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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Vincent van Gogh

Was aus Goghs Bildern und Zeichnungen spricht: Arbeit, Mühe und Ringen
und unablässiges Denken in dieser Arbeit -- das spricht auch aus seinen
Briefen. Und er geht seinen eigenen Weg. Er bewundert die alten Großen
und die neuen, wie Corot, Manet, Gaugin, Delacroix --, aber er geht neben
ihnen seinen eigenen Weg.

Zeitlich steht van Gogh da, wo die Kunst keinerlei kollektive Aufgaben
mehr findet, wo sie vergeblich auf Aufgaben wartet, etwa daß ein Volk sie um
Formen für einen beherrschenden Inhalt beauftragte; denn dies "Volk" ist ge¬
spalten in Klassen, Individuen, Moden, Zeitvertreib, Tagwerk und Mühsal
aller Art. -- Die Kunst malt jetzt alles und allerlei, darunter vieles, das
einzelnen Gruppen entspricht. Machte sie sonst 'aus Teilen, aus Einzelheiten
ein Ganzes, ein Gemälde, so ist jetzt der Teil schon Gemälde; sie wird subjektiv
im absolutesten Sinne; sie produziert anarchistisch alles, gleichgültig, ob es
Gefühlsbedürfnis ist; sie produziert wie für den Markt. Dazu kommt das
Tempo der Zeit, die alles dies zu einer notwendig beschleunigten Technik treibt.
Wir haben keine Vorbereitung und Muße mehr für Betrachtung und Genuß,
für Erlebnis. Wir nehmen, erHaschen und halten das Erlebnis fest, wie und
wo es kommt (Impressionismus). Wir müssen darum auch den unmittelbaren
Ausdruck, die unmittelbare Form für unser Erlebnis finden, in Sprache, in
bildender Kunst (wie in der Technik der bloßen Mitteilung: Telegraph). So
entsteht der Impressionismus als Stil. Er schafft in sich allmählich Voll¬
kommenes; er erfindet Zeichen, die vermitteln; er wird in seiner reinsten Kraft,
wie etwa bei Gogh ein umspannender Aphorismus. So wurde der sogenannte
Impressionismus eine selbstverständliche, tiefer begründete Zeiterscheinung, nicht
die Laune einer Malergruppe. In diesem Sinne ist van Gogh Impressionist.
Die Zeittendenz entspricht seiner besonders heftigen, rasenden und konzentrierter
Empfindung, seinem Temperament. Er weiß nicht, ob man ihn einen Im¬
pressionisten noch nennen kann, denn er ist es naturnotwendig und es steht in
ihm nicht still. Jedes neue Ziel stellt ihm neue, ferste Aufgaben, fordert seine
ganze Persönlichkeit als Mensch und Künstler gleichsam heraus. Er ist durch¬
aus das Genie, "das viel mehr weiß, als es weiß, daß es weiß". Überblickt
man von daher den Reichtum seiner malerischen Beziehungen, so begreift man
einmal, daß hier eine Riesenarbeit geleistet wurde, eine, die notwendig eine
große physische Widerstandskraft erforderte, und daneben scheint es, -- als ob
es auf die Dauer keine malerische Aufgabe gab, die seiner Zähigkeit nicht ge¬
lungen wäre. Dies große, einsame Leben hatte seine Beschränkungen bitterster
Art. Es begreift sich, daß man keine Akte und wenig Figurenbilder von ihm
besitzt; er hatte kein Geld, Modelle zu bezahlen. Was aber in der Natur und
Welt für ihn erreichbar war. das ging durch seine Kunst gleichsam wie durch
ein grandioses, manchmal langes und heftiges Feuer zur Klarheit. Dann
stehen wir vor Zeichnungen und Bildern, wir sehen hundert Einzeldinge,
technische, malerische, stoffliche -- ohne den letzten Zauber ergründen und ent"


Vincent van Gogh

Was aus Goghs Bildern und Zeichnungen spricht: Arbeit, Mühe und Ringen
und unablässiges Denken in dieser Arbeit — das spricht auch aus seinen
Briefen. Und er geht seinen eigenen Weg. Er bewundert die alten Großen
und die neuen, wie Corot, Manet, Gaugin, Delacroix —, aber er geht neben
ihnen seinen eigenen Weg.

