Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Die vier Temperamente der Lebensäußerung, die dem Anämatiker eigen ist, um so mehr Ehrwürdigkeit i Bei den meisten Menschen, aber keineswegs bei allen, verringert sich der *) Von Aristoteles haben wir die Behauptung! "Männer, die sich in der Philosophie, Staatsweisheit, Poesie oder Kunst ausgezeichnet haben, scheinen fast alle melancholischen Tem¬ peraments zu sein" (Prob. XXX, 1). Cicero stimmt dem bei: "Aristoteles ait, omnes in- Zeniosos melsnenolicos esse" (l'usent, l, 33). **) Sehr häufig werden entschiedene Temperamontsausbrüche als Charaktererscheinungen
aufgefaßt. So in der folgenden Eintragung Lassalles in sein Tagebuch: "Die Skizzen, die uns N. von dem gab, was er früher auf der Handelsschule erleiden mußte, waren wirklich ergreifend. Die Wirkung, die seine Schilderung hervorbrachte, war unserem Charakter ent¬ sprechend. Ich ballte die Fäuste, knirschte mit den Lippen und tat im Innern die schreck¬ lichsten Rachegelübde. Wilhelm stand ruhig da, kein Wort kam über seine Lippen, nur Tränen perlten aus seinen Augen, und dann und wann zuckten seine Lippen schrecklich. Ich kann mir Wohl denken, was in seinem Inneren borging. Nur Moewes war nicht aus seiner Pomade zu bringen, kalt und teilnahmlos wie gewöhnlich." (Lassalles Tagebuch eel. P. Lindau, S. 242.) Man sieht aber ganz deutlich, daß hier ein Choleriker, Anämatiker und ein Phleg¬ matiker der Erzählung ihres Freundes lauschten. Die vier Temperamente der Lebensäußerung, die dem Anämatiker eigen ist, um so mehr Ehrwürdigkeit i Bei den meisten Menschen, aber keineswegs bei allen, verringert sich der *) Von Aristoteles haben wir die Behauptung! „Männer, die sich in der Philosophie, Staatsweisheit, Poesie oder Kunst ausgezeichnet haben, scheinen fast alle melancholischen Tem¬ peraments zu sein" (Prob. XXX, 1). Cicero stimmt dem bei: „Aristoteles ait, omnes in- Zeniosos melsnenolicos esse" (l'usent, l, 33). **) Sehr häufig werden entschiedene Temperamontsausbrüche als Charaktererscheinungen
aufgefaßt. So in der folgenden Eintragung Lassalles in sein Tagebuch: „Die Skizzen, die uns N. von dem gab, was er früher auf der Handelsschule erleiden mußte, waren wirklich ergreifend. Die Wirkung, die seine Schilderung hervorbrachte, war unserem Charakter ent¬ sprechend. Ich ballte die Fäuste, knirschte mit den Lippen und tat im Innern die schreck¬ lichsten Rachegelübde. Wilhelm stand ruhig da, kein Wort kam über seine Lippen, nur Tränen perlten aus seinen Augen, und dann und wann zuckten seine Lippen schrecklich. Ich kann mir Wohl denken, was in seinem Inneren borging. Nur Moewes war nicht aus seiner Pomade zu bringen, kalt und teilnahmlos wie gewöhnlich." (Lassalles Tagebuch eel. P. Lindau, S. 242.) Man sieht aber ganz deutlich, daß hier ein Choleriker, Anämatiker und ein Phleg¬ matiker der Erzählung ihres Freundes lauschten. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0471" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322873"/> <fw type="header" place="top"> Die vier Temperamente</fw><lb/> <p xml:id="ID_2357" prev="#ID_2356"> der Lebensäußerung, die dem Anämatiker eigen ist, um so mehr Ehrwürdigkeit i<lb/> das Volk erwartet eine dieser Anlage entsprechende Handlungsweise vom Papste,<lb/> von gealterten Herrschern und großen Philosophen*). Die Geduld des von seiner<lb/> Xantippe mißhandelten Sokrates und Hiobs Gemütsruhe sind die bekanntesten<lb/> Vorbilder für solchen ehrenvollen Mangel an Temperament. Der Quietismus<lb/> der Buddhalehre zielt auf das Extrem in dieser Richtung. Das wird dann aber<lb/> mehr eine gewollte Unterdrückung der Sensibilität, Rezeptibilität und Neagibilität,<lb/> als ein innerhalb der Temperamentsunterschiede