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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Das stilochte Fremdwort

durch die es bei voller Wahrung seiner inhaltlichen Distanz wieder mit starken
Ketten an den Kreis des sinnlichen Lebens angeschmiedet wird, aus dem es
eben "abstrahiert" wurde, so vermag auch diese Kompensation allein den Leser,
der nur mühsam seine Gedanken in der Region der reinen Begriffe schwebend
erhält, dauernd zu fesseln und an der Sache zu interessieren. Das Fremdwort
fügt dazu noch das feine, pädagogische Kunstmittel, durch den beschriebenen
Übertragungsprozeß den Leser aktiv an der Erfüllung der Form zu beteiligen.
Er sieht sich dadurch verhindert, in die bequeme Trägheit seiner Alltagslektüre
zurückzufallen, wo er mit Worten gefüttert wird, deren ihm nur zu geläufiger,
formelhafter Sinn selbst allen Zusammenhang mit der "wohlgegründeten Erde"
verloren hat und ihn darum hilflos in die seligen Gefilde der Zerstreutheit
aufsteigen läßt.

Um diese, also spezifisch wissenschaftlich-formgebende Seite des Fremd¬
wortes zu illustrieren, vergleichen wir einmal vorurteilslos deutsche Ausdrücke,
wie: Richtung, verhältnismäßig, genau, richtig, berühren mit Tendenz, relativ,
exakt, korrekt, tangieren und man wird selbst einsehen, auf welcher Seite das
schlagfertige, d. h. der zwingende Ausdruck des Gedankens liegt. Dabei muß
man noch in Betracht ziehen, daß die deutschen Wörter ihren formelhaften
Sinn erst ganz im fortlaufenden, flüchtig überlesenen Text geltend machen,
während sie oben, einzeln aneinander gereiht, mehr auf sich selbst gestellt sind
und damit den Leser soweit "befremden", daß er veranlaßt wird, ihrem Laut-
finn nachzugehen. Ebenso ist es umgekehrt gerade ein für die schlagkräftige
Wirkung der Fremdwörter nicht unwesentlicher Faktor, daß sie im fortlaufenden,
deutschen Text schon von selbst wie in Gänsefüßchen stehen und die Aufmerk¬
samkeit auf ihre Eigenform lenken. Daß auch hier wieder nicht eigentlich der
Begriff der nationalen, sondern der der sozialen Fremdheit maßgebend ist,
ergibt sich daraus, daß sich eine prägnante Formgebung auch durch neue deutsche,
stark sinnfällig gebildete Wörter erreichen läßt. AIs Beispiel dafür darf ich vielleicht
das Wort "schlagkräftig" selbst anführen. Das Überraschende des Eindrucks
ist dabei aber immer das entscheidende Moment, so daß sie ihre Schlag¬
kraft nur bewähren, solange sie der bürgerlichen Sprache relativ fern bleiben.
Darum kann anderseits ein ursprünglich schlagkräftiges Fremdwort durch und
in seiner alltäglichen Anwendung eine zweite, abgeblaßte Form annehmen, mit
der dann ebenso eine inhaltliche Verschiebung verbunden sein wird, wie um¬
gekehrt ein formelhaftes Umgangswort seine formale Kraft in der poetischen
Suggestion nur durch einen Bedeutungswechsel wiedergewinnen konnte. So
hat z. B. ein Wort wie "ordinär" in dem wissenschaftlichen Sinne von: regel¬
mäßig seine Schlagkraft und damit auch inhaltliche Tauglichkeit durch Übergang
in die Umgangssprache verloren, wo es, abweichend von dem Lautfinn, nach
bekanntem Muster axiotische Färbung angenommen hat.

Wir sind am Ende. Wir haben versucht, das vielangefeindete Fremdwort
wissenschaftlich in doppelter Beziehung zu rehabilitieren: einmal in seiner lnhalt-


Das stilochte Fremdwort

durch die es bei voller Wahrung seiner inhaltlichen Distanz wieder mit starken
Ketten an den Kreis des sinnlichen Lebens angeschmiedet wird, aus dem es
eben „abstrahiert" wurde, so vermag auch diese Kompensation allein den Leser,
der nur mühsam seine Gedanken in der Region der reinen Begriffe schwebend
erhält, dauernd zu fesseln und an der Sache zu interessieren. Das Fremdwort
fügt dazu noch das feine, pädagogische Kunstmittel, durch den beschriebenen
Übertragungsprozeß den Leser aktiv an der Erfüllung der Form zu beteiligen.
Er sieht sich dadurch verhindert, in die bequeme Trägheit seiner Alltagslektüre
zurückzufallen, wo er mit Worten gefüttert wird, deren ihm nur zu geläufiger,
formelhafter Sinn selbst allen Zusammenhang mit der „wohlgegründeten Erde"
verloren hat und ihn darum hilflos in die seligen Gefilde der Zerstreutheit
aufsteigen läßt.

