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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Inn Verständnis Friedrich Lhoxins

Wollen wir also der Psyche dieser wunderbaren Musik näherkommen, so
gilt es zuvörderst die Individualität, der sie entquoll, psychologisch zu begreifen.
Ist dies an sich schon eine sehr schwer zu bewältigende Aufgabe -- was weiß
ein Mensch vom anderen? hat Goethe einmal gesagt --, so wurde sie hier über¬
haupt unlösbar durch den Anekdotenkranz und die legendären Ausschmückungen,
welche nur halb befriedigte Neugier oder bewußte Absicht allzu leicht um Leben
und Charakter eines Mannes herumzudichten pflegen, der als Künstler und
als Mensch in seiner vornehmen Zurückhaltung doppelt interessant, obendrein
von dem romantischen Schimmer des tragischen Untergangs seines einst glor¬
reichen Volkes umstrahlt war. Erschien doch noch vor etwa fünf Jahren in
"autorisierter Übersetzung" ein bisher unbekanntes Tagebuch Chopins aus den
Jahren 1837 bis 1848, als deren Fabrikantin allerdings ziemlich rasch eine
Amerikanerin Jeanne Lee ermittelt wurde, die ganz unbefangen die Herstellung
von Tagebüchern berühmter Musiker als ihre schriftstellerische, von englischen
Journalen besonders geschätzte Spezialität angab I Die schnelle Aufdeckung des
Schwindels erstickte hier schon im Keime jeden etwaigen Schaden, den das Buch
weiterhin hätte anrichten können"), erheblich länger aber hat es gedauert, ehe
man hinter eine andere Fälschung kam, die viel bedeutungsvoller geworden ist,
da sie allen früheren deutschen Chopinstudien zugrunde liegt, ja sogar der
großen, von dem Engländer Niecks verfaßten Biographie. Es handelt sich da
um die Briefe des Meisters, deren Wortlaut der polnische Chopinbiograph
Karasowski in einer fast beispiellosen Weise gefälscht, gekürzt oder umstilisiert
hat, nur zu dem Zweck, um seinen Chopin als einen Idealmenschen sehen zu
lassen, -- ein Verfahren, das in der wissenschaftlichen Welt den Namen Karasowski
als den eines Verbrechers an den: heiligen Geist der Wahrheit für alle Zeilen
brandmarkt. Bernard Scharlitt gebührt das große Verdienst, diese ungeheuer¬
liche Fälschung entdeckt und die Briefe zum ersten Male nach ihrem richtigen
Wortlaut übersetzt zu haben**). Diese Briefsammlung vornehmlich, sowie die
ausgezeichneten Untersuchungen Tarnowskis und Hoesiks (im Chopinheft der
"Musik" 1908) bieten das grundlegende und reichhaltigste Material für das
Verständnis der Individualität des Tondichters, die wir, soweit es der knappe
Rahmen einer Skizze zuläßt, möglichst eingehend in den folgenden Blättern zu
charakterisieren versuchen wollen.

Um überhaupt den richtigen Standpunkt für die Beurteilung Chopins als
Menschen wie als Künstler zu gewinnen, ist zuvörderst seine polnische Abkunft
im Auge zu behalten. Alle Versuche, ihn zum Franzosen zu stempeln, namentlich
weil sein Vater in Nancy geboren wurde und Chopin selbst den wichtigsten
Teil seines Lebens in Frankreich zugebracht hat, sind völlig verkehrt. Gewiß
hat der Meister diese oder jene Äußerlichkeit von dem Volke, unter dem er zwei




") Näheres darüber im Chopinheft der "Musik", 8. Jahrgang, Band XXIX.
"Friedrich Chopins gesammelte Briefe", zum erstenmal gesammelt und getreu ins
Deutsche übertragen von Bernnrd Scharlitt, Leipzig 1911.
Inn Verständnis Friedrich Lhoxins

Wollen wir also der Psyche dieser wunderbaren Musik näherkommen, so
gilt es zuvörderst die Individualität, der sie entquoll, psychologisch zu begreifen.
Ist dies an sich schon eine sehr schwer zu bewältigende Aufgabe — was weiß
ein Mensch vom anderen? hat Goethe einmal gesagt —, so wurde sie hier über¬
haupt unlösbar durch den Anekdotenkranz und die legendären Ausschmückungen,
welche nur halb befriedigte Neugier oder bewußte Absicht allzu leicht um Leben
und Charakter eines Mannes herumzudichten pflegen, der als Künstler und
als Mensch in seiner vornehmen Zurückhaltung doppelt interessant, obendrein
von dem romantischen Schimmer des tragischen Untergangs seines einst glor¬
reichen Volkes umstrahlt war. Erschien doch noch vor etwa fünf Jahren in
„autorisierter Übersetzung" ein bisher unbekanntes Tagebuch Chopins aus den
Jahren 1837 bis 1848, als deren Fabrikantin allerdings ziemlich rasch eine
Amerikanerin Jeanne Lee ermittelt wurde, die ganz unbefangen die Herstellung
von Tagebüchern berühmter Musiker als ihre schriftstellerische, von englischen
Journalen besonders geschätzte Spezialität angab I Die schnelle Aufdeckung des
Schwindels erstickte hier schon im Keime jeden etwaigen Schaden, den das Buch
weiterhin hätte anrichten können"), erheblich länger aber hat es gedauert, ehe
man hinter eine andere Fälschung kam, die viel bedeutungsvoller geworden ist,
da sie allen früheren deutschen Chopinstudien zugrunde liegt, ja sogar der
großen, von dem Engländer Niecks verfaßten Biographie. Es handelt sich da
um die Briefe des Meisters, deren Wortlaut der polnische Chopinbiograph
Karasowski in einer fast beispiellosen Weise gefälscht, gekürzt oder umstilisiert
hat, nur zu dem Zweck, um seinen Chopin als einen Idealmenschen sehen zu
lassen, — ein Verfahren, das in der wissenschaftlichen Welt den Namen Karasowski
als den eines Verbrechers an den: heiligen Geist der Wahrheit für alle Zeilen
brandmarkt. Bernard Scharlitt gebührt das große Verdienst, diese ungeheuer¬
liche Fälschung entdeckt und die Briefe zum ersten Male nach ihrem richtigen
Wortlaut übersetzt zu haben**). Diese Briefsammlung vornehmlich, sowie die
ausgezeichneten Untersuchungen Tarnowskis und Hoesiks (im Chopinheft der
„Musik" 1908) bieten das grundlegende und reichhaltigste Material für das
Verständnis der Individualität des Tondichters, die wir, soweit es der knappe
Rahmen einer Skizze zuläßt, möglichst eingehend in den folgenden Blättern zu
charakterisieren versuchen wollen.

