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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Zu Jean Pauls hundertundfünfzigstem Geburtstag

könne nicht gestalten, ist großenteils auch dadurch entstanden, daß der Dichter
wirklich häufig seine Gestalten und Handlungen durch Extrablätter, eingeschobene
Vorreden, Postskripte usw. schwer schädigt und verdeckt.


"Ach, wie so gerne, Jean Paul, Pflück' ich deine herrlichen Früchte,
Hab' ich glücklich den Zaun blühender Hecken Passiert" --

klagt schon Grillparzer. Wie sollten wir auch in diesem Punkt Jean Pauls
große Fehler totschweigen können! Aber wieder und wieder muß betont werden,
daß jene Zutaten glücklicherweise meist nur rein äußere Anhängsel sind, die
gestrichen werden können, ja, die Jean Paul in reifen Jahren selbst von den
früheren Dichtungen bei einer Neuausgabe zu sondern gedachte. Auch hier
muß man wieder auf die Entwicklung des Dichters verweisen, denn die Werke
der reifen Zeit ("Titan", "Flegeljahre", "Katzenberger") waren bereits bei der
ersten Veröffentlichung frei von behinderndem Beiwerk.

Eine Tatsache freilich bleibt bestehen; trotzdem wir so viele Vorwürfe ein¬
schränken oder ganz widerlegen können -- es gehört eine gewisse Bemühung
dazu, sich in Jean Pauls Persönlichkeit hineinzufinden. Und wir kommen damit
zum letzten Punkte der Erörterung: lohnt sich denn auch diese Mühe? Hat
Jean Paul nicht Nachfolger gehabt, die uns ähnliche Gaben bieten, ohne daß
wir uns durchzukämpfen brauchen? Auf keine von allen gestellten Fragen aber
können wir so ganz rund und einheitlich antworten wie hier. Nein, wir haben
keinen Ersatz für ihn. Er hat wohl auf einzelnen Gebieten -- dem der idyllischen
Kleinmalerei und der Naturschilderung, dem des humoristischen bürgerlichen
Romans -- Nachfolger gefunden; keiner von ihnen aber kommt diesem um¬
fassenden Geist entfernt gleich. Auch eine so verehrenswerte Gestalt wie die
Wilhelm Raabes steht an geistiger Bedeutung und poetischem Reichtum weit
hinter ihm zurück. Jean Pauls Persönlichkeit, wie sie sich in seinen kleinen
und großen erzählenden Dichtungen und in seinen beiden philosophischen Haupt¬
werken (der "Vorschule der Ästhetik" und der "Levana") offenbart, ist ohne
Rivalen in der neueren deutschen Literatur.

' Die abschreckenden Gerüchte, die sich an Jean Pauls Schriststellernamen
knüpfen, sind zwar durch wirkliche Fehler dieses Autors hervorgerufen; aber sie
sind in jedem Punkte übertrieben und daher falsch. Auf eine Zeit, in der
Jean Paul fast verschollen war, wird jetzt eine andere folgen, in der er erst
nach seinem wahren Wesen ohne Überschätzung erkannt wird. Und so dürfen
wir denn, nachdem wir die Schwächen und Vorzüge Jean Pauls hier in Kürze
ehrlich geprüft haben, heute zu seinen Ehren sagen: nur einmal hat es einen
solchen Mann gegeben, nirgends sonst finden wir, was er uns bieten kann; er
war ein umfassender Geist, der heiß und siegreich um seine Klärung und Ent¬
wicklung gerungen hat; er hat uns deutsches Wesen rein und tief gestaltet; wer
ihn erkannt hat, der wird ihn lieben.




Grenzboten I 191337
Zu Jean Pauls hundertundfünfzigstem Geburtstag

könne nicht gestalten, ist großenteils auch dadurch entstanden, daß der Dichter
wirklich häufig seine Gestalten und Handlungen durch Extrablätter, eingeschobene
Vorreden, Postskripte usw. schwer schädigt und verdeckt.


„Ach, wie so gerne, Jean Paul, Pflück' ich deine herrlichen Früchte,
Hab' ich glücklich den Zaun blühender Hecken Passiert" —

klagt schon Grillparzer. Wie sollten wir auch in diesem Punkt Jean Pauls
große Fehler totschweigen können! Aber wieder und wieder muß betont werden,
daß jene Zutaten glücklicherweise meist nur rein äußere Anhängsel sind, die
gestrichen werden können, ja, die Jean Paul in reifen Jahren selbst von den
früheren Dichtungen bei einer Neuausgabe zu sondern gedachte. Auch hier
muß man wieder auf die Entwicklung des Dichters verweisen, denn die Werke
der reifen Zeit („Titan", „Flegeljahre", „Katzenberger") waren bereits bei der
ersten Veröffentlichung frei von behinderndem Beiwerk.

