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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

richtiger aus jenem Sinn seines Lebens, den
ihm Bouvier unterlegt.

Den großen Kampf zwischen Rationalis¬
mus und Irrationalismus, der dem aus¬
gehenden achtzehnten Jahrhundert Inhalt,
dem angehenden neunzehnten Jahrhundert
Richtung gegeben, sehen wir hier, sich am
einzelnen Gedanken und Gefühlsobjekt ent¬
zünden und emporflammen; wir sehen ihn
auch, vielleicht etwas zu ausschließlich, aber
mit ebensoviel Pragmatischer Verläßlichkeit,
wie hinreißender Schönheit und zwingender
Gewalt der logischen und sprachlichen Dar¬
stellung auf den Genfer Philosophen als Ur¬
sprung zurückgeführt. Jean Jacques selber
aber erscheint Schritt für Schritt anschau¬
licher, hebt sich scharf ab von: Hintergrund
seiner Zeit. Das intellektuelle Frankreich des
achtzehnten Jahrhunderts, der heimische Stadt¬
staat und sein Patrizmt, liegen wie offene
Bücher vor dem tiefdringenden historischen
Blick Bernard Bouviers. Er hat diese Atmo¬
sphäre mit vollen Lungen geatmet. Wie das
Gefühlselement durch harte Kämpfe in der
welthistorischen Persönlichkeit Rousseaus zur
Herrschaft gelangt, wie er das Irrationale,
das Persönliche, das Gottgeborene des freien
Menschen in sich zur Herrschaft führt und aus¬
strahlt über einen alternden, durch Schranken
und Schranzen eingeengten Weltteil, das zeigt
uns Bouvier in aufsteigender Linie vom Di-
joner discours über die Nouvelle Heloise,
Confessions und Contrat Sociale bis zu den
Reveries, vom Mme de Warans, über Therese
zur Gräfin Houdetot.

Die Genfer sind das sreiheits- und selb-
ständigkeitsdürstigste Volk der Schweiz, --
wenn diesbezüglich ein Komperativ und ein
Superlativ innerhalb der eidgenössischen Völker
überhaupt noch denkbar ist. Kämpfernaturen
aus dem innersten, durch den welthistorischen
Gang der Dinge dennoch ferngehalten von
der männermordenden Schlacht, haben sich
ihre Aristokraten seit Jahrhundorten dem
Geisteskampf mit Unerschrockenheit ergeben,
sie sind -- trotz Calvin! -- die natürlichen
Verkünder und Beschützer jeder verfolgten
Wahrheit geblieben. In diesem Sinne muß
man in Bouvier einen hervorragenden Typus
seiner Rasse sehen. Eine Kämpfernatur auch
er, führt seine Hand mit überlegener Eleganz

[Spaltenumbruch]

eine schwere Klinge. Die Unerschrockenheit
seines Gedankenganges, die calvinistische
Strenge seines Urteils, die unbeirrt ethische
Orientierung seiner tiefreligiösen Natur, son¬
dern ihn ab, er steht allein, wie die Genfer
es haben wollen, wie sie es kraft ihres Volks-
tums wollen müssen. Ein natürliches Recht
zum Amte des Schiedsrichters im geistigen
Kampfe der beiden großen Völker steht ihnen
daher zu und Bouvier hat sein ererbtes
Anrecht durch seine Persönliche Welt- und
Lebenskenntnis, seine ausgreifende Gelehr¬
samkeit und seine vornehme Unbefangenheit
bedeutend erhöht. Man muß den starren,
unversöhnlichen Uberlieferungsglauben der
Franzosen kennen, um den Mut zu er¬
messen, den die unbedingte Verurteilung jeg¬
licher Rhetorik in der Poesie erfordert,
"l^'nomme, tut-it 6e ^mie, qui ne voit
pas an acta ach limites ein bon sens et
cle is raison, cet iromme-Ja a une vue
bornee. II eonnsit mal la vie. IZerivain,
it appÄUvrit l'art. poete, it clesseoke la
poesie. II peut juZer psrksitement clef
cnoses presentes, immeclistes; it peut con-
server; it peut concevoir et provoquer cle
oetites retormes. Hlsis les Zrancls courants
cle la vie universelle lui eeliappent, comme
les prokoncleurs obscures cle la vie incli-
vicluelle." (S. 234.)

