Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] Ursache derartiger Erscheinungen in einer un¬ Anwärter mit mindestens Einjährigenzeugnis Dasselbe Bild, wie beim Staate, zeigt Es war noch zur Zeit, als bei uns,in Darum kann eine Besserung in dieser un¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] Ursache derartiger Erscheinungen in einer un¬ Anwärter mit mindestens Einjährigenzeugnis Dasselbe Bild, wie beim Staate, zeigt Es war noch zur Zeit, als bei uns,in Darum kann eine Besserung in dieser un¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0150" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325670"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_626" prev="#ID_625" next="#ID_627"> Ursache derartiger Erscheinungen in einer un¬<lb/> gesunden Überschätzung des Berechtigungs¬<lb/> wesens, die jede», der nicht irgendwie be¬<lb/> hördlich abgestempelt ist, mag er auch sonst<lb/> noch so Tüchtiges leisten und einen noch so<lb/> hohen allgemeinen Bildungsgrad erreicht<lb/> haben, mit einem gewissen Mißtrauen be¬<lb/> trachtet. Sicherlich kann der Staat zur Er¬<lb/> zielung eines tüchtigen Bcamtemnateriäls des<lb/> Berechtigungswesens nickt entbehren, und auch<lb/> alle außerstantlichen Berufsgenossenschaften tun<lb/> gut, wenn sie Wert auf eine gute Schulbildung<lb/> ihrer Anwärter legen, die ja bei der<lb/> nunmehr gegebenen Entwicklung unseres<lb/> höheren Schulwesens in irgendeinem Be¬<lb/> rechtigungsscheine zum Ausdruck kommt. Un¬<lb/> gesund aber ist eine jede Überspannung des<lb/> Berechtigungswesens, wie sie sich leider in<lb/> staatlichen, wie in freien Berufskrcisen immer<lb/> mehr breit macht und schwere soziale Schäden<lb/> nach sich zieht. Während man vor einem<lb/> halben Jahrhundert noch mit einer gewissen<lb/> Hochachtung von einem jungen Manne sagte:<lb/> „Er hat's Einjährige", so sagt man heute<lb/> in denselben Kreisen mit fast derselben Nicht¬<lb/> achtung: „Er hat hat ja nur das Einjährige."<lb/> Eine historische Übersicht der Anforderungen,<lb/> die bei Aufnahme eines Anwärters an dessen<lb/> Borbildung gestellt werden, zeigt allerdings<lb/> eine stetige, in einzelnen Berufen beängstigende<lb/> Zunahme nach oben, ja es gibt Berufe, für<lb/> die vor einigen Jahrzehnten noch die Vor¬<lb/> bildung einer guten Volksschule genügte, die<lb/> heute aber Primareife bzw. Abiturienten-<lb/> elMicn verlangen. Ob die immerhin zu¬<lb/> gegebenen höheren Anforderungen, die die<lb/> Neuzeit an diese Berufe stellt, ein derartig<lb/> rapides Steigen der den Anwärtern zu<lb/> stellenden Ausnahmebedingungen immer recht¬<lb/> fertigen? Ob hierbei nicht vielleicht eine<lb/> allzu große Überschätzung der eigenen Ar¬<lb/> beit und Leistungsfähigkeit und die damit<lb/> zusammenhängende Unterschätzung der Arbeits¬<lb/> kraft der heranwachsenden Generation die<lb/> innere Triebfeder sind? Wie oft mag auch<lb/> nur das rein äußerliche Motiv „den Stand<lb/> zu heben" daran schuld seinl Sicherlich<lb/> kann mancher Posten, der früher und even¬<lb/> tuell heute noch voll und ganz von einem<lb/> Manne mit guter Volksschulbildung ausgefüllt<lb/> wird, dessen Neubesetzung aber heute einen</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_627" prev="#ID_626"> Anwärter mit mindestens Einjährigenzeugnis<lb/> verlangt, auch jetzt noch von einem tüchtigen<lb/> Manne ohne den „Berechtigungsschein" aus¬<lb/> gefüllt werden, und die Arbeit mancher Be¬<lb/> amtenklasse, die heute Primareife bzw. Abi-<lb/> lurium von ihren Anwärtern verlangt, würde<lb/> sicherlich ebensogut von tüchtigen Realschul¬<lb/> abiturienten geleistet werden können, ja viel¬<lb/> leicht manchmal sogar besser, da jeder Kenner<lb/> der Verhältnisse weiß, das; die sogenannte<lb/> Primareife oft weniger Wert hat, als die<lb/> gute Absolvierung einer Realschule.