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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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lichkeit mehr als das Doppelte wie gewöhnlich beträgt und die Überlebenden
gesundheitlich und sittlich vergiftet werden.

c) Weiterhin lassen sich Gründe für die Geburtenminderung in der Ab¬
nahme der Frömmigkeit und Sittlichkeit finden. Das christliche Bibelgebot:
"Mehret euch" findet sich nicht nur bei den Juden, sondern bei allen Religionen.
Es scheint nach der Statistik in den streng katholischen und unter klerikalen
Einfluß stehenden Provinzen Bretagne und Flandern in Frankreich wie in dem
ehemals französischen von der Kirche regierten Kanada, wo Familien mit 20
bis 24 Kindern nicht selten find, gewissenhaft befolgt zu werden, während im
übrigen die antiklerikale Strömung Frankreichs seit der Trennung von Staat
und Kirche die Geburtenabnahme erklären würde. Auch hat man nach Missionen
zur Weckung des religiösen Gesühls in verschiedenen Departements Frankreichs
eine Zunahme der Geburtenziffer festgestellt. Bei uns kann man zur Begründung
dieser Ausnahme auf den Kinderreichtum der protestantischen Geistlichen hinweisen.
Der Umstand, daß das streng katholische Irland nächst Frankreich die niedrigste
Geburtenziffer aufweist, besagt nichts für das Gegenteil; denn infolge der starken
Auswanderung im mittleren Alter stehender Personen hat ein großer Teil ver
zurückbleibenden Bevölkerung noch nicht oder nicht mehr das Alter, um Kinder
in die Welt zu setzen, und ein Vergleich der Ziffer der Geburten mit der der
erwachsenen Frauen ergibt für Irland fast die doppelte Verhältniszahl wie
für Frankreich.

Wie schon in Rom, wird man allgemein das Sinken der Geburten auf
einen Verfall der Sittlichkeit zurückführen können. Die Prostitution ersetzt vielen
Junggesellen die Ehe oder schiebt die Heirat hinaus, Konkubinate sind kinder¬
feindlich. Die zunehmenden Ehescheidungen werden allerdings nicht als Ursache,
sondern als Folge des Fehlens von Kindern anzusehen sein. Diese Gründe
treffen namentlich Frankreich, dessen Sitten leichter sind als die anderer Länder.

6) Im Gegensatze zu dieser wenig schmeichelhaften Begründung hebt man
in Frankreich schließlich gern politische, soziale und kulturelle Gesichtspunkte für
die Entvölkerung hervor. Die demokratischen Anschauungen und der Unterricht,
sagt man, habe in den Ländern mit schwacher Geburtenziffer die größten Fort¬
schritte gemacht. Das mag besonders für die beiden äußersten Staaten der
Geburtenskala, Frankreich einerseits und Nußland anderseits, einleuchten, für
andere jedoch zweifelhaft erscheinen, wie für Portugal, das heute Republik ist,
mit seiner Geburtenziffer aber über Deutschland und einer ganzen Reihe von
Königreichen steht. Für die einzelnen Teile Frankreichs gibt die Statistik der
Annahme recht. Während die geburtenreichen Gegenden der Bretagne, des
Nordostens und Ostens vorwiegend monarchisch und reaktionär gesinnt sind und
die meisten Analphabeten aufweisen, pflegen die Departements des Südens
sowie der Flußgebiete Garonne und Rhone mit ihren niedrigen Geburtenziffern
demokratische Abgeordnete in die Kammer zu entsenden und die größte Zahl
der Minister und Staatsmänner zu stellen; Poincare ist der erste aus dem


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lichkeit mehr als das Doppelte wie gewöhnlich beträgt und die Überlebenden
gesundheitlich und sittlich vergiftet werden.

c) Weiterhin lassen sich Gründe für die Geburtenminderung in der Ab¬
nahme der Frömmigkeit und Sittlichkeit finden. Das christliche Bibelgebot:
„Mehret euch" findet sich nicht nur bei den Juden, sondern bei allen Religionen.
Es scheint nach der Statistik in den streng katholischen und unter klerikalen
Einfluß stehenden Provinzen Bretagne und Flandern in Frankreich wie in dem
ehemals französischen von der Kirche regierten Kanada, wo Familien mit 20
bis 24 Kindern nicht selten find, gewissenhaft befolgt zu werden, während im
übrigen die antiklerikale Strömung Frankreichs seit der Trennung von Staat
und Kirche die Geburtenabnahme erklären würde. Auch hat man nach Missionen
zur Weckung des religiösen Gesühls in verschiedenen Departements Frankreichs
eine Zunahme der Geburtenziffer festgestellt. Bei uns kann man zur Begründung
dieser Ausnahme auf den Kinderreichtum der protestantischen Geistlichen hinweisen.
Der Umstand, daß das streng katholische Irland nächst Frankreich die niedrigste
Geburtenziffer aufweist, besagt nichts für das Gegenteil; denn infolge der starken
Auswanderung im mittleren Alter stehender Personen hat ein großer Teil ver
zurückbleibenden Bevölkerung noch nicht oder nicht mehr das Alter, um Kinder
in die Welt zu setzen, und ein Vergleich der Ziffer der Geburten mit der der
erwachsenen Frauen ergibt für Irland fast die doppelte Verhältniszahl wie
für Frankreich.

