sande
verlief, — ebenso wie der zweite und dritte
Reformversuch unter seinem Nachfolger. Es
mußten stärkere Erschütterungen kommen, um
den einmal angeregten Emanzipationsideen
gegen die entgegenstehenden, konservativen
Prinzipien zum Siege zu verhelfen.

Zunächst wirkte das Beispiel der fran¬
zösischen Revolution, die schon 1791 die völlige
Gleichstellung der Juden proklamiert hatte,
hindernd auf die schwache preußische Eman¬
zipationstendenz, denn wie auf allen anderen
Gebieten, wollte das legitimistische Preußen
auch in diesen: seine entschiedene Stellung
gegen die Gedanken der Revolution betonen.
Durch eine 1803 erschienene Schrift: „of
civitste ^ucZaeorum" wurde eine heftige
publizistische Polemik über die Judenfrage
hervorgerufen, die erst durch das Ein¬
schreiten der Regierung, die den Druck von
Schriften Wider und für die Juden unter¬
sagte, aufhörte und bei prinzipiellen Ent¬
scheidungen die Behörden im judenfeindlichen
Sinne beinflußte.

Wie für den ganzen preußischen Staat,
so bedeutete auch für seine Judenpolitik die
Katastrophe von 1800/07 einen Wendepunkt.
Der Staat Friedrich des Großen hatte die
Belastungsprobe nicht mehr bestanden, und es
mußten ganz andere Grundlagen geschaffen
worden, um auf ihnen einen modernen Staat
aufzubauen. Indem die Neuschöpfer Preußens
die strenge soziale Schichtung des alten
Staates aufhoben, mußten sie sich notwendig
auch mit dem Judenproblem befassen, zu dem
man eine ganz andere Stellung einnahm als
vor 1806. Stein hat dieses Reformwerk in
der kurzen ihm gegönnten Zeitspanne nicht
mehr beginnen können, sondern sein Mit¬
arbeiter Freiherr von Schroetter, der von
einem schroffen Judenfeind durch den Ein¬
fluß Steins, mit dessen Ideen sich die bis¬
herige Judenpolitik nicht vertrug, und durch
Persönliche Erfahrung sich so wandelte, daß
er in seinem Gesetzentwurf für die völlige
Gleichstellung der Juden eintrat.

Schroetter hat dann nichts weiter für seinen
Borschlag tun können, da er nach der Neu-

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[0258] Maßgebliches und Unmaßgebliches rechnen; es ist vielmehr eine streng kritische Untersuchung, die, ohne irgendeine Tendenz zu betonen, nur auf den urkundlichen Quellen beruht und einen Beitrag zur Rechtsgeschichte der preußischen Juden geben, nicht aber die politischen, kulturellen, religiösen oder wirt¬ schaftlichen Grundlagen der Emanzipation er¬ forschen will. Aber auch in dieser Beschränkung trägt das Buch wesentlich zur Kenntnis der Preu¬ ßischen Reform bei, indem es z. B. auch den starken französischen Einfluß auf die Haltung der Negierung aufdeckt. Von den beiden Bänden wendet sich der Darstellungsband an einen weiteren Leserkreis, während die im zweiten Band zum erstenmal gedruckten Ur¬ kunden mehr für den Forscher bestimmt, zum bequemeren Vergleichen aber nach den Ka¬ piteln des Darstellungsbandes geordnet sind. — Das Edikt vom 11. März 1312 schließt eine Kette von Emanzipationsversuchen ab, die nach dem Tode Friedrich des Großen ein¬ setzten. — Die Juden waren nach ihrer Ver¬ treibung im Jahre 1S73 durch den Großen Kurfürsten 1671 wieder aufgenommen worden, um Handel und Verkehr in seinen Staaten zu heben. Seine den Juden freundliche Wirtschafts¬ politik wurde von seinen Nachfolgern aber verlassen; sie hielten den Einfluß der Juden auf das Wirtschaftsleben für schädlich und suchten darum die Grenzen ihrer Erwerbs¬ tätigkeit möglichst zu verengen, die Vermeh¬ rung der einmal Aufgenommenen und Zuzug von außen zu hindern, daneben aber ihre Steuerkraft aufs höchste anzuspannen. Fried¬ rich Wilhelm der Erste und Friedrich der Zweite hielten es beide für ihre Pflicht, die Vermehrung der Juden zu verhindern, ihre Schädlichkeit für den Staat durch Lasten zu paralysieren; in diesem Geist wurden die Judengesetze bis zum Tode Friedrich des Großen erlassen und ausgeführt. Die poli¬ tische und rechtliche Stellung hatte sich also bedeutend verschlechtert, während sich die preußischen Juden kulturell und gesellschaft¬ lich ebenso bedeutend gehoben hatten; in dieseni Kontrast und in dem Vorbild der milderen Gesetze Österreichs und Frankreichs lagen die Keime der Reformbewegung, die unmittelbar nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelm des Zweiten begann, aber trotz der wohlwollenden Stellung des Königs und den lebhaften Bemühungen der Juden, vor allem David Friedländers, im Sande verlief, — ebenso wie der zweite und dritte Reformversuch unter seinem Nachfolger. Es mußten stärkere Erschütterungen kommen, um den einmal angeregten Emanzipationsideen gegen die entgegenstehenden, konservativen Prinzipien zum Siege zu verhelfen. Zunächst wirkte das Beispiel der fran¬ zösischen Revolution, die schon 1791 die völlige Gleichstellung der Juden proklamiert hatte, hindernd auf die schwache preußische Eman¬ zipationstendenz, denn wie auf allen anderen Gebieten, wollte das legitimistische Preußen auch in diesen: seine entschiedene Stellung gegen die Gedanken der Revolution betonen. Durch eine 1803 erschienene Schrift: „of civitste ^ucZaeorum" wurde eine heftige publizistische Polemik über die Judenfrage hervorgerufen, die erst durch das Ein¬ schreiten der Regierung, die den Druck von Schriften Wider und für die Juden unter¬ sagte, aufhörte und bei prinzipiellen Ent¬ scheidungen die Behörden im judenfeindlichen Sinne beinflußte. Wie für den ganzen preußischen Staat, so bedeutete auch für seine Judenpolitik die Katastrophe von 1800/07 einen Wendepunkt. Der Staat Friedrich des Großen hatte die Belastungsprobe nicht mehr bestanden, und es mußten ganz andere Grundlagen geschaffen worden, um auf ihnen einen modernen Staat aufzubauen. Indem die Neuschöpfer Preußens die strenge soziale Schichtung des alten Staates aufhoben, mußten sie sich notwendig auch mit dem Judenproblem befassen, zu dem man eine ganz andere Stellung einnahm als vor 1806. Stein hat dieses Reformwerk in der kurzen ihm gegönnten Zeitspanne nicht mehr beginnen können, sondern sein Mit¬ arbeiter Freiherr von Schroetter, der von einem schroffen Judenfeind durch den Ein¬ fluß Steins, mit dessen Ideen sich die bis¬ herige Judenpolitik nicht vertrug, und durch Persönliche Erfahrung sich so wandelte, daß er in seinem Gesetzentwurf für die völlige Gleichstellung der Juden eintrat. Schroetter hat dann nichts weiter für seinen Borschlag tun können, da er nach der Neu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/258>, abgerufen am 21.12.2024.