Zeitlich steht van Gogh da, wo die Kunst keinerlei kollektive Aufgaben
mehr findet, wo sie vergeblich auf Aufgaben wartet, etwa daß ein Volk sie um
Formen für einen beherrschenden Inhalt beauftragte; denn dies „Volk" ist ge¬
spalten in Klassen, Individuen, Moden, Zeitvertreib, Tagwerk und Mühsal
aller Art. — Die Kunst malt jetzt alles und allerlei, darunter vieles, das
einzelnen Gruppen entspricht. Machte sie sonst 'aus Teilen, aus Einzelheiten
ein Ganzes, ein Gemälde, so ist jetzt der Teil schon Gemälde; sie wird subjektiv
im absolutesten Sinne; sie produziert anarchistisch alles, gleichgültig, ob es
Gefühlsbedürfnis ist; sie produziert wie für den Markt. Dazu kommt das
Tempo der Zeit, die alles dies zu einer notwendig beschleunigten Technik treibt.
Wir haben keine Vorbereitung und Muße mehr für Betrachtung und Genuß,
für Erlebnis. Wir nehmen, erHaschen und halten das Erlebnis fest, wie und
wo es kommt (Impressionismus). Wir müssen darum auch den unmittelbaren
Ausdruck, die unmittelbare Form für unser Erlebnis finden, in Sprache, in
bildender Kunst (wie in der Technik der bloßen Mitteilung: Telegraph). So
entsteht der Impressionismus als Stil. Er schafft in sich allmählich Voll¬
kommenes; er erfindet Zeichen, die vermitteln; er wird in seiner reinsten Kraft,
wie etwa bei Gogh ein umspannender Aphorismus. So wurde der sogenannte
Impressionismus eine selbstverständliche, tiefer begründete Zeiterscheinung, nicht
die Laune einer Malergruppe. In diesem Sinne ist van Gogh Impressionist.
Die Zeittendenz entspricht seiner besonders heftigen, rasenden und konzentrierter
Empfindung, seinem Temperament. Er weiß nicht, ob man ihn einen Im¬
pressionisten noch nennen kann, denn er ist es naturnotwendig und es steht in
ihm nicht still. Jedes neue Ziel stellt ihm neue, ferste Aufgaben, fordert seine
ganze Persönlichkeit als Mensch und Künstler gleichsam heraus. Er ist durch¬
aus das Genie, „das viel mehr weiß, als es weiß, daß es weiß". Überblickt
man von daher den Reichtum seiner malerischen Beziehungen, so begreift man
einmal, daß hier eine Riesenarbeit geleistet wurde, eine, die notwendig eine
große physische Widerstandskraft erforderte, und daneben scheint es, — als ob
es auf die Dauer keine malerische Aufgabe gab, die seiner Zähigkeit nicht ge¬
lungen wäre. Dies große, einsame Leben hatte seine Beschränkungen bitterster
Art. Es begreift sich, daß man keine Akte und wenig Figurenbilder von ihm
besitzt; er hatte kein Geld, Modelle zu bezahlen. Was aber in der Natur und
Welt für ihn erreichbar war. das ging durch seine Kunst gleichsam wie durch
ein grandioses, manchmal langes und heftiges Feuer zur Klarheit. Dann
stehen wir vor Zeichnungen und Bildern, wir sehen hundert Einzeldinge,
technische, malerische, stoffliche — ohne den letzten Zauber ergründen und ent»


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[0251] Vincent van Gogh Was aus Goghs Bildern und Zeichnungen spricht: Arbeit, Mühe und Ringen und unablässiges Denken in dieser Arbeit — das spricht auch aus seinen Briefen. Und er geht seinen eigenen Weg. Er bewundert die alten Großen und die neuen, wie Corot, Manet, Gaugin, Delacroix —, aber er geht neben ihnen seinen eigenen Weg. Zeitlich steht van Gogh da, wo die Kunst keinerlei kollektive Aufgaben mehr findet, wo sie vergeblich auf Aufgaben wartet, etwa daß ein Volk sie um Formen für einen beherrschenden Inhalt beauftragte; denn dies „Volk" ist ge¬ spalten in Klassen, Individuen, Moden, Zeitvertreib, Tagwerk und Mühsal aller Art. — Die Kunst malt jetzt alles und allerlei, darunter vieles, das einzelnen Gruppen entspricht. Machte sie sonst 'aus Teilen, aus Einzelheiten ein Ganzes, ein Gemälde, so ist jetzt der Teil schon Gemälde; sie wird subjektiv im absolutesten Sinne; sie produziert anarchistisch alles, gleichgültig, ob es Gefühlsbedürfnis ist; sie produziert wie für den Markt. Dazu kommt das Tempo der Zeit, die alles dies zu einer notwendig beschleunigten Technik treibt. Wir haben keine Vorbereitung und Muße mehr für Betrachtung und Genuß, für Erlebnis. Wir nehmen, erHaschen und halten das Erlebnis fest, wie und wo es kommt (Impressionismus). Wir müssen darum auch den unmittelbaren Ausdruck, die unmittelbare Form für unser Erlebnis finden, in Sprache, in bildender Kunst (wie in der Technik der bloßen Mitteilung: Telegraph). So entsteht der Impressionismus als Stil. Er schafft in sich allmählich Voll¬ kommenes; er erfindet Zeichen, die vermitteln; er wird in seiner reinsten Kraft, wie etwa bei Gogh ein umspannender Aphorismus. So wurde der sogenannte Impressionismus eine selbstverständliche, tiefer begründete Zeiterscheinung, nicht die Laune einer Malergruppe. In diesem Sinne ist van Gogh Impressionist. Die Zeittendenz entspricht seiner besonders heftigen, rasenden und konzentrierter Empfindung, seinem Temperament. Er weiß nicht, ob man ihn einen Im¬ pressionisten noch nennen kann, denn er ist es naturnotwendig und es steht in ihm nicht still. Jedes neue Ziel stellt ihm neue, ferste Aufgaben, fordert seine ganze Persönlichkeit als Mensch und Künstler gleichsam heraus. Er ist durch¬ aus das Genie, „das viel mehr weiß, als es weiß, daß es weiß". Überblickt man von daher den Reichtum seiner malerischen Beziehungen, so begreift man einmal, daß hier eine Riesenarbeit geleistet wurde, eine, die notwendig eine große physische Widerstandskraft erforderte, und daneben scheint es, — als ob es auf die Dauer keine malerische Aufgabe gab, die seiner Zähigkeit nicht ge¬ lungen wäre. Dies große, einsame Leben hatte seine Beschränkungen bitterster Art. Es begreift sich, daß man keine Akte und wenig Figurenbilder von ihm besitzt; er hatte kein Geld, Modelle zu bezahlen. Was aber in der Natur und Welt für ihn erreichbar war. das ging durch seine Kunst gleichsam wie durch ein grandioses, manchmal langes und heftiges Feuer zur Klarheit. Dann stehen wir vor Zeichnungen und Bildern, wir sehen hundert Einzeldinge, technische, malerische, stoffliche — ohne den letzten Zauber ergründen und ent»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/251>, abgerufen am 22.07.2024.