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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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vaterländische Jugendschriften

unserer subjektiven Art entspricht, sondern auch dafür, was zu unserer Stammes¬
und Volksart gehört und was ihr fremd ist, daß es ein Gefühl gibt, welches
die Volksgesamtheit in ihrer Eigenart im subjektiven Bewußtsein als ein von
der übrigen Menschheit gesondertes "Wir" kennzeichnet, ist eine Tatsache, die
nur der bestreiten kann, dem dieses Erlebnis fremd ist. Es handelt sich dabei
keineswegs um eine Suggestion, vielmehr hält jener Instinkt auch der mi߬
trauischen Kritik stand. Freilich, bei vielen ist er durch andere Erlebnisse ver¬
schüttet oder unentwickelt oder nicht vorhanden. Bei anderen wieder ist er so
stark, daß er, bewußt oder unbewußt, fast alle ihre Lebensäußerungen bestimmt.
Zuweilen tritt er, angeregt etwa durch ein Dichterwort oder durch irgendein
besonderes Erlebnis, aus dem dämmerigen Weben unserer Gefühle blitzartig
als starker Affekt hervor. Dieser Instinkt ist der festeste Kitt eines Volkes.
Solange er lebendig ist, bleibt ein Volk als Volk regenerationsfähig, auch
trotz äußerer Knechtschaft und trotz der stärksten Verluste an Menschenzahl.

In einer gewissen Wechselwirkung mit diesem Instinkt- steht die Heimat¬
liebe. Man darf sie nicht verwechseln mit bloßer Heimatkenntnis. Nicht darauf
kommt es an, daß ich alle Dinge in der Heimat mit Namen nennen und in
ein wissenschaftliches oder praktisches System einordnen kann, sondern darauf,
daß ich mit Denken, beschaulichem Sinnen, Fühlen, kurz mit ganzem Gemüt
Natur- und Menschenleben meiner Heimat umfasse und durchdringe, so daß ihr
Geist den meinigen entscheidend mitbestimmt. Darum ist ein naturnahes Leben
so unschätzbar wichtig für das Erwachsen vaterländischer Gesinnung, darum ist
ein vernünftig betriebenes Wandern für die vaterländische Erziehung der Groß-
stadtjugend eine unerläßliche Notwendigkeit.

Bewußtsein des Volkstums und Heimatliebe zu entwickeln, das sind also
die Grundforderungen, die wir an gute vaterländische Jugendschriften stellen
müssen. Sie werden nur von wenigen unter den Tausenden der vorhandenen
Bücher erfüllt. Das ist freilich verständlich genug, denn nur ein wirklicher
Dichter vermag sie zu erfüllen. Es handelt sich ja um die Erweckung voll
geistigen Lebenskeimen, die in der Seele ruhen. Sie werden wachgerufen und
zur Entfaltung gebracht nur durch einen echten Klang. Den echten Ton aber
trifft nur, wer das zu erweckende Erlebnis selbst in sich ausgereift hat und die
Fähigkeit besitzt, aus ihm heraus die rechte Sprache zu finden. Die große
Bedeutung des Phänomens der "Echtheit" ist in weiteren Kreisen der Literatur¬
kritik noch längst nicht genügend gewürdigt. Es kommt oft nur auf einen
Wortklang, auf einen Rhythmus, auf eine eigentümliche Gefühls- oder Vor¬
stellungsfolge an, auf Dinge, die sich äußerlich höchst unbedeutend ausnehmen,
und doch, Tausende treffen das nicht und bleiben deshalb Dilettanten. Gerade
diese scheinbar winzigen Differenzen bedeuten den schwierigen Schritt aus der
papierener Welt in die wirkliche, aus der Welt des toten Klanges, des Buch¬
stabens und der Phrase in die des ursprünglich sprudelnden Lebens. Wenn
einem Jungen ein echtes Dichterwort oder Dichterbuch ins Herz trifft, dann