</p> <p xml:id="ID_628"> Dasselbe Bild, wie beim Staate, zeigt<lb/> sich auch in den freien Berufskreisen. Denn<lb/> diese nehmen sich oft das Vorgehen des Staates<lb/> mehr, als man denkt, zum Vorbild. Eine<lb/> kleine, wahre Geschichte beleuchtet das. ></p> <p xml:id="ID_629"> Es war noch zur Zeit, als bei uns,in<lb/> Sachsen Realgynmasinlabiturienten nur dann<lb/> Jura studieren konnten, wenn die Abgangs¬<lb/> zensur in Latein gut (mindestens 2 b) war;<lb/> da kommt einer meiner Realschulabiturienten<lb/> zu mir mit der Bitte, ihn doch vor der Prü¬<lb/> fung noch einmal in Physik dran zu nehmen.<lb/> Auf meine erstaunte Frage hin erklärt er<lb/> mir, er wolle Drogist werden und der in<lb/> Aussicht genommene Lehrherr habe die Be¬<lb/> dingung gestellt, in Physik und Chemie müsse<lb/> das Abgangszeugnis mindestens die Zensur 2 b<lb/> aufweisen. Man sieht, wie leicht das Beispiel<lb/> des Staates Schule macht!</p> <p xml:id="ID_630" next="#ID_631"> Darum kann eine Besserung in dieser un¬<lb/> gesunden Überspannung der Anwärteranfor¬<lb/> derungen nur vom Staate ausgehen, Kom¬<lb/> munen und Private werden sicher bald dein<lb/> gegebenen Beispiel folgen. Denn es liegt im<lb/> ureigensten Interesse der Allgemeinheit, daß<lb/> dort, wo dieses Vorwärtstreiben nicht in einer<lb/> durch die Entwicklung bedingten Steigerung<lb/> der zu stellenden Anforderungen begründet ist,<lb/> sondern in StandeSinieressen und ähnlichen<lb/> für die Allgemeinheit unwesentlichen Motiven<lb/> seine Wurzel hat, vom Staate ein Riegel<lb/> vorgeschoben wird. Die Lasten, die die<lb/> Volksschule von Jahr zu Jahr in steigen¬<lb/> dem Maße der Allgemeinheit auferlegt, wollen<lb/> nicht recht mit einer solchen systematischen<lb/> Entwertung der Volksschule harmonieren.<lb/> Die Bolksschullehrer selbst müßten energisch<lb/> gegen eine solche Mindereinschätzung ihrer<lb/> Arbeit Front machen. Man mache nur einmal</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0150]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Ursache derartiger Erscheinungen in einer un¬
gesunden Überschätzung des Berechtigungs¬
wesens, die jede», der nicht irgendwie be¬
hördlich abgestempelt ist, mag er auch sonst
noch so Tüchtiges leisten und einen noch so
hohen allgemeinen Bildungsgrad erreicht
haben, mit einem gewissen Mißtrauen be¬
trachtet. Sicherlich kann der Staat zur Er¬
zielung eines tüchtigen Bcamtemnateriäls des
Berechtigungswesens nickt entbehren, und auch
alle außerstantlichen Berufsgenossenschaften tun
gut, wenn sie Wert auf eine gute Schulbildung
ihrer Anwärter legen, die ja bei der
nunmehr gegebenen Entwicklung unseres
höheren Schulwesens in irgendeinem Be¬
rechtigungsscheine zum Ausdruck kommt. Un¬
gesund aber ist eine jede Überspannung des
Berechtigungswesens, wie sie sich leider in
staatlichen, wie in freien Berufskrcisen immer
mehr breit macht und schwere soziale Schäden
nach sich zieht. Während man vor einem
halben Jahrhundert noch mit einer gewissen
Hochachtung von einem jungen Manne sagte:
„Er hat's Einjährige", so sagt man heute
in denselben Kreisen mit fast derselben Nicht¬
achtung: „Er hat hat ja nur das Einjährige."
