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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Band, die "Altstämme" (800 bis 1600) um¬
fassend, jetzt vorliegt,*)

Um es gleich vorwegzunehmen, restlos
zustimmen kann ich dieser Art von Literatur¬
betrachtung nicht. Man erhält zwar einen
Querschnitt durch die Entwicklung, aber keine
Darstellung der Entwicklung im ganzen. Um
es an einem Beispiel deutlich zu machen: In
den an sich glänzend und mit Liebe ge¬
schriebenen Kapiteln über den Humanismus
behandelt Nadler die einzelnen Zentren der
humanistischen Bildung, Erfurt, Prag, Wien,
Heidelberg usw. Dabei muß er oft auf
Frühergesagtes zurückgreifen, später zu Er¬
örterndes andeuten, bor allem aber gibt er
von manchen der Humanisten kein einheitliches
Bild. Neben der einfach glänzenden Cha¬
rakteristik des Mutianus Rufus vermißt man
ungern eine gleiche von Conrad Celtis, der
in seinem unstäten Wanderleben auf fast jeder
der obengenannten Stätten eine Zeitlang ge¬
weilt hat und nun überall, mitunter mit
meines Erachtens zu panegyrischen Lobes¬
erhebungen, besprochen, aber nie zusammen¬
fassend geschildert wird. Ähnlich geht es
Eobanus Hessus oder Johannes Reuchlin.

Einen zweiten EinWurf möchte ich noch
machen: Um seine These, in jedem Schrift¬
steller präge sich ein bestimmter Stammes¬
charakter aus, durchführen zu können, kon¬
struiert Nadler mitunter recht gewunden und
merkwürdig die behandelnden Männer zu be¬
stimmter Stammesabstammung zurecht; so ist
die Beweisführung/ Luther sei eigentlich ein
Franke, mir durchaus nicht einleuchtend, und
ich glaube, mancher Leser wird dasselbe Ge¬
fühl haben.

Und damit komme ich zu meinem dritten
Bedenken: Ich glaube gern, daß in der ger¬
manischen Zeit die einzelnen Stämme sich
ziemlich scharf sondern ließen/'und auch meinet¬
wegen der fränkische Stamm ganz anders
geartet war als der alemannische, der baye¬
rische andere Begabungen zeigte als der
sächsische. Darin liegt natürlich viel Wahr¬
heit, aber nun dieses Resultat auf die ganzen
folgenden Jahrhunderte auszudehnen und zu

[Spaltenumbruch]

meinen: der Mann ist da und da geboren,
also hat er den und den Stammescharakter,
das scheint mir die Idee zu sehr zu Pressen;
und wirklich ist oft der Wunsch der Vater des
Gedankens bei Nadler gewesen. Die alte
"Volksseele" Herders und der Romantiker
schwebt wieder wie ein geistiges Wesen über
den Landschaften. Man nutz doch bedenken,
wieviel Blutvermischung im ganzen Mittel¬
alter unter den einzelnen Stämmen vor sich
gegangen ist, und daß sich kaum einer ganz
rein von Angehörigen fremder Stämme ge¬
halten hat.

Die grundsätzliche Anlage des Buches
glaube ich also ablehnen zu müssen, ohne
diese Art der Betrachtung doch durchaus zu
verwerfen. Sie scheint mir, als Hilfsmittel
herangezogen, sehr fruchtbar wirken zu können,
ähnlich wie z. B. Kummers Einteilung des
neunzehnten Jahrhunderts in Perioden; aber
man soll nicht in den Geisteswissenschaften,
am wenigsten in der Literaturgeschichte, wo
man es mit so verschiedenartigen Individuen
zu tun hat, alles über einen Leisten schlagen
und mit einem Maße messen.

Sonst ist jedoch das Buch allen Lobes
wert. Mit dem größten Fleiße hat Nadler
die ganze Literatur durchgearbeitet, und über¬
all hat man das Gefühl, auf sicherem Boden
zu stehen. In lebhafter, anregender, mit¬
unter meinem Empfinden nach zu blühender
Sprache schreitet die Darstellung vorwärts,
und glänzende Schriftstellerporträts heben sich
hervor. Die Gabe der Charakteristik besitzt
Nadler in reichem Maße, und daß er auf
eine Dichterindibidualität feinfühlig einzugehen
versteht, bewies schon seine Studie über Eichen-
dorffs Lyrik*). So ist ihm die Schilderung
Wolframs von Eschenbach ausgezeichnet ge¬
lungen. Geradezu hervorragend ist das
Kapitel über die Mystik; man merkt, wie hier
der Verfasser sich mit Liebe eingelesen und in
die Seelen der frommen Männer und Frauen
versenkt hat. Eine solche Zusammenfassung
dieser gewaltigen geistigen und religiösen
Strömung besaßen wir bis jetzt noch nicht.
Die Charakteristik des Mutianus Rufus habe
ich schon hervorgehoben; die ruhige, behagliche

[Ende Spaltensatz]
") Regensburg 191.2, Druck und Verlag
von I. Habbel. XIX, 404 Seiten, gr. 8°.
1V M.
*) Prag 1908 (Prager Deutsche Studien.
10. Heft).
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Band, die „Altstämme" (800 bis 1600) um¬
fassend, jetzt vorliegt,*)

