Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Der Brief des Dichters und das Rezept des Landammanns hielt seine Seele nichts mehr zurück, so daß seine Niederschrift in das Ge¬ Er siegelte den Brief, der viele Bogen füllte, noch in der Nacht, schlief Um so mehr war er überrascht, als gegen fünf der Knabe heiter wie stets Als sie dann endlich durch die steile Schlucht hinab ins Muotatal und an Der Brief des Dichters und das Rezept des Landammanns hielt seine Seele nichts mehr zurück, so daß seine Niederschrift in das Ge¬ Er siegelte den Brief, der viele Bogen füllte, noch in der Nacht, schlief Um so mehr war er überrascht, als gegen fünf der Knabe heiter wie stets Als sie dann endlich durch die steile Schlucht hinab ins Muotatal und an <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0633" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323035"/> <fw type="header" place="top"> Der Brief des Dichters und das Rezept des Landammanns</fw><lb/> <p xml:id="ID_3087" prev="#ID_3086"> hielt seine Seele nichts mehr zurück, so daß seine Niederschrift in das Ge¬<lb/> ständnis einer Liebe auslief, deren Leidenschaft in dieser Nachtstunde keine<lb/> Grenzen kannte.</p><lb/> <p xml:id="ID_3088"> Er siegelte den Brief, der viele Bogen füllte, noch in der Nacht, schlief<lb/> danach einen tiefen Schlaf, und schickte ihn durch einen Burschen zu ihr hinauf.<lb/> Als er das versiegelte Bündel Papier zum letztenmal in der Hand hielt, fühlte<lb/> er, daß etwas Schweres damit geschah; doch war er gewöhnt, tapfer zu seinen<lb/> Dingen zu stehen und nichts zu verbergen, was einmal soviel Gewalt über ihn<lb/> gewonnen hatte, weil ihm in der Offenheit rauschvoller Stunden mehr reine<lb/> Menschlichkeit zu leben schien, als in der Täglichkeit vorstchiiger Überlegung.<lb/> Er wußte genau, daß es nur einen Ausweg gab nach diesem Brief — wenn<lb/> sie ihm nicht das Haus verweisen sollte — der unwahrscheinlich und gefährlich<lb/> wie alle kühnen Dinge war: so wartete er am Morgen und am Mittag den<lb/> selbstgewählten Gerichtshof ab und dämpfte seinen Trotz erst, als auch der<lb/> Nachmittag verging, ohne daß eine Nachricht kam.</p><lb/> <p xml:id="ID_3089"> Um so mehr war er überrascht, als gegen fünf der Knabe heiter wie stets<lb/> erschien, ihn abzuholen: sie wollten noch einen Gang ins Muotatal zur Brücke<lb/> machen. Auch die Frau, die draußen wartete, war kaum anders als sonst,<lb/> gab ihm die Hand und fragte, wie ihm die Bergfahrt und die nassen Kleider<lb/> nachträglich bekommen wären? Er sah sie unbekümmert lächeln mit allen Zähnen<lb/> und wußte nicht, ob es Verstellung oder Spott war, und beides verdunkelte<lb/> ihn, ihr Bild, so daß er erst im gehen Worte fand, ihr für die Einladung zu<lb/> danken. Sie wehrte den verborgenen Sinn von diesem Dank mit einem Scherz¬<lb/> wort ab und blieb auch übermütig, so oft er mit einer Frage an seine Dinge<lb/> rühren wollte. Dabei kam sie ihm schöner und anmutiger vor als je, wie sie<lb/> dahinschritt in dein Nachmittag, der durch die Entladung der Lust klar und<lb/> starkfarbig geworden war. Sie gingen über den Wald von Jberg hinüber und<lb/> das moosige Kalkgestein mit seltsamen Höhlen unter Tannenbäumen gab dem<lb/> Knaben Gelegenheit zu übermütigen Kletterkünsten. Dem Dichter, der sich immer<lb/> trauriger als Fremder bei ihnen fühlte, und der die Frau, die ihm gestern auf<lb/> dem Berg und in dem Aufruhr der Nacht so nahe gewesen war, in der<lb/> Wirklichkeit dieser Wanderung sich immer hoffnungsloser entfernen sah, als es<lb/> durch irgendeinen Abschied möglich gewesen wäre, wurde schwer und trotzig<lb/> zumut.</p><lb/> <p xml:id="ID_3090"> Als sie dann endlich durch die steile Schlucht hinab ins Muotatal und an<lb/> die Holzbrücke gekommen waren, wo er den Knaben nackt und kniend gefunden<lb/> hatte — der nun gleich abwärts zwischen die Felsen kletterte und in den<lb/> rauschenden Spalt hinunter spähte, ob er von seinen Kleidern nicht irgend etwas<lb/> angeschwemmt fände —, so daß sie beide allein unter dem alten Schindeldach<lb/> der Brücke im Schatten standen und sich von dem sonnigen Gang erholten:<lb/> vermochte er die Traurigkeit und den Grimm nicht länger zu bemeistern: Ob<lb/> sie seinen Brief erhalten habe?</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0633]
Der Brief des Dichters und das Rezept des Landammanns
hielt seine Seele nichts mehr zurück, so daß seine Niederschrift in das Ge¬
ständnis einer Liebe auslief, deren Leidenschaft in dieser Nachtstunde keine
Grenzen kannte.