Eine Tatsache freilich bleibt bestehen; trotzdem wir so viele Vorwürfe ein¬
schränken oder ganz widerlegen können — es gehört eine gewisse Bemühung
dazu, sich in Jean Pauls Persönlichkeit hineinzufinden. Und wir kommen damit
zum letzten Punkte der Erörterung: lohnt sich denn auch diese Mühe? Hat
Jean Paul nicht Nachfolger gehabt, die uns ähnliche Gaben bieten, ohne daß
wir uns durchzukämpfen brauchen? Auf keine von allen gestellten Fragen aber
können wir so ganz rund und einheitlich antworten wie hier. Nein, wir haben
keinen Ersatz für ihn. Er hat wohl auf einzelnen Gebieten — dem der idyllischen
Kleinmalerei und der Naturschilderung, dem des humoristischen bürgerlichen
Romans — Nachfolger gefunden; keiner von ihnen aber kommt diesem um¬
fassenden Geist entfernt gleich. Auch eine so verehrenswerte Gestalt wie die
Wilhelm Raabes steht an geistiger Bedeutung und poetischem Reichtum weit
hinter ihm zurück. Jean Pauls Persönlichkeit, wie sie sich in seinen kleinen
und großen erzählenden Dichtungen und in seinen beiden philosophischen Haupt¬
werken (der „Vorschule der Ästhetik" und der „Levana") offenbart, ist ohne
Rivalen in der neueren deutschen Literatur.

' Die abschreckenden Gerüchte, die sich an Jean Pauls Schriststellernamen
knüpfen, sind zwar durch wirkliche Fehler dieses Autors hervorgerufen; aber sie
sind in jedem Punkte übertrieben und daher falsch. Auf eine Zeit, in der
Jean Paul fast verschollen war, wird jetzt eine andere folgen, in der er erst
nach seinem wahren Wesen ohne Überschätzung erkannt wird. Und so dürfen
wir denn, nachdem wir die Schwächen und Vorzüge Jean Pauls hier in Kürze
ehrlich geprüft haben, heute zu seinen Ehren sagen: nur einmal hat es einen
solchen Mann gegeben, nirgends sonst finden wir, was er uns bieten kann; er
war ein umfassender Geist, der heiß und siegreich um seine Klärung und Ent¬
wicklung gerungen hat; er hat uns deutsches Wesen rein und tief gestaltet; wer
ihn erkannt hat, der wird ihn lieben.




Grenzboten I 191337
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[0581] Zu Jean Pauls hundertundfünfzigstem Geburtstag könne nicht gestalten, ist großenteils auch dadurch entstanden, daß der Dichter wirklich häufig seine Gestalten und Handlungen durch Extrablätter, eingeschobene Vorreden, Postskripte usw. schwer schädigt und verdeckt. „Ach, wie so gerne, Jean Paul, Pflück' ich deine herrlichen Früchte, Hab' ich glücklich den Zaun blühender Hecken Passiert" — klagt schon Grillparzer. Wie sollten wir auch in diesem Punkt Jean Pauls große Fehler totschweigen können! Aber wieder und wieder muß betont werden, daß jene Zutaten glücklicherweise meist nur rein äußere Anhängsel sind, die gestrichen werden können, ja, die Jean Paul in reifen Jahren selbst von den früheren Dichtungen bei einer Neuausgabe zu sondern gedachte. Auch hier muß man wieder auf die Entwicklung des Dichters verweisen, denn die Werke der reifen Zeit („Titan", „Flegeljahre", „Katzenberger") waren bereits bei der ersten Veröffentlichung frei von behinderndem Beiwerk. Eine Tatsache freilich bleibt bestehen; trotzdem wir so viele Vorwürfe ein¬ schränken oder ganz widerlegen können — es gehört eine gewisse Bemühung dazu, sich in Jean Pauls Persönlichkeit hineinzufinden. Und wir kommen damit zum letzten Punkte der Erörterung: lohnt sich denn auch diese Mühe? Hat Jean Paul nicht Nachfolger gehabt, die uns ähnliche Gaben bieten, ohne daß wir uns durchzukämpfen brauchen? Auf keine von allen gestellten Fragen aber können wir so ganz rund und einheitlich antworten wie hier. Nein, wir haben keinen Ersatz für ihn. Er hat wohl auf einzelnen Gebieten — dem der idyllischen Kleinmalerei und der Naturschilderung, dem des humoristischen bürgerlichen Romans — Nachfolger gefunden; keiner von ihnen aber kommt diesem um¬ fassenden Geist entfernt gleich. Auch eine so verehrenswerte Gestalt wie die Wilhelm Raabes steht an geistiger Bedeutung und poetischem Reichtum weit hinter ihm zurück. Jean Pauls Persönlichkeit, wie sie sich in seinen kleinen und großen erzählenden Dichtungen und in seinen beiden philosophischen Haupt¬ werken (der „Vorschule der Ästhetik" und der „Levana") offenbart, ist ohne Rivalen in der neueren deutschen Literatur. ' Die abschreckenden Gerüchte, die sich an Jean Pauls Schriststellernamen knüpfen, sind zwar durch wirkliche Fehler dieses Autors hervorgerufen; aber sie sind in jedem Punkte übertrieben und daher falsch. Auf eine Zeit, in der Jean Paul fast verschollen war, wird jetzt eine andere folgen, in der er erst nach seinem wahren Wesen ohne Überschätzung erkannt wird. Und so dürfen wir denn, nachdem wir die Schwächen und Vorzüge Jean Pauls hier in Kürze ehrlich geprüft haben, heute zu seinen Ehren sagen: nur einmal hat es einen solchen Mann gegeben, nirgends sonst finden wir, was er uns bieten kann; er war ein umfassender Geist, der heiß und siegreich um seine Klärung und Ent¬ wicklung gerungen hat; er hat uns deutsches Wesen rein und tief gestaltet; wer ihn erkannt hat, der wird ihn lieben. Grenzboten I 191337

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/581>, abgerufen am 22.12.2024.