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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Londoner Brief

Dafür beginnt sich in anderer Hinsicht die Lage zu klären. Am 15. Januar
ist das große soziale Werk des Schatzkanzlers Lloyd George, der der populärste
und zugleich gehaßteste Staatsmann Englands ist, in Kraft getreten. Seine
Versicherungsgesetzgebung mußte sich die herbste Kritik gefallen lassen, sie bildete
den Trumpf der Unionisten bei allen Nachwahlen, während man die Tarif¬
reformfrage sorgfältig vermied. Auch in Deutschland wurde über die Klebe¬
gesetze bei deren Einführung wacker geschimpft. Der Engländer ist aber noch
viel mehr daran gewöhnt, Herr im Hause zu sein, und diese Eingriffe in das
tägliche Leben mußten als etwas Unerhörtes empfunden werden. Für die
Agitation gegen die "lielcin^ stamps" waren die letzten sechs Monate eine
besonders günstige Zeit, denn wenn auch das Markenlecken nur von den Arbeit¬
gebern verlangt wird, so hatten die Versicherten zwar während dieses halben
Jahres schon zu bezahlen, bekamen aber noch keine Prämien. Aber schon in
diesen Tagen, wo die ersten Aufzählungen erfolgen, kann man einen Umschwung
bemerken. Mit einem abrupten Frontwechsel, der in der englischen Presse nicht
ganz selten ist, hat sich eine Anzahl Monistischer Organe kurzerhand entschlossen,
das anzubeten, was sie gestern verbrennen wollte. Vielleicht erleben wir bald,
daß die Unionisten sich als die eigentlichen Urheber des Gesetzes vorstellen
werden. In praktischer Beziehung wird man auch in England noch manche
Erfahrungen machen müssen. Von wesentlicher Bedeutung ist, daß der Wider¬
stand der Ärzte gebrochen ist. Obwohl die British Medical Association trotz
erheblicher Zugeständnisse der Regierung ihren Protest bis zuletzt aufrecht¬
erhalten hat, hat sich bis zu dem letzten Termin die unbedingt notwendige
Anzahl arbeitswilliger Kassenärzte zur Verfügung gestellt.

Während der Streit um das Versicherungsgesetz im Lande tobte, wurde
die parlamentarische Behandlung der Homerule-Bill und der Welsh Disesta-
blishment-Bill sehr ruhig, nüchtern und geschäftsmäßig erledigt. Zwar ereignete
sich ein für die Regierung bedenklicher Zwischenfall, als bei einer ganz neben¬
sächlichen Frage die auffällig schwach vertretenen Anhänger der Regierung von
der Opposition überstimmt wurden. Die Regierung kam zwar über diese
"8NÄp 6loi8ion" mit einem Zeitverlust von vierzehn Tagen hinweg, allein es
ist mit solch einer srmp ciivi8ion wie mit einem Schlaganfall, er kann wieder
kommen und dann tödlich sein. In den Augen der öffentlichen Meinung bedeutet
so ein Vorgang eine gründliche Blamage, die eine Regierung ein zweites Mal
nicht gut überstehen kann. Während dieser Parlamentssession gab sich die
Opposition alle Mühe, das Land zu ausdrucksvollen Protesten gegen die
Regierungspolitik zu gewinnen. Es gelang ihr aber nicht, die verhältnismäßige
Apathie gegen die Vorgänge im Parlament zu überwinden und die Volks¬
stimmung in dem Maße zu ihren Gunsten einzunehmen. Wer sich überhaupt
für Politik interessierte, dem waren der Krieg und die in London lagerten
internationalen Konferenzen viel wichtiger. Und dann waren die "Springboks"
da, das heißt die südafrikanische Fußballmannschaft, die der Reihe nach alle


Londoner Brief

Dafür beginnt sich in anderer Hinsicht die Lage zu klären. Am 15. Januar
ist das große soziale Werk des Schatzkanzlers Lloyd George, der der populärste
und zugleich gehaßteste Staatsmann Englands ist, in Kraft getreten. Seine
Versicherungsgesetzgebung mußte sich die herbste Kritik gefallen lassen, sie bildete
den Trumpf der Unionisten bei allen Nachwahlen, während man die Tarif¬
reformfrage sorgfältig vermied. Auch in Deutschland wurde über die Klebe¬
gesetze bei deren Einführung wacker geschimpft. Der Engländer ist aber noch
viel mehr daran gewöhnt, Herr im Hause zu sein, und diese Eingriffe in das
tägliche Leben mußten als etwas Unerhörtes empfunden werden. Für die
Agitation gegen die „lielcin^ stamps" waren die letzten sechs Monate eine
besonders günstige Zeit, denn wenn auch das Markenlecken nur von den Arbeit¬
gebern verlangt wird, so hatten die Versicherten zwar während dieses halben
Jahres schon zu bezahlen, bekamen aber noch keine Prämien. Aber schon in
diesen Tagen, wo die ersten Aufzählungen erfolgen, kann man einen Umschwung
bemerken. Mit einem abrupten Frontwechsel, der in der englischen Presse nicht
ganz selten ist, hat sich eine Anzahl Monistischer Organe kurzerhand entschlossen,
das anzubeten, was sie gestern verbrennen wollte. Vielleicht erleben wir bald,
daß die Unionisten sich als die eigentlichen Urheber des Gesetzes vorstellen
werden. In praktischer Beziehung wird man auch in England noch manche
Erfahrungen machen müssen. Von wesentlicher Bedeutung ist, daß der Wider¬
stand der Ärzte gebrochen ist. Obwohl die British Medical Association trotz
erheblicher Zugeständnisse der Regierung ihren Protest bis zuletzt aufrecht¬
erhalten hat, hat sich bis zu dem letzten Termin die unbedingt notwendige
Anzahl arbeitswilliger Kassenärzte zur Verfügung gestellt.

Während der Streit um das Versicherungsgesetz im Lande tobte, wurde
die parlamentarische Behandlung der Homerule-Bill und der Welsh Disesta-
blishment-Bill sehr ruhig, nüchtern und geschäftsmäßig erledigt. Zwar ereignete
sich ein für die Regierung bedenklicher Zwischenfall, als bei einer ganz neben¬
sächlichen Frage die auffällig schwach vertretenen Anhänger der Regierung von
der Opposition überstimmt wurden. Die Regierung kam zwar über diese
„8NÄp 6loi8ion" mit einem Zeitverlust von vierzehn Tagen hinweg, allein es
ist mit solch einer srmp ciivi8ion wie mit einem Schlaganfall, er kann wieder
kommen und dann tödlich sein. In den Augen der öffentlichen Meinung bedeutet
so ein Vorgang eine gründliche Blamage, die eine Regierung ein zweites Mal
nicht gut überstehen kann. Während dieser Parlamentssession gab sich die
Opposition alle Mühe, das Land zu ausdrucksvollen Protesten gegen die
Regierungspolitik zu gewinnen. Es gelang ihr aber nicht, die verhältnismäßige
Apathie gegen die Vorgänge im Parlament zu überwinden und die Volks¬
stimmung in dem Maße zu ihren Gunsten einzunehmen. Wer sich überhaupt
für Politik interessierte, dem waren der Krieg und die in London lagerten
internationalen Konferenzen viel wichtiger. Und dann waren die „Springboks"
da, das heißt die südafrikanische Fußballmannschaft, die der Reihe nach alle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/214>, abgerufen am 22.07.2024.