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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Und sie schweigt dann eine Weile und schüttelt nur den Kopf. Aber ihre
Gedanken lassen sich nicht verjagen durch das Schütteln. Darum sagt sie zu
ihrem Neffen, der neben dem Küchenherde sitzt und sein Gesicht mit den Händen
verdeckt hält, während sie selbst ein Glas mit Wasser füllt und einen Eßlöffel
hineinstellt:

"Lieber Bub, laß dir's eine Warnung sein: Unrecht Gut gedeiht nicht!"

Danach nimmt sie die Medizin und geht ins Krankenzimmer.

Karl aber sitzt, starrt und brütet. Seine Seele ist erschüttert und geschüttelt,
aufgerührt bis auf den Grund. Und alles, was in sie versenkt ist, steigt daraus
empor. Und da es in der Küche so stille ist und oben die Speichertüre leise knarrt,
mit der ein Luftzug spielt, gruselt es ihm den Rücken hinunter. Er meint, nun
müsse der blutige Tote zur Treppe herunterkommen und laut seine Schuld bekennen.
Oder sagen: es ist alles nicht wahr. Aber das könnte der Tote nicht, denn er
ist schuldig. Schuldig der Fälschung, des Betrugs, des Diebstahls. Dieser Dinge
ist er schuldig.

Als Karl mit seinen Erwägungen hier angelangt ist, sinkt er in sich zusammen,
der Oberkörper ist tief hinuntergebeugt; fast auf dem Oberschenkel liegt er auf.
Sekundenlang nur, und dann stößt er plötzlich wieder steil auf. Denn es sind
noch nicht genug der Schulden des Vaters. Selbstmörder ist er, und das ist das
Schlimmste und das Schrecklichste. Es ist so, wie es ihm die Hungelsgret nach¬
gerufen hat.

Der Bursche sieht sich wieder in der Schule vor dem Pfarrer stehen, und
die Katechismusfragen hört er sich beantworten.

Der Selbstmörder verletzt das Herrschaftsrecht Gottes, beraubt die mensch¬
liche Gesellschaft und seine eigenen Angehörigen seiner Tätigkeit, gleicht dem
Soldaten, der feige seinen Posten verläßt, er gibt furchtbares Ärgernis, über¬
häuft die Seinigen mit Schmach und Schande und überliefert sich selbst der
ewigen Qual.

So mußte er es aufsagen; Worte wie prallende Donnerschläge. Und dann
erklärte der Pfarrer immer wieder: Wenn ein Mensch, der durch eigene Hand
aus diesem Leben geschieden ist, in dem besonderen Gerichte der Menschenseele nach
dem Tode vor das Antlitz des allmächtigen Gottes tritt, dann fragt der erzürnte
Gott: Was willst du hier? Ich habe dich nicht gerufen I Wer hat ein Recht,
zu kommen, wenn ich, der Herr, nicht gerufen habe? Weiche von mir,
Verfluchter, in das ewige Feuer, in die äußerste Finsternis, wo Heulen und Znhne-
knirschcn istl

Karl hört den schauerlichen Fluch Gottes durch die unendlichen Räume des
Himmels hallen. Sein Blut siedet und flackert rot vor den Augen. Da springt
er auf und stürzt in den Hof; unter die Menschen drängt es ihn, er läuft in die
Scheuer.

Die Tagelöhner haben ihre Arbeit nahezu beendet. Einer fragt:

"Na, Karl?"

Der Junge zwingt seine Ohren, die Frage des Mannes durch das Brausen
seiner tosenden Gedanken zu hören, und versucht, die wie Sturzbäche wirbelnde
Flut der Gedanken selbst zu bändigen. Er straffe den Kopf in die Höhe. Die
da sollen nicht merken, daß er, der Karl Salzer, durcheinander zu bringen ist.


Grenzboten III 1S12 79

Und sie schweigt dann eine Weile und schüttelt nur den Kopf. Aber ihre
Gedanken lassen sich nicht verjagen durch das Schütteln. Darum sagt sie zu
ihrem Neffen, der neben dem Küchenherde sitzt und sein Gesicht mit den Händen
verdeckt hält, während sie selbst ein Glas mit Wasser füllt und einen Eßlöffel
hineinstellt:

„Lieber Bub, laß dir's eine Warnung sein: Unrecht Gut gedeiht nicht!"

Danach nimmt sie die Medizin und geht ins Krankenzimmer.

Karl aber sitzt, starrt und brütet. Seine Seele ist erschüttert und geschüttelt,
aufgerührt bis auf den Grund. Und alles, was in sie versenkt ist, steigt daraus
empor. Und da es in der Küche so stille ist und oben die Speichertüre leise knarrt,
mit der ein Luftzug spielt, gruselt es ihm den Rücken hinunter. Er meint, nun
müsse der blutige Tote zur Treppe herunterkommen und laut seine Schuld bekennen.
Oder sagen: es ist alles nicht wahr. Aber das könnte der Tote nicht, denn er
ist schuldig. Schuldig der Fälschung, des Betrugs, des Diebstahls. Dieser Dinge
ist er schuldig.

Als Karl mit seinen Erwägungen hier angelangt ist, sinkt er in sich zusammen,
der Oberkörper ist tief hinuntergebeugt; fast auf dem Oberschenkel liegt er auf.
Sekundenlang nur, und dann stößt er plötzlich wieder steil auf. Denn es sind
noch nicht genug der Schulden des Vaters. Selbstmörder ist er, und das ist das
Schlimmste und das Schrecklichste. Es ist so, wie es ihm die Hungelsgret nach¬
gerufen hat.

Der Bursche sieht sich wieder in der Schule vor dem Pfarrer stehen, und
die Katechismusfragen hört er sich beantworten.

Der Selbstmörder verletzt das Herrschaftsrecht Gottes, beraubt die mensch¬
liche Gesellschaft und seine eigenen Angehörigen seiner Tätigkeit, gleicht dem
Soldaten, der feige seinen Posten verläßt, er gibt furchtbares Ärgernis, über¬
häuft die Seinigen mit Schmach und Schande und überliefert sich selbst der
ewigen Qual.

So mußte er es aufsagen; Worte wie prallende Donnerschläge. Und dann
erklärte der Pfarrer immer wieder: Wenn ein Mensch, der durch eigene Hand
aus diesem Leben geschieden ist, in dem besonderen Gerichte der Menschenseele nach
dem Tode vor das Antlitz des allmächtigen Gottes tritt, dann fragt der erzürnte
Gott: Was willst du hier? Ich habe dich nicht gerufen I Wer hat ein Recht,
zu kommen, wenn ich, der Herr, nicht gerufen habe? Weiche von mir,
Verfluchter, in das ewige Feuer, in die äußerste Finsternis, wo Heulen und Znhne-
knirschcn istl

Karl hört den schauerlichen Fluch Gottes durch die unendlichen Räume des
Himmels hallen. Sein Blut siedet und flackert rot vor den Augen. Da springt
er auf und stürzt in den Hof; unter die Menschen drängt es ihn, er läuft in die
Scheuer.

Die Tagelöhner haben ihre Arbeit nahezu beendet. Einer fragt:

„Na, Karl?"

Der Junge zwingt seine Ohren, die Frage des Mannes durch das Brausen
seiner tosenden Gedanken zu hören, und versucht, die wie Sturzbäche wirbelnde
Flut der Gedanken selbst zu bändigen. Er straffe den Kopf in die Höhe. Die
da sollen nicht merken, daß er, der Karl Salzer, durcheinander zu bringen ist.


Grenzboten III 1S12 79
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/633>, abgerufen am 22.07.2024.