Um diese, also spezifisch wissenschaftlich-formgebende Seite des Fremd¬
wortes zu illustrieren, vergleichen wir einmal vorurteilslos deutsche Ausdrücke,
wie: Richtung, verhältnismäßig, genau, richtig, berühren mit Tendenz, relativ,
exakt, korrekt, tangieren und man wird selbst einsehen, auf welcher Seite das
schlagfertige, d. h. der zwingende Ausdruck des Gedankens liegt. Dabei muß
man noch in Betracht ziehen, daß die deutschen Wörter ihren formelhaften
Sinn erst ganz im fortlaufenden, flüchtig überlesenen Text geltend machen,
während sie oben, einzeln aneinander gereiht, mehr auf sich selbst gestellt sind
und damit den Leser soweit „befremden", daß er veranlaßt wird, ihrem Laut-
finn nachzugehen. Ebenso ist es umgekehrt gerade ein für die schlagkräftige
Wirkung der Fremdwörter nicht unwesentlicher Faktor, daß sie im fortlaufenden,
deutschen Text schon von selbst wie in Gänsefüßchen stehen und die Aufmerk¬
samkeit auf ihre Eigenform lenken. Daß auch hier wieder nicht eigentlich der
Begriff der nationalen, sondern der der sozialen Fremdheit maßgebend ist,
ergibt sich daraus, daß sich eine prägnante Formgebung auch durch neue deutsche,
stark sinnfällig gebildete Wörter erreichen läßt. AIs Beispiel dafür darf ich vielleicht
das Wort „schlagkräftig" selbst anführen. Das Überraschende des Eindrucks
ist dabei aber immer das entscheidende Moment, so daß sie ihre Schlag¬
kraft nur bewähren, solange sie der bürgerlichen Sprache relativ fern bleiben.
Darum kann anderseits ein ursprünglich schlagkräftiges Fremdwort durch und
in seiner alltäglichen Anwendung eine zweite, abgeblaßte Form annehmen, mit
der dann ebenso eine inhaltliche Verschiebung verbunden sein wird, wie um¬
gekehrt ein formelhaftes Umgangswort seine formale Kraft in der poetischen
Suggestion nur durch einen Bedeutungswechsel wiedergewinnen konnte. So
hat z. B. ein Wort wie „ordinär" in dem wissenschaftlichen Sinne von: regel¬
mäßig seine Schlagkraft und damit auch inhaltliche Tauglichkeit durch Übergang
in die Umgangssprache verloren, wo es, abweichend von dem Lautfinn, nach
bekanntem Muster axiotische Färbung angenommen hat.

Wir sind am Ende. Wir haben versucht, das vielangefeindete Fremdwort
wissenschaftlich in doppelter Beziehung zu rehabilitieren: einmal in seiner lnhalt-


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[0086] Das stilochte Fremdwort durch die es bei voller Wahrung seiner inhaltlichen Distanz wieder mit starken Ketten an den Kreis des sinnlichen Lebens angeschmiedet wird, aus dem es eben „abstrahiert" wurde, so vermag auch diese Kompensation allein den Leser, der nur mühsam seine Gedanken in der Region der reinen Begriffe schwebend erhält, dauernd zu fesseln und an der Sache zu interessieren. Das Fremdwort fügt dazu noch das feine, pädagogische Kunstmittel, durch den beschriebenen Übertragungsprozeß den Leser aktiv an der Erfüllung der Form zu beteiligen. Er sieht sich dadurch verhindert, in die bequeme Trägheit seiner Alltagslektüre zurückzufallen, wo er mit Worten gefüttert wird, deren ihm nur zu geläufiger, formelhafter Sinn selbst allen Zusammenhang mit der „wohlgegründeten Erde" verloren hat und ihn darum hilflos in die seligen Gefilde der Zerstreutheit aufsteigen läßt. Um diese, also spezifisch wissenschaftlich-formgebende Seite des Fremd¬ wortes zu illustrieren, vergleichen wir einmal vorurteilslos deutsche Ausdrücke, wie: Richtung, verhältnismäßig, genau, richtig, berühren mit Tendenz, relativ, exakt, korrekt, tangieren und man wird selbst einsehen, auf welcher Seite das schlagfertige, d. h. der zwingende Ausdruck des Gedankens liegt. Dabei muß man noch in Betracht ziehen, daß die deutschen Wörter ihren formelhaften Sinn erst ganz im fortlaufenden, flüchtig überlesenen Text geltend machen, während sie oben, einzeln aneinander gereiht, mehr auf sich selbst gestellt sind und damit den Leser soweit „befremden", daß er veranlaßt wird, ihrem Laut- finn nachzugehen. Ebenso ist es umgekehrt gerade ein für die schlagkräftige Wirkung der Fremdwörter nicht unwesentlicher Faktor, daß sie im fortlaufenden, deutschen Text schon von selbst wie in Gänsefüßchen stehen und die Aufmerk¬ samkeit auf ihre Eigenform lenken. Daß auch hier wieder nicht eigentlich der Begriff der nationalen, sondern der der sozialen Fremdheit maßgebend ist, ergibt sich daraus, daß sich eine prägnante Formgebung auch durch neue deutsche, stark sinnfällig gebildete Wörter erreichen läßt. AIs Beispiel dafür darf ich vielleicht das Wort „schlagkräftig" selbst anführen. Das Überraschende des Eindrucks ist dabei aber immer das entscheidende Moment, so daß sie ihre Schlag¬ kraft nur bewähren, solange sie der bürgerlichen Sprache relativ fern bleiben. Darum kann anderseits ein ursprünglich schlagkräftiges Fremdwort durch und in seiner alltäglichen Anwendung eine zweite, abgeblaßte Form annehmen, mit der dann ebenso eine inhaltliche Verschiebung verbunden sein wird, wie um¬ gekehrt ein formelhaftes Umgangswort seine formale Kraft in der poetischen Suggestion nur durch einen Bedeutungswechsel wiedergewinnen konnte. So hat z. B. ein Wort wie „ordinär" in dem wissenschaftlichen Sinne von: regel¬ mäßig seine Schlagkraft und damit auch inhaltliche Tauglichkeit durch Übergang in die Umgangssprache verloren, wo es, abweichend von dem Lautfinn, nach bekanntem Muster axiotische Färbung angenommen hat. Wir sind am Ende. Wir haben versucht, das vielangefeindete Fremdwort wissenschaftlich in doppelter Beziehung zu rehabilitieren: einmal in seiner lnhalt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/86>, abgerufen am 22.07.2024.