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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Karl Salzer

Da merkt die Jungfer, was sie dem Burschen ist: eine Stütze, die nicht
brechen darf, wenn er aufrecht stehen soll. Sie sagt:

"Bub, versteh mich net falsch I Ich geh fort von Spelzheim, weil ich in
Pfeddersheim mein Brot leichter verdienen kann. Du mußt dran denken, lieber
Karl, daß ich net mehr jung bei Jahren bin und Tag für Tag älter werde. Und
in der Fabrik verdien ich mein Geld leichter, als wenn ich mit den Bauern als
Taglöhnerin bei Wind und Wetter drauß auf dem Acker steh, was ich zudem
garnet mehr so gewöhnt bin. Ich miet mir drüben in Pfeddersheim eine Slud,
wo ich meine paar Habseligkeiten einstell, und so werd ich mein Tagwerk zu Ende
bringen!"

Karl stellt sich das so vor, wie er seiner Tante Gesicht nicht mehr sehen und
ihre Stimme nicht mehr hören wird, und noch ehe sie fort ist, quillt schon das
Heimweh nach ihr in ihm auf; er sagt:

"Aber, Tante Seelchen, da sehen wir uns ja garnet mehr!"

"Als ob Spelzheim und Pfeddersheim eine Welt weit auseinander täten
liegen!" erwidert sie. "Vielleicht darfst du vom Vetter Holtner aus mein Bißjen
Möbel nüberfahren. Und zudem: wenn du immer an das denkst, was ich dir
gestern Abend gesagt hab, da mußt du mich um dich herum fühlen, auch wenn
ich mal net mehr da bin!"

Tante Seelchen, die Tapfere, ist ein wenig lebensmüde geworden, aber sie
will es sich nicht eingestehen, obwohl sie diese Lebensmüdigkeit seit der an¬
klagenden Frage ihres Neffen bereits als eine Schuld ihm gegenüber empfindet.
Sie sagt:

"Hörst du, lieber Bub, was ich dir gesagt hab? Wenn du an meine Be¬
lehrungen denkst, wirst du immer fühlen, daß ich bei dir bin!"

"Ja, Tante Seelchen, die werd ich auch meiner Lebtag net vergessen!" ant¬
wortet der Bursche.

Und dann schweigen sie. Tante Seelchen denkt trübe Gedanken. Und wenn
auch Karls Seele niedergedrückt ist -- sie ist immer noch jugendstark genug, aus
sich heraus die freudige Erwartung auf Tante Settchens Umzug erblühen zu lassen,
die sie bald ganz erfüllt.

Erst das Erscheinen der Sargträger treibt die Beiden auf.

"Bub, du trägst mir das Kreuz voran und gehst mit naus, damit es auf
dem Kirchhof ordnungsmäßig zugeht!" sagt Seelchen und zündet dann die Lampe
an, um den Männern die Stiege hinauf zu leuchten. Karl trägt die beiden Böcke,
auf denen der Sarg stand, hinunter.

Die Viere poltern schwer die Treppe wieder hinab. Sie haben der Jungfer
kaum Zeit gelassen, mit dem Palmbüschelchen einige Spritzer Weihwasser über den
Sarg zu sprengen.

Im Hofe stellen sie die Lade noch einmal ab auf die von Karl bereit gestellten
Böcke. Tante Seelchen hat ihre liebe Not, dem rohen Gerede der Menschen Einhalt
zu tun.

"Ihr habt so viel Anstand gehabt und habt euch Sonntags angezogen, aber
inwendig habt ihr kein Ehrgefühl. Schämt euch doch ein klein Bißjen!" sagt sie
mit barscher Stimme. Doch ihre Worte machen wenig Eindruck. Man droht ihr,


Karl Salzer

Da merkt die Jungfer, was sie dem Burschen ist: eine Stütze, die nicht
brechen darf, wenn er aufrecht stehen soll. Sie sagt:

„Bub, versteh mich net falsch I Ich geh fort von Spelzheim, weil ich in
Pfeddersheim mein Brot leichter verdienen kann. Du mußt dran denken, lieber
Karl, daß ich net mehr jung bei Jahren bin und Tag für Tag älter werde. Und
in der Fabrik verdien ich mein Geld leichter, als wenn ich mit den Bauern als
Taglöhnerin bei Wind und Wetter drauß auf dem Acker steh, was ich zudem
garnet mehr so gewöhnt bin. Ich miet mir drüben in Pfeddersheim eine Slud,
wo ich meine paar Habseligkeiten einstell, und so werd ich mein Tagwerk zu Ende
bringen!"

Karl stellt sich das so vor, wie er seiner Tante Gesicht nicht mehr sehen und
ihre Stimme nicht mehr hören wird, und noch ehe sie fort ist, quillt schon das
Heimweh nach ihr in ihm auf; er sagt:

„Aber, Tante Seelchen, da sehen wir uns ja garnet mehr!"

„Als ob Spelzheim und Pfeddersheim eine Welt weit auseinander täten
liegen!" erwidert sie. „Vielleicht darfst du vom Vetter Holtner aus mein Bißjen
Möbel nüberfahren. Und zudem: wenn du immer an das denkst, was ich dir
gestern Abend gesagt hab, da mußt du mich um dich herum fühlen, auch wenn
ich mal net mehr da bin!"

