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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

1896 ist die Pest in Indien endemisch und auch die Ziffern der an Pocken
und Cholera Gestorbenen erreichen eine erschreckende Höhe*). Man muß aber,
um den Engländern gerecht zu werden, nie vergessen, daß die festeingewurzelten
Gewohnheiten und die religiösen Gebräuche des Volkes die Haupthindernisse
sind, welche die Einführung wirksamer sanitärer Maßregeln bisher verhindert
haben. Wer jemals gesehen hat, wie in Benares alltäglich Hunderttausende
von Pilgern das "heilige" Gangeswasser schlürfen, dieses Wasser, das von Schmutz
und Unrat starrt, in dem Hunderte von faulenden Menschenleichen herabtreiben,
der wundert sich nicht etwa über die große Verbreitung der Epidemien in
Indien, sondern vielmehr darüber, daß nicht das ganze Volk in einer großen
Epidemie zugrunde geht. Wollte aber die englische Regierung diese religiösen
Gebräuche aus sanitären Gründen verbieten, so würden sich Millionen von
Hindus wie ein Mann erheben, um die Fremden zu vertreiben, die "ihnen den
Himmel rauben wollen". In weiten Kreisen Indiens wird noch heute fest an
das von den Brahminen verbreitete Märchen geglaubt, die Engländer brächten
die Pest ins Land**). Die Versuche, Schutzimpfungen gegen Pocken und Pest
einzubürgern, haben vor allem wegen dieses festeingewurzelten Aberglaubens
nur geringe Erfolge aufzuweisen. Wer daher unparteiisch prüft, wird sagen
müssen, daß die Bekämpfung der Hungersnöte und Seuchen kein Schandfleck,
sondern ein Ruhmesblatt in der Geschichte Britisch-Jndiens ist.

Wenn aber heute Engländer das Verhältnis zwischen Mutterland und
Kolonie so darstellen wollen, als bringe England nur ein selbstloses und im
Grunde recht unbequemes Opfer, indem es sich die schwere und verantwortungs¬
reiche Last der Regierung Indiens ausbürde (siehe Seely: 'Nie Expansion ok
LnMnck S. 67 und ff.), so kann man nur, um sich milde auszudrücken, mit
Gobineau sprechen: Sie besitzen genug Scharfsinn, um ihre Taten vor der
Welt zu rechtfertigen. NeinI Kein Volk der Erde ist bei der Verfolgung
seiner Interessen so rücksichtslos und für sentimentale Regungen so unzugänglich
gewesen, wie die Engländer. Als die englische Regierung die Privilegien der
Handelskompagnie vernichtete und die Kolonie in eigene Verwaltung nahm,
waren ihre einzigen Beweggründe politische Klugheit und Wahrnehmung der
eigenen Interessen. Der englisch-indische Handel und die in Indien angelegten
englischen Kapitalien waren eben schon so gewaltig angewachsen, daß ein Verlust
der Kolonie nicht nur der Kompagnie sondern der ganzen Nation einen kaum
wieder gut zu machenden Schaden verursacht hätte. Wäre die Oberherrschaft
über Indien für England nachteilig oder nur eine Last ohne Vorteile, noch




") Es starben 190S an Cholera 439 950, an Pest 940174, an Fieber 4 397 927, an
Dysenterie 262 829 Menschen; 1906 an Cholera 683 176, an Pest 296 941, an Fieber
4 431420, an Dysenterie 296138 Menschen.-
"*) Ein englischer Beamter erzählte mir, Leute seines Bezirks hätten ihm einmal folgende
Bitte vorgetragen: "Wir wissen, daß ihr Engländer die Pest braucht. Tut uns aber doch
wenigstens den Gefallen und sagt uns vorher, wann ihr sie bestellt, damit wir uns recht¬
zeitig flüchten können."
Die Engländer in Indien

1896 ist die Pest in Indien endemisch und auch die Ziffern der an Pocken
und Cholera Gestorbenen erreichen eine erschreckende Höhe*). Man muß aber,
um den Engländern gerecht zu werden, nie vergessen, daß die festeingewurzelten
Gewohnheiten und die religiösen Gebräuche des Volkes die Haupthindernisse
sind, welche die Einführung wirksamer sanitärer Maßregeln bisher verhindert
haben. Wer jemals gesehen hat, wie in Benares alltäglich Hunderttausende
von Pilgern das „heilige" Gangeswasser schlürfen, dieses Wasser, das von Schmutz
und Unrat starrt, in dem Hunderte von faulenden Menschenleichen herabtreiben,
der wundert sich nicht etwa über die große Verbreitung der Epidemien in
Indien, sondern vielmehr darüber, daß nicht das ganze Volk in einer großen
Epidemie zugrunde geht. Wollte aber die englische Regierung diese religiösen
Gebräuche aus sanitären Gründen verbieten, so würden sich Millionen von
Hindus wie ein Mann erheben, um die Fremden zu vertreiben, die „ihnen den
Himmel rauben wollen". In weiten Kreisen Indiens wird noch heute fest an
das von den Brahminen verbreitete Märchen geglaubt, die Engländer brächten
die Pest ins Land**). Die Versuche, Schutzimpfungen gegen Pocken und Pest
einzubürgern, haben vor allem wegen dieses festeingewurzelten Aberglaubens
nur geringe Erfolge aufzuweisen. Wer daher unparteiisch prüft, wird sagen
müssen, daß die Bekämpfung der Hungersnöte und Seuchen kein Schandfleck,
sondern ein Ruhmesblatt in der Geschichte Britisch-Jndiens ist.

