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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Was ist der Krieg?

deren es allein menschliches Dasein und Sittlichkeit, Gesellschaft und Geschichte
gibt und geben kann, so lange wird auch der Ausnahmezustand des Krieges zu
dem natürlich Gegebenen, jeweils notwendigen zu rechnen sein, an dem die
menschliche Vernunft sich zu üben hat. Denn der ewige Weltfriede ist der Wider¬
schein einer höchsten, heiligen Idee, die, so wie sie ist, nirgends die Wirklichkeit
haben kann, -- sonst wäre er ja eben kein Ideal -- sondern allemal von mensch¬
licher Entscheidung eine bestimmte Gestalt erwartet, damit wir nach bestem Wissen
und Gewissen, soviel wir von dem Ideal verstanden haben, zur Regel unseres
Handelns in den gegebenen Umständen machen. Hörte einmal das Böse auf, so
wäre die Sittlichkeit nichts mehr und wir nicht Menschen, sondern eine fromme,
weidende Herde. Hört einmal der Krieg auf, -- dann sind wir Engel.

Anstatt also apodiktische Urteile zu verfassen, müssen wir in jedem einzelnen
Falle prüfen, auf welche Seite ein Krieg die größte Wirkung legt: wird er für
ein Volk die Gelegenheit, sich von dem Egoismus, mit welchem gewöhnlich jeder
sein Leben fristet, auf das kräftigste zu entselbsten, bringt er die edelsten Regungen
der Menschenseele, Selbstverleugnung und Opferfreudigkeit, zur Betätigung, so ist
er ein Mittel, die Menschen im höchsten Sinne zu versittlichen. Wenn auf solche
Weise ein Krieg fruchtbar wird, wenn seine zunächst verheerenden Wirkungen um¬
gesetzt werden können in innerlich und äußerlich aufbauende Taten, dann wird
eine positive, auf Entfaltung aller Kräfte dringende Lebensanschauung fordern,
ihn als einen Teil von jener Kraft zu erkennen, die stets das Böse will und stets
das Gute schafft.

Hoffen wir, daß die Erscheinung dieses Muß für uns nicht so widrig sein
möge, daß wir selbst nur lau und zweifelnd der Notwendigkeit begegnen. Gelingt
es den geistig Führenden, die Nation das Leiden des Krieges in dem großen
Schwung des

erleben zu lassen, es dahin zu bringen, daß jeder in dem Opfer des Individuums
für das Volksganze, in dem Aufgeben der Persönlichkeit als Selbstzweck die
quälende Frage nach dem nächsten Sinn und Zweck vergißt, dann wird auch die
Begeisterung da sein, dann hat der erhabene Rhythmus der Spannung und Lösung
eines Volkskrieges selbst etwas Religiöses an sich, denn




Was ist der Krieg?

deren es allein menschliches Dasein und Sittlichkeit, Gesellschaft und Geschichte
gibt und geben kann, so lange wird auch der Ausnahmezustand des Krieges zu
dem natürlich Gegebenen, jeweils notwendigen zu rechnen sein, an dem die
menschliche Vernunft sich zu üben hat. Denn der ewige Weltfriede ist der Wider¬
schein einer höchsten, heiligen Idee, die, so wie sie ist, nirgends die Wirklichkeit
haben kann, — sonst wäre er ja eben kein Ideal — sondern allemal von mensch¬
licher Entscheidung eine bestimmte Gestalt erwartet, damit wir nach bestem Wissen
und Gewissen, soviel wir von dem Ideal verstanden haben, zur Regel unseres
Handelns in den gegebenen Umständen machen. Hörte einmal das Böse auf, so
wäre die Sittlichkeit nichts mehr und wir nicht Menschen, sondern eine fromme,
weidende Herde. Hört einmal der Krieg auf, — dann sind wir Engel.

