Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Agrarc Reformen in Rußland der wirtschaftliche Fortschritt und Aufstieg nur auf individualistischen Eine ganz andere Frage ist, welche Gefahrenmomente die Zer¬ Sie sind der Meinung, Rußland werde einen reich mit Land aus¬ Agrarc Reformen in Rußland der wirtschaftliche Fortschritt und Aufstieg nur auf individualistischen Eine ganz andere Frage ist, welche Gefahrenmomente die Zer¬ Sie sind der Meinung, Rußland werde einen reich mit Land aus¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0035" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322436"/> <fw type="header" place="top"> Agrarc Reformen in Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_66" prev="#ID_65"> der wirtschaftliche Fortschritt und Aufstieg nur auf individualistischen<lb/> Boden möglich ist. Sie sagen, die russische Regierung hätte die innere Ent¬<lb/> wicklung des Mir gewaltsam aufgehalten. Ich unterstelle, daß es richtig ist,<lb/> aber selbst wenn sie es nicht getan hätte, wenn sie Volksbildung verbreitet,<lb/> wenn sie das Genossenschaftswesen gefördert, wenn sie den landwirtschaftlichen<lb/> Kredit organisiert, wenn sie Eisenbahnen gebaut und wer weiß was sonst noch<lb/> getan hätte, — selbst dann hätte ich mir nicht vorstellen können, welche großen<lb/> Erfolge der Mir hätte zeitigen wollen. Ich meine die Wirtschaftsgeschichte<lb/> anderer Staaten, insbesondere auch Deutschlands, hat erwiesen, daß eine wirt¬<lb/> schaftliche Gebundenheit, mag sie auf dem Bauernstand, mag sie auf dem Ge¬<lb/> werbe liegen, sofern sie die wirtschaftliche Tüchtigkeit des einzelnen negiert,<lb/> schließlich trotz aller behördlichen Förderung und aller Maßnahmen in Ver¬<lb/> knöcherung und Niedergang mündet.</p><lb/> <p xml:id="ID_67"> Eine ganz andere Frage ist, welche Gefahrenmomente die Zer¬<lb/> trümmerung des Mir für Rußland birgt. Mir waren Ihre Ausführungen<lb/> in Heft 39 vorigen Jahres wohl bekannt. Wenn ich diese Seite der Frage nicht<lb/> berührte, so geschah es mit Rücksicht auf den Umfang und weil ich darüber<lb/> später noch zu schreiben gedenke. Ich pflichte Ihren Ausführungen in dieser<lb/> Hinsicht rückhaltlos bei, aber die Schaffung eines großstädtischen Proletariats<lb/> und die sich daraus ergebenden revolutionären Möglichkeiten können mich nicht<lb/> in der Überzeugung irre machen, daß Rußland kein Koloß aus tönernen Füßen<lb/> ist. Wirtschaftliche Reformen haben wiederholt politische Revolutionen im Ge¬<lb/> folge gehabt und beide zusammen sind nicht selten die Grundlage einer all¬<lb/> gemeinen Evolution gewesen. Sollte es in Nußland anders sein? Wer weiß,<lb/> vielleicht geht Rußland schweren inneren Konflikten entgegen, aber was will<lb/> das bedeuten für seine spätere wirtschaftliche Zukunft? Die nächste russische<lb/> Revolution wird das Gewitter sein, das die Lage klärt und Reibungsflächen<lb/> beseitigt; sie wird Rußlands wirtschaftliche und politische Zustände für mehr oder<lb/> weniger lange Zeit niederdrücken, aber wird doch nimmermehr auf die Dauer<lb/> verhindern können, daß Rußlands wirtschaftliche Macht erstarkt und wächst.</p><lb/> <p xml:id="ID_68" next="#ID_69"> Sie sind der Meinung, Rußland werde einen reich mit Land aus¬<lb/> gestatteten Großbauernstand hervorbringen, dem jedoch eine Unter¬<lb/> schicht fehlen wird. Dem ersten Teile dieses Satzes trete ich bei mit der<lb/> Einschränkung, daß der angedeutete Zustand doch wohl erst im Verlauf einer<lb/> langen Reihe von Jahren eintreten wird, da der russische Bauernstand alles in<lb/> allem genommen, zurzeit weder auf dem geistigen und sozialen Niveau steht,<lb/> noch diejenige Kapitalkraft und sonstigen Hilfsmittel besitzt, die die Voraussetzung<lb/> für diese Entwicklung sind. Der Besitz ausgedehnter Ländereien allein tut es<lb/> doch gewiß nicht, um einen lebensfähigen Großbauernstand zu schaffen. Aber<lb/> mag die angedeutete Entwicklung selbst in späterer Zeit eintreten, so glaube ich<lb/> doch nicht, daß sie so umfassend verläuft, daß schließlich der ganze Bauernstand<lb/> nur aus Großbauern besteht. Eine derartige Entwicklung würde ich zugeben,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0035]
