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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Trebeldorf

Der Tierarzt stößt einen Fluch aus. Sein Gesicht ist aschfahl. Es kocht
in ihm von wegen so gröblicher Entstellung des tieferen Ursinnes, der in den
Versen verschlossen lag.

Irene sitzt fest, aber sie behält Fassung. Unerschrocken spricht sie den
Anfang noch einmal und noch ein drittes Mal. Es muß doch endlich werden;
und richtig, jetzt läuft die ganze Walze ohne Hindernis ab wie eine los¬
gelassene Weckuhr. Der Schluß ist überwältigend.

Der Landrat weint, weint wirklich dicke Tränen herzinnigen Vergnügens;
Sonnenschein ist auf seinem gutmütigen Angesicht. Er reicht der hübschen
Irene die Rechte, streicht mit der Linken ihr Wange und Kinn und bittet um
eine Niederschrift der sinnvollen Dichtung. Er will sie sich in Spiritus setzen.

In fünf Halbchaisen rollt der Zug die kurze Strecke hinaus nach dem
Schützenhause. Dort prangt die Festtafel. Unsere Jungen umschwirren die
Wagen und laufen bis dahin mit. Hurra! Immer wieder Hurra!

Dort draußen das Gastmahl mit den üblichen Reden. Allen voran
leuchtet der Geist unseres Bürgermeisters. Sinnig feiert er die neue Eisenbahn
und den neuen Landrat zugleich. Seine Worte gipfeln darin, daß er ihn
selbst als ein Dampfroß bezeichnet, das in die Welt gesetzt ward, um die
höchste Misston eines Menschyeitsbeglückers zu erfüllen.

Heiterste Stimmung auch hier. Nur der Direktor der städtischen Musik¬
kapelle bekommt einen Nasenstieber. Der Landrat ist musikalisch und außerstande,
seine Seele in diese Art von Orchesterharmonien unterzutauchen. Musik soll schweigen.

Schnell ist Hilfe geschafft: der Schützenwirt ist weit herumgekommen in der
Welt. Mit Schürzen, Wollwaren, Hosenträgern und derlei Dingen bereist er
alle Jahrmärkte bis weit hinter Posemuckel. Der Schützenwirt hat ein feines
Gehör, und, durch die Lande fahrend, hat er allerhand Lieder erhascht aus
Opern, Operetten und Überbrettelei, grobe, zarte und überzarte. Der Schützen¬
wirt hat auch eine Gitarre und hat eine Stimme. Sie ist zwar von grobem
Zwirn, aber dadurch eben wirksam; und vollends unbezahlbar ist seine Mimik.

Auf den macht man den Landrat aufmerksam, und der Mann muß herbei,
setzt sich in die Mitte des Saales dem Landrat gegenüber, schlägt keck ein
Bein über das andere, stimmt kunstgewandt seine Klimper, streckt sich mit Grazie
hintenüber gegen die Stuhllehne, und nun gehts los.

Das ists, was der Herr Landrat gern hat. -- Der Sänger fingt klagend
und wehmütig, er fingt lockend und betörend, er fingt neckisch und jauchzend.
Nie vernommene Rassellaute entlockt er der Gitarre. Das wirkt wie Sirenen¬
zauber. Immer ausgelassener wird die Stimmung, immer wilder die Weisen.
Schließlich tönen feuchte Kommerslieder, aus allen Kehlen mitgesungen, durch


Briefe aus Trebeldorf

Der Tierarzt stößt einen Fluch aus. Sein Gesicht ist aschfahl. Es kocht
in ihm von wegen so gröblicher Entstellung des tieferen Ursinnes, der in den
Versen verschlossen lag.

Irene sitzt fest, aber sie behält Fassung. Unerschrocken spricht sie den
Anfang noch einmal und noch ein drittes Mal. Es muß doch endlich werden;
und richtig, jetzt läuft die ganze Walze ohne Hindernis ab wie eine los¬
gelassene Weckuhr. Der Schluß ist überwältigend.

Der Landrat weint, weint wirklich dicke Tränen herzinnigen Vergnügens;
Sonnenschein ist auf seinem gutmütigen Angesicht. Er reicht der hübschen
Irene die Rechte, streicht mit der Linken ihr Wange und Kinn und bittet um
eine Niederschrift der sinnvollen Dichtung. Er will sie sich in Spiritus setzen.

In fünf Halbchaisen rollt der Zug die kurze Strecke hinaus nach dem
Schützenhause. Dort prangt die Festtafel. Unsere Jungen umschwirren die
Wagen und laufen bis dahin mit. Hurra! Immer wieder Hurra!

Dort draußen das Gastmahl mit den üblichen Reden. Allen voran
leuchtet der Geist unseres Bürgermeisters. Sinnig feiert er die neue Eisenbahn
und den neuen Landrat zugleich. Seine Worte gipfeln darin, daß er ihn
selbst als ein Dampfroß bezeichnet, das in die Welt gesetzt ward, um die
höchste Misston eines Menschyeitsbeglückers zu erfüllen.