Eine historische Übersicht der Anforderungen,
die bei Aufnahme eines Anwärters an dessen
Borbildung gestellt werden, zeigt allerdings
eine stetige, in einzelnen Berufen beängstigende
Zunahme nach oben, ja es gibt Berufe, für
die vor einigen Jahrzehnten noch die Vor¬
bildung einer guten Volksschule genügte, die
heute aber Primareife bzw. Abiturienten-
elMicn verlangen. Ob die immerhin zu¬
gegebenen höheren Anforderungen, die die
Neuzeit an diese Berufe stellt, ein derartig
rapides Steigen der den Anwärtern zu
stellenden Ausnahmebedingungen immer recht¬
fertigen? Ob hierbei nicht vielleicht eine
allzu große Überschätzung der eigenen Ar¬
beit und Leistungsfähigkeit und die damit
zusammenhängende Unterschätzung der Arbeits¬
kraft der heranwachsenden Generation die
innere Triebfeder sind? Wie oft mag auch
nur das rein äußerliche Motiv „den Stand
zu heben" daran schuld seinl Sicherlich
kann mancher Posten, der früher und even¬
tuell heute noch voll und ganz von einem
Manne mit guter Volksschulbildung ausgefüllt
wird, dessen Neubesetzung aber heute einen
Anwärter mit mindestens Einjährigenzeugnis
verlangt, auch jetzt noch von einem tüchtigen
Manne ohne den „Berechtigungsschein" aus¬
gefüllt werden, und die Arbeit mancher Be¬
amtenklasse, die heute Primareife bzw. Abi-
lurium von ihren Anwärtern verlangt, würde
sicherlich ebensogut von tüchtigen Realschul¬
abiturienten geleistet werden können, ja viel¬
leicht manchmal sogar besser, da jeder Kenner
der Verhältnisse weiß, das; die sogenannte
Primareife oft weniger Wert hat, als die
gute Absolvierung einer Realschule.
Dasselbe Bild, wie beim Staate, zeigt
sich auch in den freien Berufskreisen. Denn
diese nehmen sich oft das Vorgehen des Staates
mehr, als man denkt, zum Vorbild. Eine
kleine, wahre Geschichte beleuchtet das. >
Es war noch zur Zeit, als bei uns,in
Sachsen Realgynmasinlabiturienten nur dann
Jura studieren konnten, wenn die Abgangs¬
zensur in Latein gut (mindestens 2 b) war;
da kommt einer meiner Realschulabiturienten
zu mir mit der Bitte, ihn doch vor der Prü¬
fung noch einmal in Physik dran zu nehmen.
Auf meine erstaunte Frage hin erklärt er
mir, er wolle Drogist werden und der in
Aussicht genommene Lehrherr habe die Be¬
dingung gestellt, in Physik und Chemie müsse
das Abgangszeugnis mindestens die Zensur 2 b
aufweisen. Man sieht, wie leicht das Beispiel
des Staates Schule macht!
Darum kann eine Besserung in dieser un¬
gesunden Überspannung der Anwärteranfor¬
derungen nur vom Staate ausgehen, Kom¬
munen und Private werden sicher bald dein
gegebenen Beispiel folgen. Denn es liegt im
ureigensten Interesse der Allgemeinheit, daß
dort, wo dieses Vorwärtstreiben nicht in einer
durch die Entwicklung bedingten Steigerung
der zu stellenden Anforderungen begründet ist,
sondern in StandeSinieressen und ähnlichen
für die Allgemeinheit unwesentlichen Motiven
seine Wurzel hat, vom Staate ein Riegel
vorgeschoben wird. Die Lasten, die die
Volksschule von Jahr zu Jahr in steigen¬
dem Maße der Allgemeinheit auferlegt, wollen
nicht recht mit einer solchen systematischen
Entwertung der Volksschule harmonieren.
Die Bolksschullehrer selbst müßten energisch
gegen eine solche Mindereinschätzung ihrer
Arbeit Front machen. Man mache nur einmal
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