Was aber die Adresse östlich der Vogesen
anbelangt, so ist der ganze Bouvier, der allen
Wissensstoff ausschließlich als Mittel zum Zweck
gebraucht, um das Erleben Rousseaus zur
eigenen Erfahrung umzuwandeln, umzu-
zaubern, ein unausgesprochener, aber flammen¬
der Protest gegen die wuchernde Mittelmäßig¬
keit, gegen die systematische Bevorzugung des
Unpersönlichen, des Grauen, sogenannten Ob¬
jektiven, "Historischen" und wie die Namen
alle heißen, die unsere heutige deutsche Lite¬
raturforschung kennzeichnen. Ein Protest, der
gehört zu werden verdient.


Das Buch Alexander Castells"1 führt uns
nur sprachlich in die deutsche Schweiz zurück.

"Ich habe die sonderbare Vorstellung, daß

[Ende Spaltensatz]
*) Alexander Castell: "Bernards Ber-
suchung." Roman. Albert Langen, München.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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richtiger aus jenem Sinn seines Lebens, den
ihm Bouvier unterlegt.

Den großen Kampf zwischen Rationalis¬
mus und Irrationalismus, der dem aus¬
gehenden achtzehnten Jahrhundert Inhalt,
dem angehenden neunzehnten Jahrhundert
Richtung gegeben, sehen wir hier, sich am
einzelnen Gedanken und Gefühlsobjekt ent¬
zünden und emporflammen; wir sehen ihn
auch, vielleicht etwas zu ausschließlich, aber
mit ebensoviel Pragmatischer Verläßlichkeit,
wie hinreißender Schönheit und zwingender
Gewalt der logischen und sprachlichen Dar¬
stellung auf den Genfer Philosophen als Ur¬
sprung zurückgeführt. Jean Jacques selber
aber erscheint Schritt für Schritt anschau¬
licher, hebt sich scharf ab von: Hintergrund
seiner Zeit. Das intellektuelle Frankreich des
achtzehnten Jahrhunderts, der heimische Stadt¬
staat und sein Patrizmt, liegen wie offene
Bücher vor dem tiefdringenden historischen
Blick Bernard Bouviers. Er hat diese Atmo¬
sphäre mit vollen Lungen geatmet. Wie das
Gefühlselement durch harte Kämpfe in der
welthistorischen Persönlichkeit Rousseaus zur
Herrschaft gelangt, wie er das Irrationale,
das Persönliche, das Gottgeborene des freien
Menschen in sich zur Herrschaft führt und aus¬
strahlt über einen alternden, durch Schranken
und Schranzen eingeengten Weltteil, das zeigt
uns Bouvier in aufsteigender Linie vom Di-
joner discours über die Nouvelle Heloise,
Confessions und Contrat Sociale bis zu den
Reveries, vom Mme de Warans, über Therese
zur Gräfin Houdetot.

Die Genfer sind das sreiheits- und selb-
ständigkeitsdürstigste Volk der Schweiz, —
wenn diesbezüglich ein Komperativ und ein
Superlativ innerhalb der eidgenössischen Völker
überhaupt noch denkbar ist. Kämpfernaturen
aus dem innersten, durch den welthistorischen
Gang der Dinge dennoch ferngehalten von
der männermordenden Schlacht, haben sich
ihre Aristokraten seit Jahrhundorten dem
Geisteskampf mit Unerschrockenheit ergeben,
sie sind — trotz Calvin! — die natürlichen
Verkünder und Beschützer jeder verfolgten
Wahrheit geblieben. In diesem Sinne muß
man in Bouvier einen hervorragenden Typus
seiner Rasse sehen. Eine Kämpfernatur auch
er, führt seine Hand mit überlegener Eleganz