vaterländische Jugendschriften

unserer subjektiven Art entspricht, sondern auch dafür, was zu unserer Stammes¬
und Volksart gehört und was ihr fremd ist, daß es ein Gefühl gibt, welches
die Volksgesamtheit in ihrer Eigenart im subjektiven Bewußtsein als ein von
der übrigen Menschheit gesondertes „Wir" kennzeichnet, ist eine Tatsache, die
nur der bestreiten kann, dem dieses Erlebnis fremd ist. Es handelt sich dabei
keineswegs um eine Suggestion, vielmehr hält jener Instinkt auch der mi߬
trauischen Kritik stand. Freilich, bei vielen ist er durch andere Erlebnisse ver¬
schüttet oder unentwickelt oder nicht vorhanden. Bei anderen wieder ist er so
stark, daß er, bewußt oder unbewußt, fast alle ihre Lebensäußerungen bestimmt.
Zuweilen tritt er, angeregt etwa durch ein Dichterwort oder durch irgendein
besonderes Erlebnis, aus dem dämmerigen Weben unserer Gefühle blitzartig
als starker Affekt hervor. Dieser Instinkt ist der festeste Kitt eines Volkes.
Solange er lebendig ist, bleibt ein Volk als Volk regenerationsfähig, auch
trotz äußerer Knechtschaft und trotz der stärksten Verluste an Menschenzahl.

In einer gewissen Wechselwirkung mit diesem Instinkt- steht die Heimat¬
liebe. Man darf sie nicht verwechseln mit bloßer Heimatkenntnis. Nicht darauf
kommt es an, daß ich alle Dinge in der Heimat mit Namen nennen und in
ein wissenschaftliches oder praktisches System einordnen kann, sondern darauf,
daß ich mit Denken, beschaulichem Sinnen, Fühlen, kurz mit ganzem Gemüt
Natur- und Menschenleben meiner Heimat umfasse und durchdringe, so daß ihr
Geist den meinigen entscheidend mitbestimmt. Darum ist ein naturnahes Leben
so unschätzbar wichtig für das Erwachsen vaterländischer Gesinnung, darum ist
ein vernünftig betriebenes Wandern für die vaterländische Erziehung der Groß-
stadtjugend eine unerläßliche Notwendigkeit.

Bewußtsein des Volkstums und Heimatliebe zu entwickeln, das sind also
die Grundforderungen, die wir an gute vaterländische Jugendschriften stellen
müssen. Sie werden nur von wenigen unter den Tausenden der vorhandenen
Bücher erfüllt. Das ist freilich verständlich genug, denn nur ein wirklicher
Dichter vermag sie zu erfüllen. Es handelt sich ja um die Erweckung voll
geistigen Lebenskeimen, die in der Seele ruhen. Sie werden wachgerufen und
zur Entfaltung gebracht nur durch einen echten Klang. Den echten Ton aber
trifft nur, wer das zu erweckende Erlebnis selbst in sich ausgereift hat und die
Fähigkeit besitzt, aus ihm heraus die rechte Sprache zu finden. Die große
Bedeutung des Phänomens der „Echtheit" ist in weiteren Kreisen der Literatur¬
kritik noch längst nicht genügend gewürdigt. Es kommt oft nur auf einen
Wortklang, auf einen Rhythmus, auf eine eigentümliche Gefühls- oder Vor¬
stellungsfolge an, auf Dinge, die sich äußerlich höchst unbedeutend ausnehmen,
und doch, Tausende treffen das nicht und bleiben deshalb Dilettanten. Gerade
diese scheinbar winzigen Differenzen bedeuten den schwierigen Schritt aus der
papierener Welt in die wirkliche, aus der Welt des toten Klanges, des Buch¬
stabens und der Phrase in die des ursprünglich sprudelnden Lebens. Wenn
einem Jungen ein echtes Dichterwort oder Dichterbuch ins Herz trifft, dann


