Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Erfordernisse der Gesctzossprache AIs das wichtigste Erfordernis der Gesetzessprache muß man die Klarheit Darüber, daß der Gesetzgeber sich kurz und knapp ausdrücken soll, wird Grenzboten IV 1912 33
Erfordernisse der Gesctzossprache AIs das wichtigste Erfordernis der Gesetzessprache muß man die Klarheit Darüber, daß der Gesetzgeber sich kurz und knapp ausdrücken soll, wird Grenzboten IV 1912 33
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Erfordernisse der Gesctzossprache
AIs das wichtigste Erfordernis der Gesetzessprache muß man die Klarheit
bezeichnen. Ich verzichte auf eine Begriffsbestimmung, die ebenso leicht zu geben
wie schwer zu nutzen ist. Wesentliche Bedingungen der Klarheit des sprach¬
lichen Ausdrucks sind aber jedenfalls Kürze und Anschaulichkeit. Je mehr an
Stelle einer zusammenfassenden einheitlichen Darstellung eine umständliche Auf¬
zählung aller einzelnen Fälle tritt, um so mehr büßt die Gesetzessprache an
Anschaulichkeit, Übersichtlichkeit und nicht zuletzt an Wucht und Eindringlichkeit
ein. Es mag zugegeben werden, daß es bei den überaus vielgestaltigen und
flüchtigen Rechtsverhältnissen, die der Gesetzgeber unserer Zeit zu ordnen hat,
keine leichte Aufgabe ist, sich knapp und klar auszudrücken. Aber eine genauere
Prüfung unserer Gesetzessprache nach dieser Richtung ergibt, daß hier viel
gesündigt wird. Man vergleiche beispielsweise die umständlich abgefaßten, mit
Einzelheiten überladenen §§ 823. 824 B. G. B. und ZZ 14 bis 17 des Gesetzes
über den unlauteren Wettbewerb mit dem so einfach und klar gehaltenen
Art. 1382 des Locke civil. Die Rechtsprechung der französischen Gerichte über
Schadenersatzfragen mit der Handhabe dieser einfachen Bestimmung ist der
Rechtsprechung unserer Gerichte über denselben Gegenstand vollständig gleich¬
wertig. Die Klarheit und Genauigkeit einer gesetzlichen Bestimmung besteht
nicht darin, daß der Gesetzgeber alle möglichen Fälle bis in die kleinsten Einzel¬
heiten von der hohen Warte, auf der er steht, zu regeln versucht, sondern darin,
daß er darauf vertraut, daß die allgemeinen Vorschriften, die er gibt, bei der
Urteilsfällung in verständnisvoller Weise ausgelegt und angewendet werden.
»Ion multg, Zeck nullum gilt auch für den Gesetzgeber.
Darüber, daß der Gesetzgeber sich kurz und knapp ausdrücken soll, wird
wohl kaum eine Meinungsverschiedenheit bestehen, und diejenigen, die umständlich
und ausführlich abgefaßte Gesetzesvorschriften wie die beiden vorangeführten
über die Schadenersatzpflicht verteidigen, werden darauf hinweisen, daß die ver¬
wickelten Verhältnisse, die zu regeln sind, eine einfachere Ausdrucksweise in
diesem Falle nicht zulassen. Anders steht es mit der Frage der Anschaulichkeit
und der damit im Zusammenhange stehenden Frage der Volkstümlichkeit unserer
Gesetzessprache. Hier handelt es sich nicht um rein sprachliche Formfragen,
sondern um grundsätzliche, rechtswissenschaftliche Anschauungen, die sich schroff
gegenüberstehen und die auch in der Fassung der Gesetze ihren Ausdruck finden.
Der Umstand, daß das Bürgerliche Gesetzbuch eine so wenig volkstümliche
Sprache redet, ist vielleicht in erster Linie nicht darauf zurückzuführen, daß sich
die Verfasser nicht volkstümlicher hätten ausdrücken können, sondern daß sie es
nicht gewollt haben. Es sehlt nicht an Juristen, die eine volkstümliche Aus¬
drucksweise der Gcsetzessprache verwerfen, weil sie glauben, daß das Gesetz
dadurch an Wissenschaftlichkeit einbüße. Diese Auffassung hängt im tiefsten
Grunde zusammen mit dem Streit, der in unseren Tagen so heftig entbrannt
ist zwischen der sogenannten Freirechtsschule und ihren Gegnern, die man als
Vertreter der „konstruktiven Jurisprudenz" zu bezeichnen pflegt. Wie die An-
Grenzboten IV 1912 33
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