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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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von Assisi und die Anfänge der Kunst in
Italien" (1885); man entdeckte in dem an¬
geblich so gleichförmigen, so "gebundenen"
Mittelalter Persönlichkeiten von höchster In¬
dividualität und geistiger Selbständigkeit; ja
man hat mehrere "Vorrenaissancen" mit all
ihren Begleiterscheinungen, von der karolin-
zischen an, im Mittelalter festgestellt, ander¬
seits zeigt Lindner, daß erst die auf die
Renaissance folgende Periode der Staats¬
allgewalt eine dem Mittelalter unbekannte
Gebundenheit des Individuums an den ab¬
soluten Staat mit sich gebracht habe. So
scheint der Individualismus überhaupt nicht,
wie Lamprecht will, eine Entwicklungsstufe
zu sein, sondern eine allgemein mensch¬
liche Eigenschaft: der Selbsterhaltungstrieb
des einzelnen gegenüber der Gesamtheit; hier
beginnt nun Lindner eigene, Positive Ge¬
danken über die geschichtliche Entwicklung an
Stelle der widerlegten Lamprechtschen mit¬
zuteilen, die empirisch aus der Arbeit an
seiner "Weltgeschichte" erwachsen, allgemeine
Geltung beanspruchen dürfen und in ihrer
schlichten und klaren Form auch dem Laien
die Probleme des geschichtlichen Werdens ver¬
ständlich machen.

Zwei große Gewalten sind es, deren ge¬
meinsames Wirken die menschliche Geschichte
beherrscht: das "Prinzip der Beharrung"
und das "Prinzip der Veränderung"; treten
in einer unter normalen Bedingungen sich
entwickelnden menschlichen Gemeinschaft ein
Bedmfnis Psychischer oder physischer Natur
auf, so wird dieses, sobald es ins Bewußt¬
sein tritt, zur Idee. Die Idee muß nun
ihre Lebenskraft im Kampf mit der Behar¬
rung, den bestehenden Zuständen, beweisen,
sie muß sich den Verhältnissen anpassen, um
endlich ihr Ziel zu erreichen; ist dies aber
erfüllt, so regen sich neue Kräfte, neue Be¬
dürfnisse, die als Ideen von einer neuen Zeit
aufgenommen werden und an die Stelle der
früheren treten. Aber um wirklich Idee zu
werden, muß der Gedanke ins Bewußtsein
der "Masse" übergehen, die in Ruhe die
Trägerin der Beharrung, der langsamen,
geschichtlichen Entwicklung ist, wenn sie aber
aus dieser ruhigen Existenz sich erhebt,
den von außen kommenden Anstoß mit immer
wachsender Gewalt fortzupflanzen vermag.

[Spaltenumbruch]

Wie verhält sich aber der einzelne zu dem
geschichtlichen Wirken der Massen, da doch
die "Heroistische", auch heut noch weit ver¬
breitete Auffassung, nur dem großen Indi¬
viduum einen Einfluß auf die Geschichte
zugesteht? Sind durch die Anerkennung
der kollektivistischen Geschichtsanschauung die
Leistungen der "großen Männer" so im Wert
gesunken, daß die Entwicklung sich auch ohne
sie vollenden würde, daß sie für den Ge¬
schichtsverlauf entbehrlich wären? Erst durch
die individuelle Prägung, die eine große histo¬
rische Persönlichkeit der "Idee" ihrer Zeit gibt,
kann sie Verwirklichung finden, und erst durch
die Übertragung in die Wirklichkeit wird die
Idee ihre Lebenskraft beweisen, und diese
Übertragung in die Wirklichkeit ist letzten
Endes immer eine individuelle Handlung.
Hingegen ist aber die Masse nicht allein als
Trägerin der Idee historisch wirksam; sie
bietet dem Individuum nicht bloß die Auf¬
gaben und den Stoff zur Ausführung seiner
Taten, sie wirkt auch durch tausend Einflüsse
der Umwelt, des "Milieus" auf jenes ein, und
in diesem Sinne mag auch der Satz, daß
jede Zeit ihren Mann hervorbringe, seine
Richtigkeit haben. Durch eine Synthese aus
der kollektivistischen und Hervistischen Ge¬
schichtsauffassung vermag der moderne Historiker
erst den Anteil beider Elemente an der Ent¬
wicklung gerecht abzuschätzen.