fallendes Verhältnis des Puls¬<lb/> schlages der Individualität**). Es kommt daher gelegentlich zu Eruptionen, wie<lb/> dem Amoklaufen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2358"> Bei den meisten Menschen, aber keineswegs bei allen, verringert sich der<lb/> Einfluß des Temperaments von selbst mit zunehmender Erfahrung und abnehmender<lb/> Beweglichkeit des Körpers. „Die Schwaben werden mit dem vierzigsten Jahre<lb/> klug", ist ein Sprichwort, das doch Wohl auf die erst dann erworbene Fähigkeit,<lb/> Temperamentsausbrüche zu beherrschen, zu beziehen ist. Den Versuch dieser Selbst¬<lb/> beherrschung durch Reflexionen macht ja jeder, der die Nachteile der frischen und<lb/> warmen Impulse wiederholt erfahren hat; aber es gelingt nicht immer. Von<lb/> dem Sanguiniker Friedrich dem Großen haben wir das schöne Geständnis: „Alles,<lb/> was ich an Reflexion habe, setze ich in Bewegung, um den ersten Moment zu<lb/> vermeiden, der bei mir sehr lebhaft ist und, solange diese Lebhaftigkeit des ersten<lb/> Moments dauert, hüte ich mich sorgfältig, eine Entscheidung zu treffen über das,<lb/> was ich gesehen habe, und über das, was ich gehört habe und was mich erregt;<lb/> trotz alles Bemühens vermeide ich ihn nicht immer, diesen ersten Moment, und<lb/> dann — macht Monsieur Dummheiten und verbrennt sich Monsieur die Finger."<lb/> Gewöhnliche Sterbliche beißen sich auf die Zunge und verbrennen sich, wenn sie<lb/> Sanguiniker und Choleriker sind, doch leicht den Mund — bei Gönnern und Vor¬<lb/> gesetzten.</p><lb/> <note xml:id="FID_59" place="foot"> *) Von Aristoteles haben wir die Behauptung! „Männer, die sich in der Philosophie,<lb/> Staatsweisheit, Poesie oder Kunst ausgezeichnet haben, scheinen fast alle melancholischen Tem¬<lb/> peraments zu sein" (Prob. XXX, 1). Cicero stimmt dem bei: „Aristoteles ait, omnes in-<lb/> Zeniosos melsnenolicos esse" (l'usent, l, 33).</note><lb/> <note xml:id="FID_60" place="foot"> **) Sehr häufig werden entschiedene Temperamontsausbrüche als Charaktererscheinungen<lb/> aufgefaßt. So in der folgenden Eintragung Lassalles in sein Tagebuch: „Die Skizzen, die<lb/> uns N. von dem gab, was er früher auf der Handelsschule erleiden mußte, waren wirklich<lb/> ergreifend. Die Wirkung, die seine Schilderung hervorbrachte, war unserem Charakter ent¬<lb/> sprechend. Ich ballte die Fäuste, knirschte mit den Lippen und tat im Innern die schreck¬<lb/> lichsten Rachegelübde. Wilhelm stand ruhig da, kein Wort kam über seine Lippen, nur<lb/> Tränen perlten aus seinen Augen, und dann und wann zuckten seine Lippen schrecklich. Ich<lb/> kann mir Wohl denken, was in seinem Inneren borging. Nur Moewes war nicht aus seiner<lb/> Pomade zu bringen, kalt und teilnahmlos wie gewöhnlich." (Lassalles Tagebuch eel. P. Lindau,<lb/> S. 242.) Man sieht aber ganz deutlich, daß hier ein Choleriker, Anämatiker und ein Phleg¬<lb/> matiker der Erzählung ihres Freundes lauschten.</note><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0471]
Die vier Temperamente
der Lebensäußerung, die dem Anämatiker eigen ist, um so mehr Ehrwürdigkeit i
das Volk erwartet eine dieser Anlage entsprechende Handlungsweise vom Papste,
von gealterten Herrschern und großen Philosophen*). Die Geduld des von seiner
Xantippe mißhandelten Sokrates und Hiobs Gemütsruhe sind die bekanntesten
Vorbilder für solchen ehrenvollen Mangel an Temperament. Der Quietismus
der Buddhalehre zielt auf das Extrem in dieser Richtung. Das wird dann aber
mehr eine gewollte Unterdrückung der Sensibilität, Rezeptibilität und Neagibilität,
als ein innerhalb der Temperamentsunterschiede fallendes Verhältnis des Puls¬
schlages der Individualität**). Es kommt daher gelegentlich zu Eruptionen, wie
dem Amoklaufen.
