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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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vom Disziplinarverfahren

Grade gegen Launen und Willkürlichkeiten der Vorgesetzten, und diese Sicherheit
ist in neuester Zeit ganz erheblich dadurch erhöht worden, daß die Besoldung
nach dem Dienstalter allgemein durchgeführt wurde.

Dazu kommt, daß im allgemeinen das Recht der Untergebenen schon in
dem Wohlwollen und der Gewissenhaftigkeit der Vorgesetzten seinen Schutz findet.
Nur schwer und nach vielfacher Erwägung entschließen sich die vorgesetzten Be¬
hörden zu härteren Strafen.

Trotzdem ist das noch jetzt gültige, das Disziplinarverfahren gegen die nicht
richterlichen Beamten regelnde Gesetz vom 21. Juli 1852 reformbedürftig, wie auch
in den Verhandlungen des Abgeordnetenhauses am 7. Februar d. I. von allen
Parteien in höherem oder geringerem Grade anerkannt wurde. Es entspricht
nicht mehr dem neuzeitlichen Empfinden.

Die Anschauungen find andere geworden.

Früheren Zeiten erschien die Unterordnung des einen Standes unter den
anderen als etwas Natürliches und Gottgewolltes; erst offensichtlicher Mißbrauch
der Macht erregte Unwillen. Diese willige Unterordnung vor dem Höheren,
bloß weil er höher ist, haben wir nirgends mehr. Wir haben unsere Kinder
so erzogen, daß sie wissen, sie sind um ihretwillen, nicht um der Eltern willen
da. Die Eltern selbst verlangen die Anerkennung ihrer Autorität nur, soweit
es durch ihre überlegene Lebenserfahrung berechtigt ist, und auch gut geartete
Kinder würden ein anderes Verhalten der Eltern als unberechtigte Unterdrückung
empfinden. Dieselbe Änderung sehen wir in dem Verhältnis zwischen Lehrern
und Schülern, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Überall genügt nicht
mehr der gute Wille des Befehlenden, es recht zu machen, er muß auch recht
haben, und dem Gehorchenden muß auch verständlich sein, daß dem so ist.

Gewiß ist dadurch die Stellung des Höheren schwieriger geworden, aber
darum wird nicht schlechter gehorcht. Achtungsverletzungen der Kinder gegenüber
den Eltern haben schwerlich zugenommen, die allgemeine Schulzucht ist nicht
schlechter geworden, und die Ordnung in einer Fabrik auch mit sozialdemo¬
kratischer Arbeiterschaft hält sicherlich den Vergleich mit der in den besten Arbeits¬
stätten der alten Handwerksmeister aus. Daß die Gesetze von der Gesamtheit
der Bevölkerung weit besser geachtet werden als in früheren Jahrhunderten,
darüber ist doch gar nicht zu reden, und die Staatsgewalt setzt ihren Willen
bis in die entlegensten Orte ganz anders durch, als das bei den früheren
absoluten Herrschern der Fall war.

Dieser Entwicklung des allgemeinen Lebens dürfte der tatsächliche Verkehr
zwischen Vorgesetzten und Untergebenen im allgemeinen gefolgt sein, und gewiß
wird die große Mehrzahl der Vorgesetzten lieber durch Überzeugung als durch
einfache Anwendung der Dienstgewalt auf den Untergebenen einzuwirken suchen.

Aber Reibungen kommen doch vor. Der Vorgesetzte kann im Drange der
Geschäfte nicht immer liebenswürdig sein, und beim Untergebenen führt der
Zwang zur Unterordnung des eigenen Willens unter den fremden zu seelischen


vom Disziplinarverfahren

Grade gegen Launen und Willkürlichkeiten der Vorgesetzten, und diese Sicherheit
ist in neuester Zeit ganz erheblich dadurch erhöht worden, daß die Besoldung
nach dem Dienstalter allgemein durchgeführt wurde.

Dazu kommt, daß im allgemeinen das Recht der Untergebenen schon in
dem Wohlwollen und der Gewissenhaftigkeit der Vorgesetzten seinen Schutz findet.
Nur schwer und nach vielfacher Erwägung entschließen sich die vorgesetzten Be¬
hörden zu härteren Strafen.

Trotzdem ist das noch jetzt gültige, das Disziplinarverfahren gegen die nicht
richterlichen Beamten regelnde Gesetz vom 21. Juli 1852 reformbedürftig, wie auch
in den Verhandlungen des Abgeordnetenhauses am 7. Februar d. I. von allen
Parteien in höherem oder geringerem Grade anerkannt wurde. Es entspricht
nicht mehr dem neuzeitlichen Empfinden.

Die Anschauungen find andere geworden.

Früheren Zeiten erschien die Unterordnung des einen Standes unter den
anderen als etwas Natürliches und Gottgewolltes; erst offensichtlicher Mißbrauch
der Macht erregte Unwillen. Diese willige Unterordnung vor dem Höheren,
bloß weil er höher ist, haben wir nirgends mehr. Wir haben unsere Kinder
so erzogen, daß sie wissen, sie sind um ihretwillen, nicht um der Eltern willen
da. Die Eltern selbst verlangen die Anerkennung ihrer Autorität nur, soweit
es durch ihre überlegene Lebenserfahrung berechtigt ist, und auch gut geartete
Kinder würden ein anderes Verhalten der Eltern als unberechtigte Unterdrückung
empfinden. Dieselbe Änderung sehen wir in dem Verhältnis zwischen Lehrern
und Schülern, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Überall genügt nicht
mehr der gute Wille des Befehlenden, es recht zu machen, er muß auch recht
haben, und dem Gehorchenden muß auch verständlich sein, daß dem so ist.

