Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Rinderauswanderung aus England Solche organisierte Auswanderung Jugendlicher scheint zum ersten Male Von einer eigentlichen Kinderauswanderung -- im Alter von dreizehn bis Die Schüler der Raggedschool rekrutierten sich fast ausschließlich aus jungen Auch die Armenbehörden Irlands und Englands waren dem Gedanken Noch in den fünfziger Jahren wurde das Beispiel der Raggedschools von *) Schule der Zerlumpten 1836 von einem Quäker in Ostlondon gegründet und dann
im System von der Kirche angenommen und erweitert. Rinderauswanderung aus England Solche organisierte Auswanderung Jugendlicher scheint zum ersten Male Von einer eigentlichen Kinderauswanderung — im Alter von dreizehn bis Die Schüler der Raggedschool rekrutierten sich fast ausschließlich aus jungen Auch die Armenbehörden Irlands und Englands waren dem Gedanken Noch in den fünfziger Jahren wurde das Beispiel der Raggedschools von *) Schule der Zerlumpten 1836 von einem Quäker in Ostlondon gegründet und dann
im System von der Kirche angenommen und erweitert. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0269" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322671"/> <fw type="header" place="top"> Rinderauswanderung aus England</fw><lb/> <p xml:id="ID_1232"> Solche organisierte Auswanderung Jugendlicher scheint zum ersten Male<lb/> in England im Jahre1844 stattgefunden zusahen, und zwar betraf sie jungeMädchen<lb/> und Frauen. Von jeher waren es vorzugsweise Angehörige männlichen Geschlechts,<lb/> die in überseeischen Ländern eine neue Heimat suchten und fanden. Nur im<lb/> Familienverbande verließen auch Frauen und Mädchen die Heimat, an Zahl<lb/> aber gegen die Fülle der männlichen Auswanderer stark zurücktretend. Dies schuf in<lb/> den Kolonien und schließlich auch in der Heimat ein offenbares Mißverhältnis<lb/> zwischen den Geschlechtern. Hier ausgleichend zu wirken, vor allem die Zahl der<lb/> Frauen und Mütter in den Kolonien zu mehren, war das Bestreben der ersten organi¬<lb/> sierten jugendlichen Auswanderung. Es waren gesunde heiratsfähige Mädchen, die<lb/> auf Anregung von Kolonialagenten unter behördlichen Schutz die überseeische<lb/> Reise zuerst unternahmen. Denn selbstverständlich läßt sich eine weibliche Aus¬<lb/> wanderung nur propagieren und einleiten unter fürsorglichen Garantien zum<lb/> Schutz der jungen Emigrantinnen auf der Reise und bei der Ankunft im fernen<lb/> Lande. Diese entstammten zuerst den Armen- und Besserungshäusern, den Ge¬<lb/> fängnissen des Landes, bis der Gedanke weiblicher Auswanderung im Volke<lb/> Wurzel gefaßt hatte und auch gute Elemente sich dazu verstanden, das Leben<lb/> in den Kolonien — Australien, Neuseeland, Kanada — zu versuchen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1233"> Von einer eigentlichen Kinderauswanderung — im Alter von dreizehn bis<lb/> fünfzehn Jahren — finden sich die ersten Spuren in den Berichten der Ragged¬<lb/> schools*) und Poorlaw Guardians Englands zu Ende der vierziger Jahre des<lb/> vorigen Jahrhunderts.</p><lb/> <p xml:id="ID_1234"> Die Schüler der Raggedschool rekrutierten sich fast ausschließlich aus jungen<lb/> Dieben, Schelmen und Tunichtguten und das große Problem für die Schulleiter<lb/> war, die Unterbringung dieser Kinder in Verhältnisse, die sie den? lasterhaften<lb/> Milieu, in dem sie geboren, entreißen und ihnen einen ordentlichen Lebenswandel<lb/> erleichtern sollten. Einen Ozean zwischen Whitechapels Spelunken, den 8tuas<lb/> von Bethnal Green und den Objekten der Fürsorge zu legen, erschien ein Erfolg<lb/> versprechender Weg. Er wurde betreten und von da ab bildete die Auswanderung<lb/> eines der probatesten Fürsorgemittel der Raggedschools, deren Bedeutung erst<lb/> in neuester Zeit zurückgetreten ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1235"> Auch die Armenbehörden Irlands und Englands waren dem Gedanken<lb/> der