Agrarc Reformen in Rußland
der wirtschaftliche Fortschritt und Aufstieg nur auf individualistischen
Boden möglich ist. Sie sagen, die russische Regierung hätte die innere Ent¬
wicklung des Mir gewaltsam aufgehalten. Ich unterstelle, daß es richtig ist,
aber selbst wenn sie es nicht getan hätte, wenn sie Volksbildung verbreitet,
wenn sie das Genossenschaftswesen gefördert, wenn sie den landwirtschaftlichen
Kredit organisiert, wenn sie Eisenbahnen gebaut und wer weiß was sonst noch
getan hätte, — selbst dann hätte ich mir nicht vorstellen können, welche großen
Erfolge der Mir hätte zeitigen wollen. Ich meine die Wirtschaftsgeschichte
anderer Staaten, insbesondere auch Deutschlands, hat erwiesen, daß eine wirt¬
schaftliche Gebundenheit, mag sie auf dem Bauernstand, mag sie auf dem Ge¬
werbe liegen, sofern sie die wirtschaftliche Tüchtigkeit des einzelnen negiert,
schließlich trotz aller behördlichen Förderung und aller Maßnahmen in Ver¬
knöcherung und Niedergang mündet.
Eine ganz andere Frage ist, welche Gefahrenmomente die Zer¬
trümmerung des Mir für Rußland birgt. Mir waren Ihre Ausführungen
in Heft 39 vorigen Jahres wohl bekannt. Wenn ich diese Seite der Frage nicht
berührte, so geschah es mit Rücksicht auf den Umfang und weil ich darüber
später noch zu schreiben gedenke. Ich pflichte Ihren Ausführungen in dieser
Hinsicht rückhaltlos bei, aber die Schaffung eines großstädtischen Proletariats
und die sich daraus ergebenden revolutionären Möglichkeiten können mich nicht
in der Überzeugung irre machen, daß Rußland kein Koloß aus tönernen Füßen
ist. Wirtschaftliche Reformen haben wiederholt politische Revolutionen im Ge¬
folge gehabt und beide zusammen sind nicht selten die Grundlage einer all¬
gemeinen Evolution gewesen. Sollte es in Nußland anders sein? Wer weiß,
vielleicht geht Rußland schweren inneren Konflikten entgegen, aber was will
das bedeuten für seine spätere wirtschaftliche Zukunft? Die nächste russische
Revolution wird das Gewitter sein, das die Lage klärt und Reibungsflächen
beseitigt; sie wird Rußlands wirtschaftliche und politische Zustände für mehr oder
weniger lange Zeit niederdrücken, aber wird doch nimmermehr auf die Dauer
verhindern können, daß Rußlands wirtschaftliche Macht erstarkt und wächst.
Sie sind der Meinung, Rußland werde einen reich mit Land aus¬
gestatteten Großbauernstand hervorbringen, dem jedoch eine Unter¬
schicht fehlen wird. Dem ersten Teile dieses Satzes trete ich bei mit der
Einschränkung, daß der angedeutete Zustand doch wohl erst im Verlauf einer
langen Reihe von Jahren eintreten wird, da der russische Bauernstand alles in
allem genommen, zurzeit weder auf dem geistigen und sozialen Niveau steht,
noch diejenige Kapitalkraft und sonstigen Hilfsmittel besitzt, die die Voraussetzung
für diese Entwicklung sind. Der Besitz ausgedehnter Ländereien allein tut es
doch gewiß nicht, um einen lebensfähigen Großbauernstand zu schaffen. Aber
mag die angedeutete Entwicklung selbst in späterer Zeit eintreten, so glaube ich
doch nicht, daß sie so umfassend verläuft, daß schließlich der ganze Bauernstand
nur aus Großbauern besteht. Eine derartige Entwicklung würde ich zugeben,
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