Heiterste Stimmung auch hier. Nur der Direktor der städtischen Musik¬
kapelle bekommt einen Nasenstieber. Der Landrat ist musikalisch und außerstande,
seine Seele in diese Art von Orchesterharmonien unterzutauchen. Musik soll schweigen.

Schnell ist Hilfe geschafft: der Schützenwirt ist weit herumgekommen in der
Welt. Mit Schürzen, Wollwaren, Hosenträgern und derlei Dingen bereist er
alle Jahrmärkte bis weit hinter Posemuckel. Der Schützenwirt hat ein feines
Gehör, und, durch die Lande fahrend, hat er allerhand Lieder erhascht aus
Opern, Operetten und Überbrettelei, grobe, zarte und überzarte. Der Schützen¬
wirt hat auch eine Gitarre und hat eine Stimme. Sie ist zwar von grobem
Zwirn, aber dadurch eben wirksam; und vollends unbezahlbar ist seine Mimik.

Auf den macht man den Landrat aufmerksam, und der Mann muß herbei,
setzt sich in die Mitte des Saales dem Landrat gegenüber, schlägt keck ein
Bein über das andere, stimmt kunstgewandt seine Klimper, streckt sich mit Grazie
hintenüber gegen die Stuhllehne, und nun gehts los.

Das ists, was der Herr Landrat gern hat. — Der Sänger fingt klagend
und wehmütig, er fingt lockend und betörend, er fingt neckisch und jauchzend.
Nie vernommene Rassellaute entlockt er der Gitarre. Das wirkt wie Sirenen¬
zauber. Immer ausgelassener wird die Stimmung, immer wilder die Weisen.
Schließlich tönen feuchte Kommerslieder, aus allen Kehlen mitgesungen, durch


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[0489] Briefe aus Trebeldorf Der Tierarzt stößt einen Fluch aus. Sein Gesicht ist aschfahl. Es kocht in ihm von wegen so gröblicher Entstellung des tieferen Ursinnes, der in den Versen verschlossen lag. Irene sitzt fest, aber sie behält Fassung. Unerschrocken spricht sie den Anfang noch einmal und noch ein drittes Mal. Es muß doch endlich werden; und richtig, jetzt läuft die ganze Walze ohne Hindernis ab wie eine los¬ gelassene Weckuhr. Der Schluß ist überwältigend. Der Landrat weint, weint wirklich dicke Tränen herzinnigen Vergnügens; Sonnenschein ist auf seinem gutmütigen Angesicht. Er reicht der hübschen Irene die Rechte, streicht mit der Linken ihr Wange und Kinn und bittet um eine Niederschrift der sinnvollen Dichtung. Er will sie sich in Spiritus setzen. In fünf Halbchaisen rollt der Zug die kurze Strecke hinaus nach dem Schützenhause. Dort prangt die Festtafel. Unsere Jungen umschwirren die Wagen und laufen bis dahin mit. Hurra! Immer wieder Hurra! Dort draußen das Gastmahl mit den üblichen Reden. Allen voran leuchtet der Geist unseres Bürgermeisters. Sinnig feiert er die neue Eisenbahn und den neuen Landrat zugleich. Seine Worte gipfeln darin, daß er ihn selbst als ein Dampfroß bezeichnet, das in die Welt gesetzt ward, um die höchste Misston eines Menschyeitsbeglückers zu erfüllen. Heiterste Stimmung auch hier. Nur der Direktor der städtischen Musik¬ kapelle bekommt einen Nasenstieber. Der Landrat ist musikalisch und außerstande, seine Seele in diese Art von Orchesterharmonien unterzutauchen. Musik soll schweigen. Schnell ist Hilfe geschafft: der Schützenwirt ist weit herumgekommen in der Welt. Mit Schürzen, Wollwaren, Hosenträgern und derlei Dingen bereist er alle Jahrmärkte bis weit hinter Posemuckel. Der Schützenwirt hat ein feines Gehör, und, durch die Lande fahrend, hat er allerhand Lieder erhascht aus Opern, Operetten und Überbrettelei, grobe, zarte und überzarte. Der Schützen¬ wirt hat auch eine Gitarre und hat eine Stimme. Sie ist zwar von grobem Zwirn, aber dadurch eben wirksam; und vollends unbezahlbar ist seine Mimik. Auf den macht man den Landrat aufmerksam, und der Mann muß herbei, setzt sich in die Mitte des Saales dem Landrat gegenüber, schlägt keck ein Bein über das andere, stimmt kunstgewandt seine Klimper, streckt sich mit Grazie hintenüber gegen die Stuhllehne, und nun gehts los. Das ists, was der Herr Landrat gern hat. — Der Sänger fingt klagend und wehmütig, er fingt lockend und betörend, er fingt neckisch und jauchzend. Nie vernommene Rassellaute entlockt er der Gitarre. Das wirkt wie Sirenen¬ zauber. Immer ausgelassener wird die Stimmung, immer wilder die Weisen. Schließlich tönen feuchte Kommerslieder, aus allen Kehlen mitgesungen, durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/489>, abgerufen am 04.07.2024.