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eine schwere Klinge. Die Unerschrockenheit
seines Gedankenganges, die calvinistische
Strenge seines Urteils, die unbeirrt ethische
Orientierung seiner tiefreligiösen Natur, son¬
dern ihn ab, er steht allein, wie die Genfer
es haben wollen, wie sie es kraft ihres Volks-
tums wollen müssen. Ein natürliches Recht
zum Amte des Schiedsrichters im geistigen
Kampfe der beiden großen Völker steht ihnen
daher zu und Bouvier hat sein ererbtes
Anrecht durch seine Persönliche Welt- und
Lebenskenntnis, seine ausgreifende Gelehr¬
samkeit und seine vornehme Unbefangenheit
bedeutend erhöht. Man muß den starren,
unversöhnlichen Uberlieferungsglauben der
Franzosen kennen, um den Mut zu er¬
messen, den die unbedingte Verurteilung jeg¬
licher Rhetorik in der Poesie erfordert,
„l^'nomme, tut-it 6e ^mie, qui ne voit
pas an acta ach limites ein bon sens et
cle is raison, cet iromme-Ja a une vue
bornee. II eonnsit mal la vie. IZerivain,
it appÄUvrit l'art. poete, it clesseoke la
poesie. II peut juZer psrksitement clef
cnoses presentes, immeclistes; it peut con-
server; it peut concevoir et provoquer cle
oetites retormes. Hlsis les Zrancls courants
cle la vie universelle lui eeliappent, comme
les prokoncleurs obscures cle la vie incli-
vicluelle." (S. 234.)

Was aber die Adresse östlich der Vogesen
anbelangt, so ist der ganze Bouvier, der allen
Wissensstoff ausschließlich als Mittel zum Zweck
gebraucht, um das Erleben Rousseaus zur
eigenen Erfahrung umzuwandeln, umzu-
zaubern, ein unausgesprochener, aber flammen¬
der Protest gegen die wuchernde Mittelmäßig¬
keit, gegen die systematische Bevorzugung des
Unpersönlichen, des Grauen, sogenannten Ob¬
jektiven, „Historischen" und wie die Namen
alle heißen, die unsere heutige deutsche Lite¬
raturforschung kennzeichnen. Ein Protest, der
gehört zu werden verdient.


Das Buch Alexander Castells"1 führt uns
nur sprachlich in die deutsche Schweiz zurück.