Die Geschichte hat es aber nicht mit der
Masse als solcher zu tun, sondern mit ihrer
Ausprägung als Volk oder Nation. Bei der
großen Wertschätzung, die heutzutage der
Begriff "Nation" trotz seiner Unbestimmtheit
hat, tut mau gut daran mit Lindner anzu¬
erkennen, daß sowohl die heutigen Nationen
wie auch die "nationale Idee" historisch ge¬
worden und dem allgemeinen Entwicklungs¬
gesetz unterworfen sind, daß die großen Kultur-
zusnmmenhänge über sie hinausgehen. Weit
größere Bedeutung haben für den ganzen
Verlauf der Geschichte nach Lindner die
drei großen Rassen oder Völkergruppen ge¬
habt, wegen ihres verschiedenen Verhältnisses
zu den großen gcschichtsbildcnden Gewalten: die
Mongolen sind Massenmenschen mit geringem
Anpassungsvermögen, Verehrung für den
Staatsverband religiöser Gleichgültigkeit und
starker Beharrung; die Semiten sind in-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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von Assisi und die Anfänge der Kunst in
Italien" (1885); man entdeckte in dem an¬
geblich so gleichförmigen, so „gebundenen"
Mittelalter Persönlichkeiten von höchster In¬
dividualität und geistiger Selbständigkeit; ja
man hat mehrere „Vorrenaissancen" mit all
ihren Begleiterscheinungen, von der karolin-
zischen an, im Mittelalter festgestellt, ander¬
seits zeigt Lindner, daß erst die auf die
Renaissance folgende Periode der Staats¬
allgewalt eine dem Mittelalter unbekannte
Gebundenheit des Individuums an den ab¬
soluten Staat mit sich gebracht habe. So
scheint der Individualismus überhaupt nicht,
wie Lamprecht will, eine Entwicklungsstufe
zu sein, sondern eine allgemein mensch¬
liche Eigenschaft: der Selbsterhaltungstrieb
des einzelnen gegenüber der Gesamtheit; hier
beginnt nun Lindner eigene, Positive Ge¬
danken über die geschichtliche Entwicklung an
Stelle der widerlegten Lamprechtschen mit¬
zuteilen, die empirisch aus der Arbeit an
seiner „Weltgeschichte" erwachsen, allgemeine
Geltung beanspruchen dürfen und in ihrer
schlichten und klaren Form auch dem Laien
die Probleme des geschichtlichen Werdens ver¬
ständlich machen.

Zwei große Gewalten sind es, deren ge¬
meinsames Wirken die menschliche Geschichte
beherrscht: das „Prinzip der Beharrung"
und das „Prinzip der Veränderung"; treten
in einer unter normalen Bedingungen sich
entwickelnden menschlichen Gemeinschaft ein
Bedmfnis Psychischer oder physischer Natur
auf, so wird dieses, sobald es ins Bewußt¬
sein tritt, zur Idee. Die Idee muß nun
ihre Lebenskraft im Kampf mit der Behar¬
rung, den bestehenden Zuständen, beweisen,
sie muß sich den Verhältnissen anpassen, um
endlich ihr Ziel zu erreichen; ist dies aber
erfüllt, so regen sich neue Kräfte, neue Be¬
dürfnisse, die als Ideen von einer neuen Zeit
aufgenommen werden und an die Stelle der
früheren treten. Aber um wirklich Idee zu
werden, muß der Gedanke ins Bewußtsein
der „Masse" übergehen, die in Ruhe die
Trägerin der Beharrung, der langsamen,
geschichtlichen Entwicklung ist, wenn sie aber
aus dieser ruhigen Existenz sich erhebt,
den von außen kommenden Anstoß mit immer
wachsender Gewalt fortzupflanzen vermag.