Gewiß ist dadurch die Stellung des Höheren schwieriger geworden, aber
darum wird nicht schlechter gehorcht. Achtungsverletzungen der Kinder gegenüber
den Eltern haben schwerlich zugenommen, die allgemeine Schulzucht ist nicht
schlechter geworden, und die Ordnung in einer Fabrik auch mit sozialdemo¬
kratischer Arbeiterschaft hält sicherlich den Vergleich mit der in den besten Arbeits¬
stätten der alten Handwerksmeister aus. Daß die Gesetze von der Gesamtheit
der Bevölkerung weit besser geachtet werden als in früheren Jahrhunderten,
darüber ist doch gar nicht zu reden, und die Staatsgewalt setzt ihren Willen
bis in die entlegensten Orte ganz anders durch, als das bei den früheren
absoluten Herrschern der Fall war.

Dieser Entwicklung des allgemeinen Lebens dürfte der tatsächliche Verkehr
zwischen Vorgesetzten und Untergebenen im allgemeinen gefolgt sein, und gewiß
wird die große Mehrzahl der Vorgesetzten lieber durch Überzeugung als durch
einfache Anwendung der Dienstgewalt auf den Untergebenen einzuwirken suchen.

Aber Reibungen kommen doch vor. Der Vorgesetzte kann im Drange der
Geschäfte nicht immer liebenswürdig sein, und beim Untergebenen führt der
Zwang zur Unterordnung des eigenen Willens unter den fremden zu seelischen


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[0209] vom Disziplinarverfahren Grade gegen Launen und Willkürlichkeiten der Vorgesetzten, und diese Sicherheit ist in neuester Zeit ganz erheblich dadurch erhöht worden, daß die Besoldung nach dem Dienstalter allgemein durchgeführt wurde. Dazu kommt, daß im allgemeinen das Recht der Untergebenen schon in dem Wohlwollen und der Gewissenhaftigkeit der Vorgesetzten seinen Schutz findet. Nur schwer und nach vielfacher Erwägung entschließen sich die vorgesetzten Be¬ hörden zu härteren Strafen. Trotzdem ist das noch jetzt gültige, das Disziplinarverfahren gegen die nicht richterlichen Beamten regelnde Gesetz vom 21. Juli 1852 reformbedürftig, wie auch in den Verhandlungen des Abgeordnetenhauses am 7. Februar d. I. von allen Parteien in höherem oder geringerem Grade anerkannt wurde. Es entspricht nicht mehr dem neuzeitlichen Empfinden. Die Anschauungen find andere geworden. Früheren Zeiten erschien die Unterordnung des einen Standes unter den anderen als etwas Natürliches und Gottgewolltes; erst offensichtlicher Mißbrauch der Macht erregte Unwillen. Diese willige Unterordnung vor dem Höheren, bloß weil er höher ist, haben wir nirgends mehr. Wir haben unsere Kinder so erzogen, daß sie wissen, sie sind um ihretwillen, nicht um der Eltern willen da. Die Eltern selbst verlangen die Anerkennung ihrer Autorität nur, soweit es durch ihre überlegene Lebenserfahrung berechtigt ist, und auch gut geartete Kinder würden ein anderes Verhalten der Eltern als unberechtigte Unterdrückung empfinden. Dieselbe Änderung sehen wir in dem Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Überall genügt nicht mehr der gute Wille des Befehlenden, es recht zu machen, er muß auch recht haben, und dem Gehorchenden muß auch verständlich sein, daß dem so ist. Gewiß ist dadurch die Stellung des Höheren schwieriger geworden, aber darum wird nicht schlechter gehorcht. Achtungsverletzungen der Kinder gegenüber den Eltern haben schwerlich zugenommen, die allgemeine Schulzucht ist nicht schlechter geworden, und die Ordnung in einer Fabrik auch mit sozialdemo¬ kratischer Arbeiterschaft hält sicherlich den Vergleich mit der in den besten Arbeits¬ stätten der alten Handwerksmeister aus. Daß die Gesetze von der Gesamtheit der Bevölkerung weit besser geachtet werden als in früheren Jahrhunderten, darüber ist doch gar nicht zu reden, und die Staatsgewalt setzt ihren Willen bis in die entlegensten Orte ganz anders durch, als das bei den früheren absoluten Herrschern der Fall war. Dieser Entwicklung des allgemeinen Lebens dürfte der tatsächliche Verkehr zwischen Vorgesetzten und Untergebenen im allgemeinen gefolgt sein, und gewiß wird die große Mehrzahl der Vorgesetzten lieber durch Überzeugung als durch einfache Anwendung der Dienstgewalt auf den Untergebenen einzuwirken suchen. Aber Reibungen kommen doch vor. Der Vorgesetzte kann im Drange der Geschäfte nicht immer liebenswürdig sein, und beim Untergebenen führt der Zwang zur Unterordnung des eigenen Willens unter den fremden zu seelischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/209>, abgerufen am 15.01.2025.