„Ich habe die sonderbare Vorstellung, daß

[Ende Spaltensatz]
*) Alexander Castell: „Bernards Ber-
suchung." Roman. Albert Langen, München.
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[0204] Maßgebliches und Unmaßgebliches richtiger aus jenem Sinn seines Lebens, den ihm Bouvier unterlegt. Den großen Kampf zwischen Rationalis¬ mus und Irrationalismus, der dem aus¬ gehenden achtzehnten Jahrhundert Inhalt, dem angehenden neunzehnten Jahrhundert Richtung gegeben, sehen wir hier, sich am einzelnen Gedanken und Gefühlsobjekt ent¬ zünden und emporflammen; wir sehen ihn auch, vielleicht etwas zu ausschließlich, aber mit ebensoviel Pragmatischer Verläßlichkeit, wie hinreißender Schönheit und zwingender Gewalt der logischen und sprachlichen Dar¬ stellung auf den Genfer Philosophen als Ur¬ sprung zurückgeführt. Jean Jacques selber aber erscheint Schritt für Schritt anschau¬ licher, hebt sich scharf ab von: Hintergrund seiner Zeit. Das intellektuelle Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts, der heimische Stadt¬ staat und sein Patrizmt, liegen wie offene Bücher vor dem tiefdringenden historischen Blick Bernard Bouviers. Er hat diese Atmo¬ sphäre mit vollen Lungen geatmet. Wie das Gefühlselement durch harte Kämpfe in der welthistorischen Persönlichkeit Rousseaus zur Herrschaft gelangt, wie er das Irrationale, das Persönliche, das Gottgeborene des freien Menschen in sich zur Herrschaft führt und aus¬ strahlt über einen alternden, durch Schranken und Schranzen eingeengten Weltteil, das zeigt uns Bouvier in aufsteigender Linie vom Di- joner discours über die Nouvelle Heloise, Confessions und Contrat Sociale bis zu den Reveries, vom Mme de Warans, über Therese zur Gräfin Houdetot. Die Genfer sind das sreiheits- und selb- ständigkeitsdürstigste Volk der Schweiz, — wenn diesbezüglich ein Komperativ und ein Superlativ innerhalb der eidgenössischen Völker überhaupt noch denkbar ist. Kämpfernaturen aus dem innersten, durch den welthistorischen Gang der Dinge dennoch ferngehalten von der männermordenden Schlacht, haben sich ihre Aristokraten seit Jahrhundorten dem Geisteskampf mit Unerschrockenheit ergeben, sie sind — trotz Calvin! — die natürlichen Verkünder und Beschützer jeder verfolgten Wahrheit geblieben. In diesem Sinne muß man in Bouvier einen hervorragenden Typus seiner Rasse sehen. Eine Kämpfernatur auch er, führt seine Hand mit überlegener Eleganz eine schwere Klinge. Die Unerschrockenheit seines Gedankenganges, die calvinistische Strenge seines Urteils, die unbeirrt ethische Orientierung seiner tiefreligiösen Natur, son¬ dern ihn ab, er steht allein, wie die Genfer es haben wollen, wie sie es kraft ihres Volks- tums wollen müssen. Ein natürliches Recht zum Amte des Schiedsrichters im geistigen Kampfe der beiden großen Völker steht ihnen daher zu und Bouvier hat sein ererbtes Anrecht durch seine Persönliche Welt- und Lebenskenntnis, seine ausgreifende Gelehr¬ samkeit und seine vornehme Unbefangenheit bedeutend erhöht. Man muß den starren, unversöhnlichen Uberlieferungsglauben der Franzosen kennen, um den Mut zu er¬ messen, den die unbedingte Verurteilung jeg¬ licher Rhetorik in der Poesie erfordert, „l^'nomme, tut-it 6e ^mie, qui ne voit pas an acta ach limites ein bon sens et cle is raison, cet iromme-Ja a une vue bornee. II eonnsit mal la vie. IZerivain, it appÄUvrit l'art. poete, it clesseoke la poesie. II peut juZer psrksitement clef cnoses presentes, immeclistes; it peut con- server; it peut concevoir et provoquer cle oetites retormes. Hlsis les Zrancls courants cle la vie universelle lui eeliappent, comme les prokoncleurs obscures cle la vie incli- vicluelle." (S. 234.) Was aber die Adresse östlich der Vogesen anbelangt, so ist der ganze Bouvier, der allen Wissensstoff ausschließlich als Mittel zum Zweck gebraucht, um das Erleben Rousseaus zur eigenen Erfahrung umzuwandeln, umzu- zaubern, ein unausgesprochener, aber flammen¬ der Protest gegen die wuchernde Mittelmäßig¬ keit, gegen die systematische Bevorzugung des Unpersönlichen, des Grauen, sogenannten Ob¬ jektiven, „Historischen" und wie die Namen alle heißen, die unsere heutige deutsche Lite¬ raturforschung kennzeichnen. Ein Protest, der gehört zu werden verdient. Das Buch Alexander Castells"1 führt uns nur sprachlich in die deutsche Schweiz zurück. „Ich habe die sonderbare Vorstellung, daß *) Alexander Castell: „Bernards Ber- suchung." Roman. Albert Langen, München.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/204>, abgerufen am 22.12.2024.