[Spaltenumbruch]

Wie verhält sich aber der einzelne zu dem
geschichtlichen Wirken der Massen, da doch
die „Heroistische", auch heut noch weit ver¬
breitete Auffassung, nur dem großen Indi¬
viduum einen Einfluß auf die Geschichte
zugesteht? Sind durch die Anerkennung
der kollektivistischen Geschichtsanschauung die
Leistungen der „großen Männer" so im Wert
gesunken, daß die Entwicklung sich auch ohne
sie vollenden würde, daß sie für den Ge¬
schichtsverlauf entbehrlich wären? Erst durch
die individuelle Prägung, die eine große histo¬
rische Persönlichkeit der „Idee" ihrer Zeit gibt,
kann sie Verwirklichung finden, und erst durch
die Übertragung in die Wirklichkeit wird die
Idee ihre Lebenskraft beweisen, und diese
Übertragung in die Wirklichkeit ist letzten
Endes immer eine individuelle Handlung.
Hingegen ist aber die Masse nicht allein als
Trägerin der Idee historisch wirksam; sie
bietet dem Individuum nicht bloß die Auf¬
gaben und den Stoff zur Ausführung seiner
Taten, sie wirkt auch durch tausend Einflüsse
der Umwelt, des „Milieus" auf jenes ein, und
in diesem Sinne mag auch der Satz, daß
jede Zeit ihren Mann hervorbringe, seine
Richtigkeit haben. Durch eine Synthese aus
der kollektivistischen und Hervistischen Ge¬
schichtsauffassung vermag der moderne Historiker
erst den Anteil beider Elemente an der Ent¬
wicklung gerecht abzuschätzen.

Die Geschichte hat es aber nicht mit der
Masse als solcher zu tun, sondern mit ihrer
Ausprägung als Volk oder Nation. Bei der
großen Wertschätzung, die heutzutage der
Begriff „Nation" trotz seiner Unbestimmtheit
hat, tut mau gut daran mit Lindner anzu¬
erkennen, daß sowohl die heutigen Nationen
wie auch die „nationale Idee" historisch ge¬
worden und dem allgemeinen Entwicklungs¬
gesetz unterworfen sind, daß die großen Kultur-
zusnmmenhänge über sie hinausgehen. Weit
größere Bedeutung haben für den ganzen
Verlauf der Geschichte nach Lindner die
drei großen Rassen oder Völkergruppen ge¬
habt, wegen ihres verschiedenen Verhältnisses
zu den großen gcschichtsbildcnden Gewalten: die
Mongolen sind Massenmenschen mit geringem
Anpassungsvermögen, Verehrung für den
Staatsverband religiöser Gleichgültigkeit und
starker Beharrung; die Semiten sind in-