Bei den meisten Menschen, aber keineswegs bei allen, verringert sich der
Einfluß des Temperaments von selbst mit zunehmender Erfahrung und abnehmender
Beweglichkeit des Körpers. „Die Schwaben werden mit dem vierzigsten Jahre
klug", ist ein Sprichwort, das doch Wohl auf die erst dann erworbene Fähigkeit,
Temperamentsausbrüche zu beherrschen, zu beziehen ist. Den Versuch dieser Selbst¬
beherrschung durch Reflexionen macht ja jeder, der die Nachteile der frischen und
warmen Impulse wiederholt erfahren hat; aber es gelingt nicht immer. Von
dem Sanguiniker Friedrich dem Großen haben wir das schöne Geständnis: „Alles,
was ich an Reflexion habe, setze ich in Bewegung, um den ersten Moment zu
vermeiden, der bei mir sehr lebhaft ist und, solange diese Lebhaftigkeit des ersten
Moments dauert, hüte ich mich sorgfältig, eine Entscheidung zu treffen über das,
was ich gesehen habe, und über das, was ich gehört habe und was mich erregt;
trotz alles Bemühens vermeide ich ihn nicht immer, diesen ersten Moment, und
dann — macht Monsieur Dummheiten und verbrennt sich Monsieur die Finger."
Gewöhnliche Sterbliche beißen sich auf die Zunge und verbrennen sich, wenn sie
Sanguiniker und Choleriker sind, doch leicht den Mund — bei Gönnern und Vor¬
gesetzten.
*) Von Aristoteles haben wir die Behauptung! „Männer, die sich in der Philosophie,
Staatsweisheit, Poesie oder Kunst ausgezeichnet haben, scheinen fast alle melancholischen Tem¬
peraments zu sein" (Prob. XXX, 1). Cicero stimmt dem bei: „Aristoteles ait, omnes in-
Zeniosos melsnenolicos esse" (l'usent, l, 33).
**) Sehr häufig werden entschiedene Temperamontsausbrüche als Charaktererscheinungen
aufgefaßt. So in der folgenden Eintragung Lassalles in sein Tagebuch: „Die Skizzen, die
uns N. von dem gab, was er früher auf der Handelsschule erleiden mußte, waren wirklich
ergreifend. Die Wirkung, die seine Schilderung hervorbrachte, war unserem Charakter ent¬
sprechend. Ich ballte die Fäuste, knirschte mit den Lippen und tat im Innern die schreck¬
lichsten Rachegelübde. Wilhelm stand ruhig da, kein Wort kam über seine Lippen, nur
Tränen perlten aus seinen Augen, und dann und wann zuckten seine Lippen schrecklich. Ich
kann mir Wohl denken, was in seinem Inneren borging. Nur Moewes war nicht aus seiner
Pomade zu bringen, kalt und teilnahmlos wie gewöhnlich." (Lassalles Tagebuch eel. P. Lindau,
S. 242.) Man sieht aber ganz deutlich, daß hier ein Choleriker, Anämatiker und ein Phleg¬
matiker der Erzählung ihres Freundes lauschten.
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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
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