Tante Seelchen, die Tapfere, ist ein wenig lebensmüde geworden, aber sie
will es sich nicht eingestehen, obwohl sie diese Lebensmüdigkeit seit der an¬
klagenden Frage ihres Neffen bereits als eine Schuld ihm gegenüber empfindet.
Sie sagt:

„Hörst du, lieber Bub, was ich dir gesagt hab? Wenn du an meine Be¬
lehrungen denkst, wirst du immer fühlen, daß ich bei dir bin!"

„Ja, Tante Seelchen, die werd ich auch meiner Lebtag net vergessen!" ant¬
wortet der Bursche.

Und dann schweigen sie. Tante Seelchen denkt trübe Gedanken. Und wenn
auch Karls Seele niedergedrückt ist — sie ist immer noch jugendstark genug, aus
sich heraus die freudige Erwartung auf Tante Settchens Umzug erblühen zu lassen,
die sie bald ganz erfüllt.

Erst das Erscheinen der Sargträger treibt die Beiden auf.

„Bub, du trägst mir das Kreuz voran und gehst mit naus, damit es auf
dem Kirchhof ordnungsmäßig zugeht!" sagt Seelchen und zündet dann die Lampe
an, um den Männern die Stiege hinauf zu leuchten. Karl trägt die beiden Böcke,
auf denen der Sarg stand, hinunter.

Die Viere poltern schwer die Treppe wieder hinab. Sie haben der Jungfer
kaum Zeit gelassen, mit dem Palmbüschelchen einige Spritzer Weihwasser über den
Sarg zu sprengen.

Im Hofe stellen sie die Lade noch einmal ab auf die von Karl bereit gestellten
Böcke. Tante Seelchen hat ihre liebe Not, dem rohen Gerede der Menschen Einhalt
zu tun.

„Ihr habt so viel Anstand gehabt und habt euch Sonntags angezogen, aber
inwendig habt ihr kein Ehrgefühl. Schämt euch doch ein klein Bißjen!" sagt sie
mit barscher Stimme. Doch ihre Worte machen wenig Eindruck. Man droht ihr,


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[0179] Karl Salzer Da merkt die Jungfer, was sie dem Burschen ist: eine Stütze, die nicht brechen darf, wenn er aufrecht stehen soll. Sie sagt: „Bub, versteh mich net falsch I Ich geh fort von Spelzheim, weil ich in Pfeddersheim mein Brot leichter verdienen kann. Du mußt dran denken, lieber Karl, daß ich net mehr jung bei Jahren bin und Tag für Tag älter werde. Und in der Fabrik verdien ich mein Geld leichter, als wenn ich mit den Bauern als Taglöhnerin bei Wind und Wetter drauß auf dem Acker steh, was ich zudem garnet mehr so gewöhnt bin. Ich miet mir drüben in Pfeddersheim eine Slud, wo ich meine paar Habseligkeiten einstell, und so werd ich mein Tagwerk zu Ende bringen!" Karl stellt sich das so vor, wie er seiner Tante Gesicht nicht mehr sehen und ihre Stimme nicht mehr hören wird, und noch ehe sie fort ist, quillt schon das Heimweh nach ihr in ihm auf; er sagt: „Aber, Tante Seelchen, da sehen wir uns ja garnet mehr!" „Als ob Spelzheim und Pfeddersheim eine Welt weit auseinander täten liegen!" erwidert sie. „Vielleicht darfst du vom Vetter Holtner aus mein Bißjen Möbel nüberfahren. Und zudem: wenn du immer an das denkst, was ich dir gestern Abend gesagt hab, da mußt du mich um dich herum fühlen, auch wenn ich mal net mehr da bin!" Tante Seelchen, die Tapfere, ist ein wenig lebensmüde geworden, aber sie will es sich nicht eingestehen, obwohl sie diese Lebensmüdigkeit seit der an¬ klagenden Frage ihres Neffen bereits als eine Schuld ihm gegenüber empfindet. Sie sagt: „Hörst du, lieber Bub, was ich dir gesagt hab? Wenn du an meine Be¬ lehrungen denkst, wirst du immer fühlen, daß ich bei dir bin!" „Ja, Tante Seelchen, die werd ich auch meiner Lebtag net vergessen!" ant¬ wortet der Bursche. Und dann schweigen sie. Tante Seelchen denkt trübe Gedanken. Und wenn auch Karls Seele niedergedrückt ist — sie ist immer noch jugendstark genug, aus sich heraus die freudige Erwartung auf Tante Settchens Umzug erblühen zu lassen, die sie bald ganz erfüllt. Erst das Erscheinen der Sargträger treibt die Beiden auf. „Bub, du trägst mir das Kreuz voran und gehst mit naus, damit es auf dem Kirchhof ordnungsmäßig zugeht!" sagt Seelchen und zündet dann die Lampe an, um den Männern die Stiege hinauf zu leuchten. Karl trägt die beiden Böcke, auf denen der Sarg stand, hinunter. Die Viere poltern schwer die Treppe wieder hinab. Sie haben der Jungfer kaum Zeit gelassen, mit dem Palmbüschelchen einige Spritzer Weihwasser über den Sarg zu sprengen. Im Hofe stellen sie die Lade noch einmal ab auf die von Karl bereit gestellten Böcke. Tante Seelchen hat ihre liebe Not, dem rohen Gerede der Menschen Einhalt zu tun. „Ihr habt so viel Anstand gehabt und habt euch Sonntags angezogen, aber inwendig habt ihr kein Ehrgefühl. Schämt euch doch ein klein Bißjen!" sagt sie mit barscher Stimme. Doch ihre Worte machen wenig Eindruck. Man droht ihr,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/179>, abgerufen am 15.01.2025.