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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Arbeiter als literarische Kritiker

worden war. Endlich wurde dann am Schluß des Sommersemesters gemeinsam
von den Lehrern und Hörern "Zwischen Himmel und Erde" von Otto Ludwig
gewählt, denn dies Werk bot die Möglichkeit, die Kunstform des Romans an
einem klassischen Beispiel zu erläutern; es enthielt keine sachlichen Schwierig¬
keiten; aber das Verständnis des Problems lag nicht auf der Hand, es konnte
nur durch Eindringen in die Eigenart des Dichters gefunden werden.

Das Buch wurde in den zehn Kursabenden gemeinsam gelesen und
besprochen, so, daß vor allem die großen Linien der Komposition klargelegt
wurden, die diesen scheinbar ganz naturalistischen Roman zum großen, in sich
abgeschlossenen Kunstwerk machen, und die meisterhafte Charakterschilderung an
eigenen Ersahrungen und Erlebnissen erläutert. Gerade diese Betrachtungsweise
machte den Arbeitern viel Freude; sie waren unerschöpflich in selbst erlebten
Beispielen und debattierten auch außerhalb des Unterrichts lebhast über die
Geschicke der Helden, die ihnen ganz vertraut geworden waren. Als am Ende
des Kurses nun einige Hörer noch gern einen Aufsatz machen wollten, ergab
sich das Thema fast von selbst: über die Berechtigung der Lösung, die Otto
Ludwig gibt, läßt sich jedenfalls diskutieren und nicht bloß für diesen einen
Roman, sondern für jede vom bloß "Natürlichen" abweichende Gestaltung
eines an sich nicht außergewöhnlichen Geschehnisses, konnte bei diesem Aufsatz
Verständnis bewiesen werden. Inwieweit dies gelang, hoffe ich an einigen der
folgenden Beispiele zeigen zu können, an anderen wieder, wie manche Leser an
der rein anekdotischen Betrachtung des Kunstwerks haften blieben.




Die erste Arbeit ist die eines etwa fünfundvierzigjährigen Möbelpoliers:
ich stelle sie voraus, weil sie den Inhalt des Buches kurz erzählt, auf den die
übrigen Aufsätze nicht eingehen,*)

1. Zwischen Himmel und Erde von Otto Ludwig.

In dem Charakter des alten Dachdecker Meisters, den Otto Ludwig als
einen zwar ehrenhaften und rechtlich denkenden, aber von einem starren Prinzip
beseelten Mann schildert, haben wir den Ausgangspunkt der so verschiedenen
Schicksale seiner beiden Söhne zu suchen. Denn gerade das starre Festhalt(en)
des alten Herrn, an dem was er ein mal als richtig erkannt hatte, gab seinem
ältesten Sohn die Gelegenheit, indem er scheinbar den Willen des alten Herrn
nachgab, zu beeinflussen und seinen Bruder Apollonius, der ihm bei der
Werbung um Christiane im Wege war, zu entfernen und fo, begünstigst) durch
des Vaters Augenleiden das Geschäft in die Hände zu bekommen, daß er aber
bald vernachlässigte und an den Rand des Verderbens brachte und nur die
opferwillige und gewissenhafte Pflichterfüllung des zurückgekehrten Apollonius



*) Die Mitteilung der Aufsätze erfolgt selbstverständlich im Einverständnis mit den
Verfassern. Die eingeklammerten Stellen fehlen im Original.
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Arbeiter als literarische Kritiker

worden war. Endlich wurde dann am Schluß des Sommersemesters gemeinsam
von den Lehrern und Hörern „Zwischen Himmel und Erde" von Otto Ludwig
gewählt, denn dies Werk bot die Möglichkeit, die Kunstform des Romans an
einem klassischen Beispiel zu erläutern; es enthielt keine sachlichen Schwierig¬
keiten; aber das Verständnis des Problems lag nicht auf der Hand, es konnte
nur durch Eindringen in die Eigenart des Dichters gefunden werden.

Das Buch wurde in den zehn Kursabenden gemeinsam gelesen und
besprochen, so, daß vor allem die großen Linien der Komposition klargelegt
wurden, die diesen scheinbar ganz naturalistischen Roman zum großen, in sich
abgeschlossenen Kunstwerk machen, und die meisterhafte Charakterschilderung an
eigenen Ersahrungen und Erlebnissen erläutert. Gerade diese Betrachtungsweise
machte den Arbeitern viel Freude; sie waren unerschöpflich in selbst erlebten
Beispielen und debattierten auch außerhalb des Unterrichts lebhast über die
Geschicke der Helden, die ihnen ganz vertraut geworden waren. Als am Ende
des Kurses nun einige Hörer noch gern einen Aufsatz machen wollten, ergab
sich das Thema fast von selbst: über die Berechtigung der Lösung, die Otto
Ludwig gibt, läßt sich jedenfalls diskutieren und nicht bloß für diesen einen
Roman, sondern für jede vom bloß „Natürlichen" abweichende Gestaltung
eines an sich nicht außergewöhnlichen Geschehnisses, konnte bei diesem Aufsatz
Verständnis bewiesen werden. Inwieweit dies gelang, hoffe ich an einigen der
folgenden Beispiele zeigen zu können, an anderen wieder, wie manche Leser an
der rein anekdotischen Betrachtung des Kunstwerks haften blieben.