Anstatt also apodiktische Urteile zu verfassen, müssen wir in jedem einzelnen
Falle prüfen, auf welche Seite ein Krieg die größte Wirkung legt: wird er für
ein Volk die Gelegenheit, sich von dem Egoismus, mit welchem gewöhnlich jeder
sein Leben fristet, auf das kräftigste zu entselbsten, bringt er die edelsten Regungen
der Menschenseele, Selbstverleugnung und Opferfreudigkeit, zur Betätigung, so ist
er ein Mittel, die Menschen im höchsten Sinne zu versittlichen. Wenn auf solche
Weise ein Krieg fruchtbar wird, wenn seine zunächst verheerenden Wirkungen um¬
gesetzt werden können in innerlich und äußerlich aufbauende Taten, dann wird
eine positive, auf Entfaltung aller Kräfte dringende Lebensanschauung fordern,
ihn als einen Teil von jener Kraft zu erkennen, die stets das Böse will und stets
das Gute schafft.

Hoffen wir, daß die Erscheinung dieses Muß für uns nicht so widrig sein
möge, daß wir selbst nur lau und zweifelnd der Notwendigkeit begegnen. Gelingt
es den geistig Führenden, die Nation das Leiden des Krieges in dem großen
Schwung des

erleben zu lassen, es dahin zu bringen, daß jeder in dem Opfer des Individuums
für das Volksganze, in dem Aufgeben der Persönlichkeit als Selbstzweck die
quälende Frage nach dem nächsten Sinn und Zweck vergißt, dann wird auch die
Begeisterung da sein, dann hat der erhabene Rhythmus der Spannung und Lösung
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[0349] Was ist der Krieg? deren es allein menschliches Dasein und Sittlichkeit, Gesellschaft und Geschichte gibt und geben kann, so lange wird auch der Ausnahmezustand des Krieges zu dem natürlich Gegebenen, jeweils notwendigen zu rechnen sein, an dem die menschliche Vernunft sich zu üben hat. Denn der ewige Weltfriede ist der Wider¬ schein einer höchsten, heiligen Idee, die, so wie sie ist, nirgends die Wirklichkeit haben kann, — sonst wäre er ja eben kein Ideal — sondern allemal von mensch¬ licher Entscheidung eine bestimmte Gestalt erwartet, damit wir nach bestem Wissen und Gewissen, soviel wir von dem Ideal verstanden haben, zur Regel unseres Handelns in den gegebenen Umständen machen. Hörte einmal das Böse auf, so wäre die Sittlichkeit nichts mehr und wir nicht Menschen, sondern eine fromme, weidende Herde. Hört einmal der Krieg auf, — dann sind wir Engel. Anstatt also apodiktische Urteile zu verfassen, müssen wir in jedem einzelnen Falle prüfen, auf welche Seite ein Krieg die größte Wirkung legt: wird er für ein Volk die Gelegenheit, sich von dem Egoismus, mit welchem gewöhnlich jeder sein Leben fristet, auf das kräftigste zu entselbsten, bringt er die edelsten Regungen der Menschenseele, Selbstverleugnung und Opferfreudigkeit, zur Betätigung, so ist er ein Mittel, die Menschen im höchsten Sinne zu versittlichen. Wenn auf solche Weise ein Krieg fruchtbar wird, wenn seine zunächst verheerenden Wirkungen um¬ gesetzt werden können in innerlich und äußerlich aufbauende Taten, dann wird eine positive, auf Entfaltung aller Kräfte dringende Lebensanschauung fordern, ihn als einen Teil von jener Kraft zu erkennen, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Hoffen wir, daß die Erscheinung dieses Muß für uns nicht so widrig sein möge, daß wir selbst nur lau und zweifelnd der Notwendigkeit begegnen. Gelingt es den geistig Führenden, die Nation das Leiden des Krieges in dem großen Schwung des erleben zu lassen, es dahin zu bringen, daß jeder in dem Opfer des Individuums für das Volksganze, in dem Aufgeben der Persönlichkeit als Selbstzweck die quälende Frage nach dem nächsten Sinn und Zweck vergißt, dann wird auch die Begeisterung da sein, dann hat der erhabene Rhythmus der Spannung und Lösung eines Volkskrieges selbst etwas Religiöses an sich, denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/349>, abgerufen am 04.07.2024.