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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Neuer Glauben

auch eine Sache der Masse, im Anfang des Christentums, selbst in den Zeiten
der Mystik, in der Reformationszeit, in der pietistischen Bewegung. Auch heute
müssen wir sie deshalb da suchen, wo Massen in Erregung geraten. "

Nach langem Schweigen der Völker waren es zuerst die nationalen
Empfindungen, welche Massenbewegungen schufen. Für unseren heutigen Kultur¬
kreis wurden sie erzeugt durch die französische Revolution, die geistigen Erregungen,
welche ihr vorangingen, und die politischen, welche ihr folgten; vorher existierten
sie nicht, erst durch sie sind innerhalb des modernen Staatssystems die heutigen
Nationen entstanden: Massen von verschiedener Herkunft, verschiedener Klassen-
angehörigkeit, verschiedener Bildung, selbst, wie in der Schweiz und den Ver¬
einigten Staaten, von verschiedener Sprache, die sich doch als etwas Zusammen¬
gehöriges, als eine Einheit empfinden. Während der Revolution entstehen die
ersten Klassengefühle, die dann im neunzehnten Jahrhundert sich immer mehr
nuancieren; sie gehen quer durch die Nationen hindurch und ballen sogar, wie
bei den Industriearbeitern, Gruppen verschiedener Nationen zusammen. Schon
lange ist von Beobachtern anerkannt, daß in den Bewegungen, welche durch
diese Gefühle und Empfindungen erzeugt werden, Handlungen und Gesinnungen
zutage treten, die man nur als religiöse bezeichnen kann. Es sollen hier nur
die allerklarsten Dinge erwähnt werden, deshalb wird von zarteren Erscheinungen
geschwiegen, etwa der merkwürdigen Ausbreitung der Humanitätsideale, welche
eine praktisch törichte, in der Empfindung aber großartige Vorstellung von der
Gemeinschaft der gesamten Menschheit erzeugen: höchst merkwürdig am Vorabend
eines Kampfes auf Leben und Tod, den die Europäer gegen die Mongolen
werden führen müssen. In allen diesen Ideen, Idealen, Empfindungen, Vor¬
stellungen lebt etwas merkwürdig Zwingendes, welches die Menschen oft gegen
ihre direkten persönlichen Interessen und Neigungen treibt zu Handlungen, deren
Ziele in vielen Fällen kaum vernünftiger zu nennen sind wie etwa das tausend¬
jährige Reich der alten Christen. Diejenigen Menschen, welche die Schrift "das
Salz der Erde" nennt -- die anderen, die geistig Toten, kommen ja nicht in
Frage -- sind hier beschäftigt, hier vergessen sie die quälende Frage nach dem
Sinn und Zweck des Lebens -- ihres Lebens.

Woher mag nun der merkwürdige Glaube kommen, daß eine Arbeit "für
die Menschheit" zweckvoll sei, eine Arbeit für die bloß persönlichen Interessen
zwecklos? Wie schon gesagt, da die Menschheit doch nur die Summe der ein¬
zelnen ist, kann rein logisch doch hier nichts prinzipiell Neues entstehen; und doch
fühlen wir das Neue.

Hier kann man wohl nicht weitergehen, hier beginnen die Geheimnisse für
unseren Verstand. Man sollte sich da vor metaphysischen Worten hüten, wie
"Selbstdarstellung Gottes in der Menschheit" und ähnliches, das an Hegelsche
Terminologie anklingt, ähnlich wie die moderne Biologie gut täte, das gefähr¬
liche Wort "Lebenskraft" zu vermeiden: durch solche Worte macht man nichts
klarer, sondern man verwischt nur und erweckt durch Assoziationen falsche Vor-


Neuer Glauben

auch eine Sache der Masse, im Anfang des Christentums, selbst in den Zeiten
der Mystik, in der Reformationszeit, in der pietistischen Bewegung. Auch heute
müssen wir sie deshalb da suchen, wo Massen in Erregung geraten. «

Nach langem Schweigen der Völker waren es zuerst die nationalen
Empfindungen, welche Massenbewegungen schufen. Für unseren heutigen Kultur¬
kreis wurden sie erzeugt durch die französische Revolution, die geistigen Erregungen,
welche ihr vorangingen, und die politischen, welche ihr folgten; vorher existierten
sie nicht, erst durch sie sind innerhalb des modernen Staatssystems die heutigen
Nationen entstanden: Massen von verschiedener Herkunft, verschiedener Klassen-
angehörigkeit, verschiedener Bildung, selbst, wie in der Schweiz und den Ver¬
einigten Staaten, von verschiedener Sprache, die sich doch als etwas Zusammen¬
gehöriges, als eine Einheit empfinden. Während der Revolution entstehen die
ersten Klassengefühle, die dann im neunzehnten Jahrhundert sich immer mehr
nuancieren; sie gehen quer durch die Nationen hindurch und ballen sogar, wie
bei den Industriearbeitern, Gruppen verschiedener Nationen zusammen. Schon
lange ist von Beobachtern anerkannt, daß in den Bewegungen, welche durch
diese Gefühle und Empfindungen erzeugt werden, Handlungen und Gesinnungen
zutage treten, die man nur als religiöse bezeichnen kann. Es sollen hier nur
die allerklarsten Dinge erwähnt werden, deshalb wird von zarteren Erscheinungen
geschwiegen, etwa der merkwürdigen Ausbreitung der Humanitätsideale, welche
eine praktisch törichte, in der Empfindung aber großartige Vorstellung von der
Gemeinschaft der gesamten Menschheit erzeugen: höchst merkwürdig am Vorabend
eines Kampfes auf Leben und Tod, den die Europäer gegen die Mongolen
werden führen müssen. In allen diesen Ideen, Idealen, Empfindungen, Vor¬
stellungen lebt etwas merkwürdig Zwingendes, welches die Menschen oft gegen
ihre direkten persönlichen Interessen und Neigungen treibt zu Handlungen, deren
Ziele in vielen Fällen kaum vernünftiger zu nennen sind wie etwa das tausend¬
jährige Reich der alten Christen. Diejenigen Menschen, welche die Schrift „das
Salz der Erde" nennt — die anderen, die geistig Toten, kommen ja nicht in
Frage — sind hier beschäftigt, hier vergessen sie die quälende Frage nach dem
Sinn und Zweck des Lebens — ihres Lebens.