Die erste Arbeit ist die eines etwa fünfundvierzigjährigen Möbelpoliers:
ich stelle sie voraus, weil sie den Inhalt des Buches kurz erzählt, auf den die
übrigen Aufsätze nicht eingehen,*)

1. Zwischen Himmel und Erde von Otto Ludwig.

In dem Charakter des alten Dachdecker Meisters, den Otto Ludwig als
einen zwar ehrenhaften und rechtlich denkenden, aber von einem starren Prinzip
beseelten Mann schildert, haben wir den Ausgangspunkt der so verschiedenen
Schicksale seiner beiden Söhne zu suchen. Denn gerade das starre Festhalt(en)
des alten Herrn, an dem was er ein mal als richtig erkannt hatte, gab seinem
ältesten Sohn die Gelegenheit, indem er scheinbar den Willen des alten Herrn
nachgab, zu beeinflussen und seinen Bruder Apollonius, der ihm bei der
Werbung um Christiane im Wege war, zu entfernen und fo, begünstigst) durch
des Vaters Augenleiden das Geschäft in die Hände zu bekommen, daß er aber
bald vernachlässigte und an den Rand des Verderbens brachte und nur die
opferwillige und gewissenhafte Pflichterfüllung des zurückgekehrten Apollonius



*) Die Mitteilung der Aufsätze erfolgt selbstverständlich im Einverständnis mit den
Verfassern. Die eingeklammerten Stellen fehlen im Original.
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[0327] Arbeiter als literarische Kritiker worden war. Endlich wurde dann am Schluß des Sommersemesters gemeinsam von den Lehrern und Hörern „Zwischen Himmel und Erde" von Otto Ludwig gewählt, denn dies Werk bot die Möglichkeit, die Kunstform des Romans an einem klassischen Beispiel zu erläutern; es enthielt keine sachlichen Schwierig¬ keiten; aber das Verständnis des Problems lag nicht auf der Hand, es konnte nur durch Eindringen in die Eigenart des Dichters gefunden werden. Das Buch wurde in den zehn Kursabenden gemeinsam gelesen und besprochen, so, daß vor allem die großen Linien der Komposition klargelegt wurden, die diesen scheinbar ganz naturalistischen Roman zum großen, in sich abgeschlossenen Kunstwerk machen, und die meisterhafte Charakterschilderung an eigenen Ersahrungen und Erlebnissen erläutert. Gerade diese Betrachtungsweise machte den Arbeitern viel Freude; sie waren unerschöpflich in selbst erlebten Beispielen und debattierten auch außerhalb des Unterrichts lebhast über die Geschicke der Helden, die ihnen ganz vertraut geworden waren. Als am Ende des Kurses nun einige Hörer noch gern einen Aufsatz machen wollten, ergab sich das Thema fast von selbst: über die Berechtigung der Lösung, die Otto Ludwig gibt, läßt sich jedenfalls diskutieren und nicht bloß für diesen einen Roman, sondern für jede vom bloß „Natürlichen" abweichende Gestaltung eines an sich nicht außergewöhnlichen Geschehnisses, konnte bei diesem Aufsatz Verständnis bewiesen werden. Inwieweit dies gelang, hoffe ich an einigen der folgenden Beispiele zeigen zu können, an anderen wieder, wie manche Leser an der rein anekdotischen Betrachtung des Kunstwerks haften blieben. Die erste Arbeit ist die eines etwa fünfundvierzigjährigen Möbelpoliers: ich stelle sie voraus, weil sie den Inhalt des Buches kurz erzählt, auf den die übrigen Aufsätze nicht eingehen,*) 1. Zwischen Himmel und Erde von Otto Ludwig. In dem Charakter des alten Dachdecker Meisters, den Otto Ludwig als einen zwar ehrenhaften und rechtlich denkenden, aber von einem starren Prinzip beseelten Mann schildert, haben wir den Ausgangspunkt der so verschiedenen Schicksale seiner beiden Söhne zu suchen. Denn gerade das starre Festhalt(en) des alten Herrn, an dem was er ein mal als richtig erkannt hatte, gab seinem ältesten Sohn die Gelegenheit, indem er scheinbar den Willen des alten Herrn nachgab, zu beeinflussen und seinen Bruder Apollonius, der ihm bei der Werbung um Christiane im Wege war, zu entfernen und fo, begünstigst) durch des Vaters Augenleiden das Geschäft in die Hände zu bekommen, daß er aber bald vernachlässigte und an den Rand des Verderbens brachte und nur die opferwillige und gewissenhafte Pflichterfüllung des zurückgekehrten Apollonius *) Die Mitteilung der Aufsätze erfolgt selbstverständlich im Einverständnis mit den Verfassern. Die eingeklammerten Stellen fehlen im Original. 21«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/327>, abgerufen am 22.07.2024.