Wie schon in Rom, wird man allgemein das Sinken der Geburten auf
einen Verfall der Sittlichkeit zurückführen können. Die Prostitution ersetzt vielen
Junggesellen die Ehe oder schiebt die Heirat hinaus, Konkubinate sind kinder¬
feindlich. Die zunehmenden Ehescheidungen werden allerdings nicht als Ursache,
sondern als Folge des Fehlens von Kindern anzusehen sein. Diese Gründe
treffen namentlich Frankreich, dessen Sitten leichter sind als die anderer Länder.

6) Im Gegensatze zu dieser wenig schmeichelhaften Begründung hebt man
in Frankreich schließlich gern politische, soziale und kulturelle Gesichtspunkte für
die Entvölkerung hervor. Die demokratischen Anschauungen und der Unterricht,
sagt man, habe in den Ländern mit schwacher Geburtenziffer die größten Fort¬
schritte gemacht. Das mag besonders für die beiden äußersten Staaten der
Geburtenskala, Frankreich einerseits und Nußland anderseits, einleuchten, für
andere jedoch zweifelhaft erscheinen, wie für Portugal, das heute Republik ist,
mit seiner Geburtenziffer aber über Deutschland und einer ganzen Reihe von
Königreichen steht. Für die einzelnen Teile Frankreichs gibt die Statistik der
Annahme recht. Während die geburtenreichen Gegenden der Bretagne, des
Nordostens und Ostens vorwiegend monarchisch und reaktionär gesinnt sind und
die meisten Analphabeten aufweisen, pflegen die Departements des Südens
sowie der Flußgebiete Garonne und Rhone mit ihren niedrigen Geburtenziffern
demokratische Abgeordnete in die Kammer zu entsenden und die größte Zahl
der Minister und Staatsmänner zu stellen; Poincare ist der erste aus dem


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[0636] Zur Gntvölkerungsfrage lichkeit mehr als das Doppelte wie gewöhnlich beträgt und die Überlebenden gesundheitlich und sittlich vergiftet werden. c) Weiterhin lassen sich Gründe für die Geburtenminderung in der Ab¬ nahme der Frömmigkeit und Sittlichkeit finden. Das christliche Bibelgebot: „Mehret euch" findet sich nicht nur bei den Juden, sondern bei allen Religionen. Es scheint nach der Statistik in den streng katholischen und unter klerikalen Einfluß stehenden Provinzen Bretagne und Flandern in Frankreich wie in dem ehemals französischen von der Kirche regierten Kanada, wo Familien mit 20 bis 24 Kindern nicht selten find, gewissenhaft befolgt zu werden, während im übrigen die antiklerikale Strömung Frankreichs seit der Trennung von Staat und Kirche die Geburtenabnahme erklären würde. Auch hat man nach Missionen zur Weckung des religiösen Gesühls in verschiedenen Departements Frankreichs eine Zunahme der Geburtenziffer festgestellt. Bei uns kann man zur Begründung dieser Ausnahme auf den Kinderreichtum der protestantischen Geistlichen hinweisen. Der Umstand, daß das streng katholische Irland nächst Frankreich die niedrigste Geburtenziffer aufweist, besagt nichts für das Gegenteil; denn infolge der starken Auswanderung im mittleren Alter stehender Personen hat ein großer Teil ver zurückbleibenden Bevölkerung noch nicht oder nicht mehr das Alter, um Kinder in die Welt zu setzen, und ein Vergleich der Ziffer der Geburten mit der der erwachsenen Frauen ergibt für Irland fast die doppelte Verhältniszahl wie für Frankreich. Wie schon in Rom, wird man allgemein das Sinken der Geburten auf einen Verfall der Sittlichkeit zurückführen können. Die Prostitution ersetzt vielen Junggesellen die Ehe oder schiebt die Heirat hinaus, Konkubinate sind kinder¬ feindlich. Die zunehmenden Ehescheidungen werden allerdings nicht als Ursache, sondern als Folge des Fehlens von Kindern anzusehen sein. Diese Gründe treffen namentlich Frankreich, dessen Sitten leichter sind als die anderer Länder. 6) Im Gegensatze zu dieser wenig schmeichelhaften Begründung hebt man in Frankreich schließlich gern politische, soziale und kulturelle Gesichtspunkte für die Entvölkerung hervor. Die demokratischen Anschauungen und der Unterricht, sagt man, habe in den Ländern mit schwacher Geburtenziffer die größten Fort¬ schritte gemacht. Das mag besonders für die beiden äußersten Staaten der Geburtenskala, Frankreich einerseits und Nußland anderseits, einleuchten, für andere jedoch zweifelhaft erscheinen, wie für Portugal, das heute Republik ist, mit seiner Geburtenziffer aber über Deutschland und einer ganzen Reihe von Königreichen steht. Für die einzelnen Teile Frankreichs gibt die Statistik der Annahme recht. Während die geburtenreichen Gegenden der Bretagne, des Nordostens und Ostens vorwiegend monarchisch und reaktionär gesinnt sind und die meisten Analphabeten aufweisen, pflegen die Departements des Südens sowie der Flußgebiete Garonne und Rhone mit ihren niedrigen Geburtenziffern demokratische Abgeordnete in die Kammer zu entsenden und die größte Zahl der Minister und Staatsmänner zu stellen; Poincare ist der erste aus dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/636>, abgerufen am 29.06.2024.