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[0302] Maßgebliches und Unmaßgebliches von Assisi und die Anfänge der Kunst in Italien" (1885); man entdeckte in dem an¬ geblich so gleichförmigen, so „gebundenen" Mittelalter Persönlichkeiten von höchster In¬ dividualität und geistiger Selbständigkeit; ja man hat mehrere „Vorrenaissancen" mit all ihren Begleiterscheinungen, von der karolin- zischen an, im Mittelalter festgestellt, ander¬ seits zeigt Lindner, daß erst die auf die Renaissance folgende Periode der Staats¬ allgewalt eine dem Mittelalter unbekannte Gebundenheit des Individuums an den ab¬ soluten Staat mit sich gebracht habe. So scheint der Individualismus überhaupt nicht, wie Lamprecht will, eine Entwicklungsstufe zu sein, sondern eine allgemein mensch¬ liche Eigenschaft: der Selbsterhaltungstrieb des einzelnen gegenüber der Gesamtheit; hier beginnt nun Lindner eigene, Positive Ge¬ danken über die geschichtliche Entwicklung an Stelle der widerlegten Lamprechtschen mit¬ zuteilen, die empirisch aus der Arbeit an seiner „Weltgeschichte" erwachsen, allgemeine Geltung beanspruchen dürfen und in ihrer schlichten und klaren Form auch dem Laien die Probleme des geschichtlichen Werdens ver¬ ständlich machen. Zwei große Gewalten sind es, deren ge¬ meinsames Wirken die menschliche Geschichte beherrscht: das „Prinzip der Beharrung" und das „Prinzip der Veränderung"; treten in einer unter normalen Bedingungen sich entwickelnden menschlichen Gemeinschaft ein Bedmfnis Psychischer oder physischer Natur auf, so wird dieses, sobald es ins Bewußt¬ sein tritt, zur Idee. Die Idee muß nun ihre Lebenskraft im Kampf mit der Behar¬ rung, den bestehenden Zuständen, beweisen, sie muß sich den Verhältnissen anpassen, um endlich ihr Ziel zu erreichen; ist dies aber erfüllt, so regen sich neue Kräfte, neue Be¬ dürfnisse, die als Ideen von einer neuen Zeit aufgenommen werden und an die Stelle der früheren treten. Aber um wirklich Idee zu werden, muß der Gedanke ins Bewußtsein der „Masse" übergehen, die in Ruhe die Trägerin der Beharrung, der langsamen, geschichtlichen Entwicklung ist, wenn sie aber aus dieser ruhigen Existenz sich erhebt, den von außen kommenden Anstoß mit immer wachsender Gewalt fortzupflanzen vermag. Wie verhält sich aber der einzelne zu dem geschichtlichen Wirken der Massen, da doch die „Heroistische", auch heut noch weit ver¬ breitete Auffassung, nur dem großen Indi¬ viduum einen Einfluß auf die Geschichte zugesteht? Sind durch die Anerkennung der kollektivistischen Geschichtsanschauung die Leistungen der „großen Männer" so im Wert gesunken, daß die Entwicklung sich auch ohne sie vollenden würde, daß sie für den Ge¬ schichtsverlauf entbehrlich wären? Erst durch die individuelle Prägung, die eine große histo¬ rische Persönlichkeit der „Idee" ihrer Zeit gibt, kann sie Verwirklichung finden, und erst durch die Übertragung in die Wirklichkeit wird die Idee ihre Lebenskraft beweisen, und diese Übertragung in die Wirklichkeit ist letzten Endes immer eine individuelle Handlung. Hingegen ist aber die Masse nicht allein als Trägerin der Idee historisch wirksam; sie bietet dem Individuum nicht bloß die Auf¬ gaben und den Stoff zur Ausführung seiner Taten, sie wirkt auch durch tausend Einflüsse der Umwelt, des „Milieus" auf jenes ein, und in diesem Sinne mag auch der Satz, daß jede Zeit ihren Mann hervorbringe, seine Richtigkeit haben. Durch eine Synthese aus der kollektivistischen und Hervistischen Ge¬ schichtsauffassung vermag der moderne Historiker erst den Anteil beider Elemente an der Ent¬ wicklung gerecht abzuschätzen. Die Geschichte hat es aber nicht mit der Masse als solcher zu tun, sondern mit ihrer Ausprägung als Volk oder Nation. Bei der großen Wertschätzung, die heutzutage der Begriff „Nation" trotz seiner Unbestimmtheit hat, tut mau gut daran mit Lindner anzu¬ erkennen, daß sowohl die heutigen Nationen wie auch die „nationale Idee" historisch ge¬ worden und dem allgemeinen Entwicklungs¬ gesetz unterworfen sind, daß die großen Kultur- zusnmmenhänge über sie hinausgehen. Weit größere Bedeutung haben für den ganzen Verlauf der Geschichte nach Lindner die drei großen Rassen oder Völkergruppen ge¬ habt, wegen ihres verschiedenen Verhältnisses zu den großen gcschichtsbildcnden Gewalten: die Mongolen sind Massenmenschen mit geringem Anpassungsvermögen, Verehrung für den Staatsverband religiöser Gleichgültigkeit und starker Beharrung; die Semiten sind in-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/302>, abgerufen am 29.06.2024.