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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Griechisch-orthodoxe und römisch-katholische Rirche

Christen durch die Türken erlischt jeder Wunsch nach Verständigung mit der päpst¬
lichen Kirche. Gegenwärtig entfalten ganze Ordensgemeinschaften der römischen
Kirche im Orient eine in vieler Beziehung segensreiche Tätigkeit, zahlreiche Zeit¬
schriften, zu denen sich erst jetzt wieder die Oriente e Koma gesellte, dienen dem
Ziele der Beseitigung des kirchlichen Schismas, und doch scheint alles vergebens.
Seit fast dreihundert Jahren wirkt die „Römische Propaganda", schon vorher war
das LoIIeZium Zraseum in Rom gegründet worden, und kaum hatte man in der
Kurie von der Abweisung erfahren, die den Tübinger Protestanten vom Patriarchat
widerfahren war, da schickte man eine Anzahl Angehörige des Jesuitenordens nach
Konstantinopel. Allein die Resultate dieser Bemühungen sind gering gewesen, nicht
wirksamer alle Bestrebungen der jüngsten Zeit, besonders unter dem Pontifikat Leos
des Dreizehnter. Wohl hat die römische Kirche in Syrien, wo sie mit der pro¬
testantischen Propaganda wetteifern muß, einige Fortschritte gemacht, allein für
die Unionsfrage ist das ohne Bedeutung; die Enzyklika Leos des Dreizehnter
vom Jahre 1896 ein alle orthodoxen Völker, die sie aufforderte, den Papst als
das Oberhaupt der Kirche anzuerkennen, erfuhr die schroffste Ablehnung.

Ebenso erging es dem jüngsten Unionsvorschlag des Prinzen Max von
Sachsen. In seltsamer Verkennung der historischen Voraussetzungen und des
Wesens einer wahren Union wurden der griechisch - orthodoxen Kirche alle ihre
Sonderrechte zuerkannt, die Schuld an der Kirchenspaltung so gut wie aus»
schließlich der römischen Kirche beigemessen, die dogmatischen Differenzen aus¬
drücklich als Neuerungen der abendländischen Kirche hingestellt. In allem und
jedem wurde der griechische Standpunkt vertreten und nur eines von den orthodoxen
Christen verlangt: die Anerkennung des päpstlichen Primates, der Oberhoheit
des Papstes als des Hauptes der gesamten Christenheit. Aber einmütig wurde
der Vorschlag von der griechisch-orthodoxen Kirche abgelehnt.

Hier stehen wir in der Tat vor jenem Unterschied in der Lehre und der
Anschauung der beiden Kirchen, die jede Verständigung ausschließt. Denn ob¬
wohl im Grunde keine Glaubensfrage, keine Frage des Gottesdienstes, sondern
eine Frage der äußeren Organisation der Kirche, wenigstens bis zum Vatikanum
und dem Unfehlbarkeitsdogma, bildet doch der Primat des Papstes das stärkste
Hindernis jeder Kircheneinigung. Die orthodoxe Kirche hat ihn nie anerkannt
und wird ihn nie anerkennen. Sie besteht auf der alten Organisation der
christlichen Kirche, wonach die höchsten Würdenträger gemeinsam die Patriarchen
von Rom, Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem sind. Über
diesen steht nach orthodoxer Anschauung die Gesamtheit der Kirche, d. h. die
Konzilien, außerdem aber sind die Patriarchate gleichberechtigt; nur eine höhere
Rangstufe ist dem Bischof des alten Rom vor der Kirchentrennung nie bestritten
worden. Auch heute hält die orthodoxe Kirche im Prinzip an der Gleich¬
berechtigung der Patriarchate fest, zu denen sich seit dem Jahre 1721, seit der
Neuerung Peters des Großen, für die Kirche Rußlands der Allerheiligste spröd
mit gleichen Rechten gesellt hat; vorher, seit 1589, hatte der Bischof von Moskau


Grenzboten IV 1912 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/360>, abgerufen am 24.01.2025.