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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Freiherr von Marschall

Kulturkampfs hatten diese Gegensätze verschärft, anderseits war auch Baden nicht
unberührt geblieben durch das von der Reichspolitik ausgehende Abflauen der
Stimmung, die bis dahin dem Nationalliberalismus eine beherrschende Stellung
gesichert hatte. So sahen die badischen Konservativen ihre Hoffnungen gestärkt;
denn mehr als früher fühlte man im Lande den Mißstano, daß sich seit der
Schwächung des nationalen, maßvollen Liberalismus und der Verschärfung der
konfessionellen Gegensätze die immerhin beachtenswerten konservativen und evan¬
gelisch-positiv gerichteten Elemente immer mehr zurückgedrängt sahen. Freiherr
von Marschall wurde der Führer dieser konservativen und evangelisch-kirchlichen
Bewegung, und so lag es nahe, das Ansehen seiner Persönlichkeit auch bei den
Reichstagswahlen auszunutzen -- mit dem Erfolge, daß Marschall als Vertreter
des 10. badischen Wahlkreises in den Reichstag einzog, wo er sich der deutsch¬
konservativen Partei anschloß. Wer das Wesen des späteren Staatsmannes
richtig erkennen will, darf diese Grundlage seiner politischen Richtung nicht über¬
sehen. Sie zeigt, daß der Gegensatz, in den er später zu seinen ehemaligen
Parteigenossen geriet, nicht auf ursprünglicher und grundsätzlicher Meinungs¬
verschiedenheit beruhte, sondern durch besondere Umstände herbeigeführt wurde.
Abgesehen davon wird man zweierlei beachten müssen. Wenn sich jemand aus
den Reihen einer Partei heraus zum Staatsmann entwickelt, wird er immer
leicht das besondere Mißfallen derer erregen, die mit ihm früher an einem
Strang gezogen haben. Denn vom Parteistandpunkt gesehen, erscheint die Persön¬
lichkeit, die einen umfassenderen Blick gewonnen hat, natürlich als ein Abtrünniger,
und in die übliche Bekämpfung der abweichenden Meinung des ehemaligen
Freundes mischt sich noch die Bitterkeit der Enttäuschung und Kränkung. Dann
aber kam vielleicht noch etwas anderes hinzu. Vielleicht empfand Marschall
schon während seiner Zugehörigkeit zur deutschkonservativen Fraktion manches,
was ihn von seinen Parteifreunden trennte. Denn es ist nicht anzunehmen,
daß er, der Angehörige eines süddeutschen Mittelstaates, mit seinem doch recht
anders gearteten Stammescharakter, sich ohne weiteres mit den Eigentümlich¬
keiten des preußischen Konservatismus, der auf ganz anderen geschichtlichen
Traditionen beruht, eins gefühlt haben sollte. Und vielleicht hat diese gerade
bei grundsätzlicher Übereinstimmung dennoch gefühlte leise Differenz nicht un¬
wesentlich dazu mitgewirkt, den Parteimann zum Staatsmann umzuformen.

Marschall ist nicht lange Reichstagsabgeordneter gewesen. Er war bei der
Neuorganisation des Justizwesens im Jahre 1879 Landgerichtsrat geworden,
und diese Tätigkeit lockte ihn mehr als das Mandat, das er bei den Neuwahlen
von 1881 nicht wieder erneuern ließ. Bald darauf wurde er Erster Staats¬
anwalt, und so schien ihn der alte Beruf doch wieder festhalten zu wollen. Aber
schon war seine politische Befähigung zu deutlich hervorgetreten, als daß sein
Landesfürst auf diese Kraft hätte verzichten können. Im Jahre 1883 ernannte
ihn der Großherzog zum badischen Gesandten in Berlin und zum Bevollmächtigten
beim Bundesrat. So war er nun doch in das Zentrum der Reichspolitik gestellt


Freiherr von Marschall

Kulturkampfs hatten diese Gegensätze verschärft, anderseits war auch Baden nicht
unberührt geblieben durch das von der Reichspolitik ausgehende Abflauen der
Stimmung, die bis dahin dem Nationalliberalismus eine beherrschende Stellung
gesichert hatte. So sahen die badischen Konservativen ihre Hoffnungen gestärkt;
denn mehr als früher fühlte man im Lande den Mißstano, daß sich seit der
Schwächung des nationalen, maßvollen Liberalismus und der Verschärfung der
konfessionellen Gegensätze die immerhin beachtenswerten konservativen und evan¬
gelisch-positiv gerichteten Elemente immer mehr zurückgedrängt sahen. Freiherr
von Marschall wurde der Führer dieser konservativen und evangelisch-kirchlichen
Bewegung, und so lag es nahe, das Ansehen seiner Persönlichkeit auch bei den
Reichstagswahlen auszunutzen — mit dem Erfolge, daß Marschall als Vertreter
des 10. badischen Wahlkreises in den Reichstag einzog, wo er sich der deutsch¬
konservativen Partei anschloß. Wer das Wesen des späteren Staatsmannes
richtig erkennen will, darf diese Grundlage seiner politischen Richtung nicht über¬
sehen. Sie zeigt, daß der Gegensatz, in den er später zu seinen ehemaligen
Parteigenossen geriet, nicht auf ursprünglicher und grundsätzlicher Meinungs¬
verschiedenheit beruhte, sondern durch besondere Umstände herbeigeführt wurde.
Abgesehen davon wird man zweierlei beachten müssen. Wenn sich jemand aus
den Reihen einer Partei heraus zum Staatsmann entwickelt, wird er immer
leicht das besondere Mißfallen derer erregen, die mit ihm früher an einem
Strang gezogen haben. Denn vom Parteistandpunkt gesehen, erscheint die Persön¬
lichkeit, die einen umfassenderen Blick gewonnen hat, natürlich als ein Abtrünniger,
und in die übliche Bekämpfung der abweichenden Meinung des ehemaligen
Freundes mischt sich noch die Bitterkeit der Enttäuschung und Kränkung. Dann
aber kam vielleicht noch etwas anderes hinzu. Vielleicht empfand Marschall
schon während seiner Zugehörigkeit zur deutschkonservativen Fraktion manches,
was ihn von seinen Parteifreunden trennte. Denn es ist nicht anzunehmen,
daß er, der Angehörige eines süddeutschen Mittelstaates, mit seinem doch recht
anders gearteten Stammescharakter, sich ohne weiteres mit den Eigentümlich¬
keiten des preußischen Konservatismus, der auf ganz anderen geschichtlichen
Traditionen beruht, eins gefühlt haben sollte. Und vielleicht hat diese gerade
bei grundsätzlicher Übereinstimmung dennoch gefühlte leise Differenz nicht un¬
wesentlich dazu mitgewirkt, den Parteimann zum Staatsmann umzuformen.

Marschall ist nicht lange Reichstagsabgeordneter gewesen. Er war bei der
Neuorganisation des Justizwesens im Jahre 1879 Landgerichtsrat geworden,
und diese Tätigkeit lockte ihn mehr als das Mandat, das er bei den Neuwahlen
von 1881 nicht wieder erneuern ließ. Bald darauf wurde er Erster Staats¬
anwalt, und so schien ihn der alte Beruf doch wieder festhalten zu wollen. Aber
schon war seine politische Befähigung zu deutlich hervorgetreten, als daß sein
Landesfürst auf diese Kraft hätte verzichten können. Im Jahre 1883 ernannte
ihn der Großherzog zum badischen Gesandten in Berlin und zum Bevollmächtigten
beim Bundesrat. So war er nun doch in das Zentrum der Reichspolitik gestellt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/16>, abgerufen am 15.01.2025.