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[0416] vaterländische Jugendschriften unserer subjektiven Art entspricht, sondern auch dafür, was zu unserer Stammes¬ und Volksart gehört und was ihr fremd ist, daß es ein Gefühl gibt, welches die Volksgesamtheit in ihrer Eigenart im subjektiven Bewußtsein als ein von der übrigen Menschheit gesondertes „Wir" kennzeichnet, ist eine Tatsache, die nur der bestreiten kann, dem dieses Erlebnis fremd ist. Es handelt sich dabei keineswegs um eine Suggestion, vielmehr hält jener Instinkt auch der mi߬ trauischen Kritik stand. Freilich, bei vielen ist er durch andere Erlebnisse ver¬ schüttet oder unentwickelt oder nicht vorhanden. Bei anderen wieder ist er so stark, daß er, bewußt oder unbewußt, fast alle ihre Lebensäußerungen bestimmt. Zuweilen tritt er, angeregt etwa durch ein Dichterwort oder durch irgendein besonderes Erlebnis, aus dem dämmerigen Weben unserer Gefühle blitzartig als starker Affekt hervor. Dieser Instinkt ist der festeste Kitt eines Volkes. Solange er lebendig ist, bleibt ein Volk als Volk regenerationsfähig, auch trotz äußerer Knechtschaft und trotz der stärksten Verluste an Menschenzahl. In einer gewissen Wechselwirkung mit diesem Instinkt- steht die Heimat¬ liebe. Man darf sie nicht verwechseln mit bloßer Heimatkenntnis. Nicht darauf kommt es an, daß ich alle Dinge in der Heimat mit Namen nennen und in ein wissenschaftliches oder praktisches System einordnen kann, sondern darauf, daß ich mit Denken, beschaulichem Sinnen, Fühlen, kurz mit ganzem Gemüt Natur- und Menschenleben meiner Heimat umfasse und durchdringe, so daß ihr Geist den meinigen entscheidend mitbestimmt. Darum ist ein naturnahes Leben so unschätzbar wichtig für das Erwachsen vaterländischer Gesinnung, darum ist ein vernünftig betriebenes Wandern für die vaterländische Erziehung der Groß- stadtjugend eine unerläßliche Notwendigkeit. Bewußtsein des Volkstums und Heimatliebe zu entwickeln, das sind also die Grundforderungen, die wir an gute vaterländische Jugendschriften stellen müssen. Sie werden nur von wenigen unter den Tausenden der vorhandenen Bücher erfüllt. Das ist freilich verständlich genug, denn nur ein wirklicher Dichter vermag sie zu erfüllen. Es handelt sich ja um die Erweckung voll geistigen Lebenskeimen, die in der Seele ruhen. Sie werden wachgerufen und zur Entfaltung gebracht nur durch einen echten Klang. Den echten Ton aber trifft nur, wer das zu erweckende Erlebnis selbst in sich ausgereift hat und die Fähigkeit besitzt, aus ihm heraus die rechte Sprache zu finden. Die große Bedeutung des Phänomens der „Echtheit" ist in weiteren Kreisen der Literatur¬ kritik noch längst nicht genügend gewürdigt. Es kommt oft nur auf einen Wortklang, auf einen Rhythmus, auf eine eigentümliche Gefühls- oder Vor¬ stellungsfolge an, auf Dinge, die sich äußerlich höchst unbedeutend ausnehmen, und doch, Tausende treffen das nicht und bleiben deshalb Dilettanten. Gerade diese scheinbar winzigen Differenzen bedeuten den schwierigen Schritt aus der papierener Welt in die wirkliche, aus der Welt des toten Klanges, des Buch¬ stabens und der Phrase in die des ursprünglich sprudelnden Lebens. Wenn einem Jungen ein echtes Dichterwort oder Dichterbuch ins Herz trifft, dann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/416>, abgerufen am 04.07.2024.