Um überhaupt den richtigen Standpunkt für die Beurteilung Chopins als
Menschen wie als Künstler zu gewinnen, ist zuvörderst seine polnische Abkunft
im Auge zu behalten. Alle Versuche, ihn zum Franzosen zu stempeln, namentlich
weil sein Vater in Nancy geboren wurde und Chopin selbst den wichtigsten
Teil seines Lebens in Frankreich zugebracht hat, sind völlig verkehrt. Gewiß
hat der Meister diese oder jene Äußerlichkeit von dem Volke, unter dem er zwei




") Näheres darüber im Chopinheft der „Musik", 8. Jahrgang, Band XXIX.
„Friedrich Chopins gesammelte Briefe", zum erstenmal gesammelt und getreu ins
Deutsche übertragen von Bernnrd Scharlitt, Leipzig 1911.
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[0566] Inn Verständnis Friedrich Lhoxins Wollen wir also der Psyche dieser wunderbaren Musik näherkommen, so gilt es zuvörderst die Individualität, der sie entquoll, psychologisch zu begreifen. Ist dies an sich schon eine sehr schwer zu bewältigende Aufgabe — was weiß ein Mensch vom anderen? hat Goethe einmal gesagt —, so wurde sie hier über¬ haupt unlösbar durch den Anekdotenkranz und die legendären Ausschmückungen, welche nur halb befriedigte Neugier oder bewußte Absicht allzu leicht um Leben und Charakter eines Mannes herumzudichten pflegen, der als Künstler und als Mensch in seiner vornehmen Zurückhaltung doppelt interessant, obendrein von dem romantischen Schimmer des tragischen Untergangs seines einst glor¬ reichen Volkes umstrahlt war. Erschien doch noch vor etwa fünf Jahren in „autorisierter Übersetzung" ein bisher unbekanntes Tagebuch Chopins aus den Jahren 1837 bis 1848, als deren Fabrikantin allerdings ziemlich rasch eine Amerikanerin Jeanne Lee ermittelt wurde, die ganz unbefangen die Herstellung von Tagebüchern berühmter Musiker als ihre schriftstellerische, von englischen Journalen besonders geschätzte Spezialität angab I Die schnelle Aufdeckung des Schwindels erstickte hier schon im Keime jeden etwaigen Schaden, den das Buch weiterhin hätte anrichten können"), erheblich länger aber hat es gedauert, ehe man hinter eine andere Fälschung kam, die viel bedeutungsvoller geworden ist, da sie allen früheren deutschen Chopinstudien zugrunde liegt, ja sogar der großen, von dem Engländer Niecks verfaßten Biographie. Es handelt sich da um die Briefe des Meisters, deren Wortlaut der polnische Chopinbiograph Karasowski in einer fast beispiellosen Weise gefälscht, gekürzt oder umstilisiert hat, nur zu dem Zweck, um seinen Chopin als einen Idealmenschen sehen zu lassen, — ein Verfahren, das in der wissenschaftlichen Welt den Namen Karasowski als den eines Verbrechers an den: heiligen Geist der Wahrheit für alle Zeilen brandmarkt. Bernard Scharlitt gebührt das große Verdienst, diese ungeheuer¬ liche Fälschung entdeckt und die Briefe zum ersten Male nach ihrem richtigen Wortlaut übersetzt zu haben**). Diese Briefsammlung vornehmlich, sowie die ausgezeichneten Untersuchungen Tarnowskis und Hoesiks (im Chopinheft der „Musik" 1908) bieten das grundlegende und reichhaltigste Material für das Verständnis der Individualität des Tondichters, die wir, soweit es der knappe Rahmen einer Skizze zuläßt, möglichst eingehend in den folgenden Blättern zu charakterisieren versuchen wollen. Um überhaupt den richtigen Standpunkt für die Beurteilung Chopins als Menschen wie als Künstler zu gewinnen, ist zuvörderst seine polnische Abkunft im Auge zu behalten. Alle Versuche, ihn zum Franzosen zu stempeln, namentlich weil sein Vater in Nancy geboren wurde und Chopin selbst den wichtigsten Teil seines Lebens in Frankreich zugebracht hat, sind völlig verkehrt. Gewiß hat der Meister diese oder jene Äußerlichkeit von dem Volke, unter dem er zwei ") Näheres darüber im Chopinheft der „Musik", 8. Jahrgang, Band XXIX. „Friedrich Chopins gesammelte Briefe", zum erstenmal gesammelt und getreu ins Deutsche übertragen von Bernnrd Scharlitt, Leipzig 1911.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/566>, abgerufen am 15.01.2025.