Wenn aber heute Engländer das Verhältnis zwischen Mutterland und
Kolonie so darstellen wollen, als bringe England nur ein selbstloses und im
Grunde recht unbequemes Opfer, indem es sich die schwere und verantwortungs¬
reiche Last der Regierung Indiens ausbürde (siehe Seely: 'Nie Expansion ok
LnMnck S. 67 und ff.), so kann man nur, um sich milde auszudrücken, mit
Gobineau sprechen: Sie besitzen genug Scharfsinn, um ihre Taten vor der
Welt zu rechtfertigen. NeinI Kein Volk der Erde ist bei der Verfolgung
seiner Interessen so rücksichtslos und für sentimentale Regungen so unzugänglich
gewesen, wie die Engländer. Als die englische Regierung die Privilegien der
Handelskompagnie vernichtete und die Kolonie in eigene Verwaltung nahm,
waren ihre einzigen Beweggründe politische Klugheit und Wahrnehmung der
eigenen Interessen. Der englisch-indische Handel und die in Indien angelegten
englischen Kapitalien waren eben schon so gewaltig angewachsen, daß ein Verlust
der Kolonie nicht nur der Kompagnie sondern der ganzen Nation einen kaum
wieder gut zu machenden Schaden verursacht hätte. Wäre die Oberherrschaft
über Indien für England nachteilig oder nur eine Last ohne Vorteile, noch




") Es starben 190S an Cholera 439 950, an Pest 940174, an Fieber 4 397 927, an
Dysenterie 262 829 Menschen; 1906 an Cholera 683 176, an Pest 296 941, an Fieber
4 431420, an Dysenterie 296138 Menschen.-
"*) Ein englischer Beamter erzählte mir, Leute seines Bezirks hätten ihm einmal folgende
Bitte vorgetragen: „Wir wissen, daß ihr Engländer die Pest braucht. Tut uns aber doch
wenigstens den Gefallen und sagt uns vorher, wann ihr sie bestellt, damit wir uns recht¬
zeitig flüchten können."
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[0575] Die Engländer in Indien 1896 ist die Pest in Indien endemisch und auch die Ziffern der an Pocken und Cholera Gestorbenen erreichen eine erschreckende Höhe*). Man muß aber, um den Engländern gerecht zu werden, nie vergessen, daß die festeingewurzelten Gewohnheiten und die religiösen Gebräuche des Volkes die Haupthindernisse sind, welche die Einführung wirksamer sanitärer Maßregeln bisher verhindert haben. Wer jemals gesehen hat, wie in Benares alltäglich Hunderttausende von Pilgern das „heilige" Gangeswasser schlürfen, dieses Wasser, das von Schmutz und Unrat starrt, in dem Hunderte von faulenden Menschenleichen herabtreiben, der wundert sich nicht etwa über die große Verbreitung der Epidemien in Indien, sondern vielmehr darüber, daß nicht das ganze Volk in einer großen Epidemie zugrunde geht. Wollte aber die englische Regierung diese religiösen Gebräuche aus sanitären Gründen verbieten, so würden sich Millionen von Hindus wie ein Mann erheben, um die Fremden zu vertreiben, die „ihnen den Himmel rauben wollen". In weiten Kreisen Indiens wird noch heute fest an das von den Brahminen verbreitete Märchen geglaubt, die Engländer brächten die Pest ins Land**). Die Versuche, Schutzimpfungen gegen Pocken und Pest einzubürgern, haben vor allem wegen dieses festeingewurzelten Aberglaubens nur geringe Erfolge aufzuweisen. Wer daher unparteiisch prüft, wird sagen müssen, daß die Bekämpfung der Hungersnöte und Seuchen kein Schandfleck, sondern ein Ruhmesblatt in der Geschichte Britisch-Jndiens ist. Wenn aber heute Engländer das Verhältnis zwischen Mutterland und Kolonie so darstellen wollen, als bringe England nur ein selbstloses und im Grunde recht unbequemes Opfer, indem es sich die schwere und verantwortungs¬ reiche Last der Regierung Indiens ausbürde (siehe Seely: 'Nie Expansion ok LnMnck S. 67 und ff.), so kann man nur, um sich milde auszudrücken, mit Gobineau sprechen: Sie besitzen genug Scharfsinn, um ihre Taten vor der Welt zu rechtfertigen. NeinI Kein Volk der Erde ist bei der Verfolgung seiner Interessen so rücksichtslos und für sentimentale Regungen so unzugänglich gewesen, wie die Engländer. Als die englische Regierung die Privilegien der Handelskompagnie vernichtete und die Kolonie in eigene Verwaltung nahm, waren ihre einzigen Beweggründe politische Klugheit und Wahrnehmung der eigenen Interessen. Der englisch-indische Handel und die in Indien angelegten englischen Kapitalien waren eben schon so gewaltig angewachsen, daß ein Verlust der Kolonie nicht nur der Kompagnie sondern der ganzen Nation einen kaum wieder gut zu machenden Schaden verursacht hätte. Wäre die Oberherrschaft über Indien für England nachteilig oder nur eine Last ohne Vorteile, noch ") Es starben 190S an Cholera 439 950, an Pest 940174, an Fieber 4 397 927, an Dysenterie 262 829 Menschen; 1906 an Cholera 683 176, an Pest 296 941, an Fieber 4 431420, an Dysenterie 296138 Menschen.- "*) Ein englischer Beamter erzählte mir, Leute seines Bezirks hätten ihm einmal folgende Bitte vorgetragen: „Wir wissen, daß ihr Engländer die Pest braucht. Tut uns aber doch wenigstens den Gefallen und sagt uns vorher, wann ihr sie bestellt, damit wir uns recht¬ zeitig flüchten können."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/575>, abgerufen am 25.08.2024.