Woher mag nun der merkwürdige Glaube kommen, daß eine Arbeit „für
die Menschheit" zweckvoll sei, eine Arbeit für die bloß persönlichen Interessen
zwecklos? Wie schon gesagt, da die Menschheit doch nur die Summe der ein¬
zelnen ist, kann rein logisch doch hier nichts prinzipiell Neues entstehen; und doch
fühlen wir das Neue.

Hier kann man wohl nicht weitergehen, hier beginnen die Geheimnisse für
unseren Verstand. Man sollte sich da vor metaphysischen Worten hüten, wie
„Selbstdarstellung Gottes in der Menschheit" und ähnliches, das an Hegelsche
Terminologie anklingt, ähnlich wie die moderne Biologie gut täte, das gefähr¬
liche Wort „Lebenskraft" zu vermeiden: durch solche Worte macht man nichts
klarer, sondern man verwischt nur und erweckt durch Assoziationen falsche Vor-


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[0611] Neuer Glauben auch eine Sache der Masse, im Anfang des Christentums, selbst in den Zeiten der Mystik, in der Reformationszeit, in der pietistischen Bewegung. Auch heute müssen wir sie deshalb da suchen, wo Massen in Erregung geraten. « Nach langem Schweigen der Völker waren es zuerst die nationalen Empfindungen, welche Massenbewegungen schufen. Für unseren heutigen Kultur¬ kreis wurden sie erzeugt durch die französische Revolution, die geistigen Erregungen, welche ihr vorangingen, und die politischen, welche ihr folgten; vorher existierten sie nicht, erst durch sie sind innerhalb des modernen Staatssystems die heutigen Nationen entstanden: Massen von verschiedener Herkunft, verschiedener Klassen- angehörigkeit, verschiedener Bildung, selbst, wie in der Schweiz und den Ver¬ einigten Staaten, von verschiedener Sprache, die sich doch als etwas Zusammen¬ gehöriges, als eine Einheit empfinden. Während der Revolution entstehen die ersten Klassengefühle, die dann im neunzehnten Jahrhundert sich immer mehr nuancieren; sie gehen quer durch die Nationen hindurch und ballen sogar, wie bei den Industriearbeitern, Gruppen verschiedener Nationen zusammen. Schon lange ist von Beobachtern anerkannt, daß in den Bewegungen, welche durch diese Gefühle und Empfindungen erzeugt werden, Handlungen und Gesinnungen zutage treten, die man nur als religiöse bezeichnen kann. Es sollen hier nur die allerklarsten Dinge erwähnt werden, deshalb wird von zarteren Erscheinungen geschwiegen, etwa der merkwürdigen Ausbreitung der Humanitätsideale, welche eine praktisch törichte, in der Empfindung aber großartige Vorstellung von der Gemeinschaft der gesamten Menschheit erzeugen: höchst merkwürdig am Vorabend eines Kampfes auf Leben und Tod, den die Europäer gegen die Mongolen werden führen müssen. In allen diesen Ideen, Idealen, Empfindungen, Vor¬ stellungen lebt etwas merkwürdig Zwingendes, welches die Menschen oft gegen ihre direkten persönlichen Interessen und Neigungen treibt zu Handlungen, deren Ziele in vielen Fällen kaum vernünftiger zu nennen sind wie etwa das tausend¬ jährige Reich der alten Christen. Diejenigen Menschen, welche die Schrift „das Salz der Erde" nennt — die anderen, die geistig Toten, kommen ja nicht in Frage — sind hier beschäftigt, hier vergessen sie die quälende Frage nach dem Sinn und Zweck des Lebens — ihres Lebens. Woher mag nun der merkwürdige Glaube kommen, daß eine Arbeit „für die Menschheit" zweckvoll sei, eine Arbeit für die bloß persönlichen Interessen zwecklos? Wie schon gesagt, da die Menschheit doch nur die Summe der ein¬ zelnen ist, kann rein logisch doch hier nichts prinzipiell Neues entstehen; und doch fühlen wir das Neue. Hier kann man wohl nicht weitergehen, hier beginnen die Geheimnisse für unseren Verstand. Man sollte sich da vor metaphysischen Worten hüten, wie „Selbstdarstellung Gottes in der Menschheit" und ähnliches, das an Hegelsche Terminologie anklingt, ähnlich wie die moderne Biologie gut täte, das gefähr¬ liche Wort „Lebenskraft" zu vermeiden: durch solche Worte macht man nichts klarer, sondern man verwischt nur und erweckt durch Assoziationen falsche Vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/611>, abgerufen am 22.07.2024.