Kinderauswanderung um diese Zeit nahe getreten. Ein Parlamentsbeschlnß<lb/> des Jahres 1850 gibt bereits allen Armenbehörden das Recht, aus den Armen¬<lb/> steuern Mittel zur Auswanderung von verlassenen (äesorwä) Kindern auf¬<lb/> zubringen. Indes durfte und darf auch heute kein Kind emigriert werden, das<lb/> nicht vor zwei Richtern schriftlich seine Einwilligung gegeben hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1236" next="#ID_1237"> Noch in den fünfziger Jahren wurde das Beispiel der Raggedschools von<lb/> Fürsorgeerziehungsanstalten, besonders dem berühmten Redhill. nachgeahmt und</p><lb/> <note xml:id="FID_18" place="foot"> *) Schule der Zerlumpten 1836 von einem Quäker in Ostlondon gegründet und dann<lb/> im System von der Kirche angenommen und erweitert.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0269]
Rinderauswanderung aus England
Solche organisierte Auswanderung Jugendlicher scheint zum ersten Male
in England im Jahre1844 stattgefunden zusahen, und zwar betraf sie jungeMädchen
und Frauen. Von jeher waren es vorzugsweise Angehörige männlichen Geschlechts,
die in überseeischen Ländern eine neue Heimat suchten und fanden. Nur im
Familienverbande verließen auch Frauen und Mädchen die Heimat, an Zahl
aber gegen die Fülle der männlichen Auswanderer stark zurücktretend. Dies schuf in
den Kolonien und schließlich auch in der Heimat ein offenbares Mißverhältnis
zwischen den Geschlechtern. Hier ausgleichend zu wirken, vor allem die Zahl der
Frauen und Mütter in den Kolonien zu mehren, war das Bestreben der ersten organi¬
sierten jugendlichen Auswanderung. Es waren gesunde heiratsfähige Mädchen, die
auf Anregung von Kolonialagenten unter behördlichen Schutz die überseeische
Reise zuerst unternahmen. Denn selbstverständlich läßt sich eine weibliche Aus¬
wanderung nur propagieren und einleiten unter fürsorglichen Garantien zum
Schutz der jungen Emigrantinnen auf der Reise und bei der Ankunft im fernen
Lande. Diese entstammten zuerst den Armen- und Besserungshäusern, den Ge¬
fängnissen des Landes, bis der Gedanke weiblicher Auswanderung im Volke
Wurzel gefaßt hatte und auch gute Elemente sich dazu verstanden, das Leben
in den Kolonien — Australien, Neuseeland, Kanada — zu versuchen.
Von einer eigentlichen Kinderauswanderung — im Alter von dreizehn bis
fünfzehn Jahren — finden sich die ersten Spuren in den Berichten der Ragged¬
schools*) und Poorlaw Guardians Englands zu Ende der vierziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts.
Die Schüler der Raggedschool rekrutierten sich fast ausschließlich aus jungen
Dieben, Schelmen und Tunichtguten und das große Problem für die Schulleiter
war, die Unterbringung dieser Kinder in Verhältnisse, die sie den? lasterhaften
Milieu, in dem sie geboren, entreißen und ihnen einen ordentlichen Lebenswandel
erleichtern sollten. Einen Ozean zwischen Whitechapels Spelunken, den 8tuas
von Bethnal Green und den Objekten der Fürsorge zu legen, erschien ein Erfolg
versprechender Weg. Er wurde betreten und von da ab bildete die Auswanderung
eines der probatesten Fürsorgemittel der Raggedschools, deren Bedeutung erst
in neuester Zeit zurückgetreten ist.
Auch die Armenbehörden Irlands und Englands waren dem Gedanken
der Kinderauswanderung um diese Zeit nahe getreten. Ein Parlamentsbeschlnß
des Jahres 1850 gibt bereits allen Armenbehörden das Recht, aus den Armen¬
steuern Mittel zur Auswanderung von verlassenen (äesorwä) Kindern auf¬
zubringen. Indes durfte und darf auch heute kein Kind emigriert werden, das
nicht vor zwei Richtern schriftlich seine Einwilligung gegeben hat.
Noch in den fünfziger Jahren wurde das Beispiel der Raggedschools von
Fürsorgeerziehungsanstalten, besonders dem berühmten Redhill. nachgeahmt und
*) Schule der Zerlumpten 1836 von einem Quäker in Ostlondon gegründet und dann
im System von der Kirche angenommen und erweitert.
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