Um es gleich vorwegzunehmen, restlos
zustimmen kann ich dieser Art von Literatur¬
betrachtung nicht. Man erhält zwar einen
Querschnitt durch die Entwicklung, aber keine
Darstellung der Entwicklung im ganzen. Um
es an einem Beispiel deutlich zu machen: In
den an sich glänzend und mit Liebe ge¬
schriebenen Kapiteln über den Humanismus
behandelt Nadler die einzelnen Zentren der
humanistischen Bildung, Erfurt, Prag, Wien,
Heidelberg usw. Dabei muß er oft auf
Frühergesagtes zurückgreifen, später zu Er¬
örterndes andeuten, bor allem aber gibt er
von manchen der Humanisten kein einheitliches
Bild. Neben der einfach glänzenden Cha¬
rakteristik des Mutianus Rufus vermißt man
ungern eine gleiche von Conrad Celtis, der
in seinem unstäten Wanderleben auf fast jeder
der obengenannten Stätten eine Zeitlang ge¬
weilt hat und nun überall, mitunter mit
meines Erachtens zu panegyrischen Lobes¬
erhebungen, besprochen, aber nie zusammen¬
fassend geschildert wird. Ähnlich geht es
Eobanus Hessus oder Johannes Reuchlin.

Einen zweiten EinWurf möchte ich noch
machen: Um seine These, in jedem Schrift¬
steller präge sich ein bestimmter Stammes¬
charakter aus, durchführen zu können, kon¬
struiert Nadler mitunter recht gewunden und
merkwürdig die behandelnden Männer zu be¬
stimmter Stammesabstammung zurecht; so ist
die Beweisführung/ Luther sei eigentlich ein
Franke, mir durchaus nicht einleuchtend, und
ich glaube, mancher Leser wird dasselbe Ge¬
fühl haben.

Und damit komme ich zu meinem dritten
Bedenken: Ich glaube gern, daß in der ger¬
manischen Zeit die einzelnen Stämme sich
ziemlich scharf sondern ließen/'und auch meinet¬
wegen der fränkische Stamm ganz anders
geartet war als der alemannische, der baye¬
rische andere Begabungen zeigte als der
sächsische. Darin liegt natürlich viel Wahr¬
heit, aber nun dieses Resultat auf die ganzen
folgenden Jahrhunderte auszudehnen und zu

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meinen: der Mann ist da und da geboren,
also hat er den und den Stammescharakter,
das scheint mir die Idee zu sehr zu Pressen;
und wirklich ist oft der Wunsch der Vater des
Gedankens bei Nadler gewesen. Die alte
„Volksseele" Herders und der Romantiker
schwebt wieder wie ein geistiges Wesen über
den Landschaften. Man nutz doch bedenken,
wieviel Blutvermischung im ganzen Mittel¬
alter unter den einzelnen Stämmen vor sich
gegangen ist, und daß sich kaum einer ganz
rein von Angehörigen fremder Stämme ge¬
halten hat.

Die grundsätzliche Anlage des Buches
glaube ich also ablehnen zu müssen, ohne
diese Art der Betrachtung doch durchaus zu
verwerfen. Sie scheint mir, als Hilfsmittel
herangezogen, sehr fruchtbar wirken zu können,
ähnlich wie z. B. Kummers Einteilung des
neunzehnten Jahrhunderts in Perioden; aber
man soll nicht in den Geisteswissenschaften,
am wenigsten in der Literaturgeschichte, wo
man es mit so verschiedenartigen Individuen
zu tun hat, alles über einen Leisten schlagen
und mit einem Maße messen.

Sonst ist jedoch das Buch allen Lobes
wert. Mit dem größten Fleiße hat Nadler
die ganze Literatur durchgearbeitet, und über¬
all hat man das Gefühl, auf sicherem Boden
zu stehen. In lebhafter, anregender, mit¬
unter meinem Empfinden nach zu blühender
Sprache schreitet die Darstellung vorwärts,
und glänzende Schriftstellerporträts heben sich
hervor. Die Gabe der Charakteristik besitzt
Nadler in reichem Maße, und daß er auf
eine Dichterindibidualität feinfühlig einzugehen
versteht, bewies schon seine Studie über Eichen-
dorffs Lyrik*). So ist ihm die Schilderung
Wolframs von Eschenbach ausgezeichnet ge¬
lungen. Geradezu hervorragend ist das
Kapitel über die Mystik; man merkt, wie hier
der Verfasser sich mit Liebe eingelesen und in
die Seelen der frommen Männer und Frauen
versenkt hat. Eine solche Zusammenfassung
dieser gewaltigen geistigen und religiösen
Strömung besaßen wir bis jetzt noch nicht.
Die Charakteristik des Mutianus Rufus habe
ich schon hervorgehoben; die ruhige, behagliche

[Ende Spaltensatz]
") Regensburg 191.2, Druck und Verlag
von I. Habbel. XIX, 404 Seiten, gr. 8°.
1V M.
*) Prag 1908 (Prager Deutsche Studien.
10. Heft).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/591>, abgerufen am 22.12.2024.