Er siegelte den Brief, der viele Bogen füllte, noch in der Nacht, schlief
danach einen tiefen Schlaf, und schickte ihn durch einen Burschen zu ihr hinauf.
Als er das versiegelte Bündel Papier zum letztenmal in der Hand hielt, fühlte
er, daß etwas Schweres damit geschah; doch war er gewöhnt, tapfer zu seinen
Dingen zu stehen und nichts zu verbergen, was einmal soviel Gewalt über ihn
gewonnen hatte, weil ihm in der Offenheit rauschvoller Stunden mehr reine
Menschlichkeit zu leben schien, als in der Täglichkeit vorstchiiger Überlegung.
Er wußte genau, daß es nur einen Ausweg gab nach diesem Brief — wenn
sie ihm nicht das Haus verweisen sollte — der unwahrscheinlich und gefährlich
wie alle kühnen Dinge war: so wartete er am Morgen und am Mittag den
selbstgewählten Gerichtshof ab und dämpfte seinen Trotz erst, als auch der
Nachmittag verging, ohne daß eine Nachricht kam.
Um so mehr war er überrascht, als gegen fünf der Knabe heiter wie stets
erschien, ihn abzuholen: sie wollten noch einen Gang ins Muotatal zur Brücke
machen. Auch die Frau, die draußen wartete, war kaum anders als sonst,
gab ihm die Hand und fragte, wie ihm die Bergfahrt und die nassen Kleider
nachträglich bekommen wären? Er sah sie unbekümmert lächeln mit allen Zähnen
und wußte nicht, ob es Verstellung oder Spott war, und beides verdunkelte
ihn, ihr Bild, so daß er erst im gehen Worte fand, ihr für die Einladung zu
danken. Sie wehrte den verborgenen Sinn von diesem Dank mit einem Scherz¬
wort ab und blieb auch übermütig, so oft er mit einer Frage an seine Dinge
rühren wollte. Dabei kam sie ihm schöner und anmutiger vor als je, wie sie
dahinschritt in dein Nachmittag, der durch die Entladung der Lust klar und
starkfarbig geworden war. Sie gingen über den Wald von Jberg hinüber und
das moosige Kalkgestein mit seltsamen Höhlen unter Tannenbäumen gab dem
Knaben Gelegenheit zu übermütigen Kletterkünsten. Dem Dichter, der sich immer
trauriger als Fremder bei ihnen fühlte, und der die Frau, die ihm gestern auf
dem Berg und in dem Aufruhr der Nacht so nahe gewesen war, in der
Wirklichkeit dieser Wanderung sich immer hoffnungsloser entfernen sah, als es
durch irgendeinen Abschied möglich gewesen wäre, wurde schwer und trotzig
zumut.
Als sie dann endlich durch die steile Schlucht hinab ins Muotatal und an
die Holzbrücke gekommen waren, wo er den Knaben nackt und kniend gefunden
hatte — der nun gleich abwärts zwischen die Felsen kletterte und in den
rauschenden Spalt hinunter spähte, ob er von seinen Kleidern nicht irgend etwas
angeschwemmt fände —, so daß sie beide allein unter dem alten Schindeldach
der Brücke im Schatten standen und sich von dem sonnigen Gang erholten:
vermochte er die Traurigkeit und den Grimm nicht länger zu bemeistern: Ob
sie seinen Brief erhalten habe?
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