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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Reichskanzler und die Parteien

Erst wenn unsere Sozialpolitik die Wege des reinen Sozialismus betreten haben
sollte, das heißt wenn Vorschläge, wie sie Landrat von Dewitz unter anderem in
diesen Heften darlegte -- direkte Beteiligung der Arbeiter am Unternehmer¬
gewinn -- erfüllt sein werden, dann dürfte auch der roten Gefahr ihre Haupt¬
kraft genommen worden sein.




Der also gekennzeichnete Zustand der Parteien muß es einer Regierung
ungemein erschweren, ihre Politik nach irgendeiner von ihnen einzustellen. Die
Parteien wie sie heute sind haben nur dort Bedeutung, wo sie Träger der
Interessen irgendeiner Wirtschaftsgruppe werden konnten. Das ist ihre Stärke
aber zugleich auch ihre Schwäche. Darum sind es auch in erster Linie wirt¬
schaftliche Gesichtspunkte, von denen aus die Regierung Einfluß auf die
Parteien gewinnen könnte. Eine politische Anlehnung an die Konservativen
müßte zu schweren Verfassungskriseu führen; ein Verlaß auf die Liberalen in
ihrer gegenwärtigen Dreiteilung ist undenkbar; ein Bund mit dem Zentrum
käme ini Augenblick der Unterwerfung unter den Ultramontanismus gleich; die
Sozialdemokratie scheidet als Nevolutionspartei aus unseren Betrachtungen aus.
Auf eine nahe bevorstehende Änderung der Parteimisere ist nicht zu rechnen.
Wo sich Anzeichen beginnender Erholung bemerkbar machen, sind die dadurch
bedingten Kämpfe noch nicht entschieden. In allen Parteien wirkt das beharr¬
liche Element erlahmend. An der Spitze stehen überall ältere Männer, deren
Verdienste um die einzelne Partei meist Jahrzehnte zurückliegen und die den
neuen Aufgaben gegenüber nicht mehr empfänglich genug geblieben sind. Die
Männer ihrer nächsten Umgebung wachen eifersüchtig über einander, daß ja keiner
nach den: Steuer der Partei greife. So ist denn die Entwicklung der Parteien
gewissermaßen unterbunden durch ersessene persönliche Rechte und Beziehungen.
Das Zentrum macht nur in dieser Hinsicht noch den gesündesten, die Frei-
konservativen machen den ungesundesten Eindruck. BeidenDeutschkonservativen erstickt
die ungeheuer straffe Disziplin, die in dieser Partei herrscht und die gestützt
wird durch die Macht der Erstgeborenen der grundherrlichen Adelsfamilien, jede
Entwicklungsmöglichkeit. Am trübsten scheinen mir die Zuwuftsaussichten der
nationalliberalen Partei. Die alte Partei besteht tatsächlich nicht mehr; sie hat
als solche keine Aufgaben mehr zu erfüllen; selbst eine tief einschneidende Pro-
grammreviston könnte ihr nicht mehr helfen. Ihr Programm ist erfüllt. Das
Gute in ihm ist Gemeingut der Nation geworden.

Größere Hoffnungen knüpfen sich an die frisch aufblühenden Organisationen
der Jungliberalen; doch das ist Zukunftsmusik.

Was ist zu tun?

Hat Herr von Bethmann wirklich ein Programm, das wenigstens in der
Richtung dessen liegt, was oben geschildert wurde, dann bleibt ihm nichts
anderes zu tun übrig, als es klarer zum Ausdruck zu bringen, als es bisher


Der Reichskanzler und die Parteien

Erst wenn unsere Sozialpolitik die Wege des reinen Sozialismus betreten haben
sollte, das heißt wenn Vorschläge, wie sie Landrat von Dewitz unter anderem in
diesen Heften darlegte — direkte Beteiligung der Arbeiter am Unternehmer¬
gewinn — erfüllt sein werden, dann dürfte auch der roten Gefahr ihre Haupt¬
kraft genommen worden sein.




Der also gekennzeichnete Zustand der Parteien muß es einer Regierung
ungemein erschweren, ihre Politik nach irgendeiner von ihnen einzustellen. Die
Parteien wie sie heute sind haben nur dort Bedeutung, wo sie Träger der
Interessen irgendeiner Wirtschaftsgruppe werden konnten. Das ist ihre Stärke
aber zugleich auch ihre Schwäche. Darum sind es auch in erster Linie wirt¬
schaftliche Gesichtspunkte, von denen aus die Regierung Einfluß auf die
Parteien gewinnen könnte. Eine politische Anlehnung an die Konservativen
müßte zu schweren Verfassungskriseu führen; ein Verlaß auf die Liberalen in
ihrer gegenwärtigen Dreiteilung ist undenkbar; ein Bund mit dem Zentrum
käme ini Augenblick der Unterwerfung unter den Ultramontanismus gleich; die
Sozialdemokratie scheidet als Nevolutionspartei aus unseren Betrachtungen aus.
Auf eine nahe bevorstehende Änderung der Parteimisere ist nicht zu rechnen.
Wo sich Anzeichen beginnender Erholung bemerkbar machen, sind die dadurch
bedingten Kämpfe noch nicht entschieden. In allen Parteien wirkt das beharr¬
liche Element erlahmend. An der Spitze stehen überall ältere Männer, deren
Verdienste um die einzelne Partei meist Jahrzehnte zurückliegen und die den
neuen Aufgaben gegenüber nicht mehr empfänglich genug geblieben sind. Die
Männer ihrer nächsten Umgebung wachen eifersüchtig über einander, daß ja keiner
nach den: Steuer der Partei greife. So ist denn die Entwicklung der Parteien
gewissermaßen unterbunden durch ersessene persönliche Rechte und Beziehungen.
Das Zentrum macht nur in dieser Hinsicht noch den gesündesten, die Frei-
konservativen machen den ungesundesten Eindruck. BeidenDeutschkonservativen erstickt
die ungeheuer straffe Disziplin, die in dieser Partei herrscht und die gestützt
wird durch die Macht der Erstgeborenen der grundherrlichen Adelsfamilien, jede
Entwicklungsmöglichkeit. Am trübsten scheinen mir die Zuwuftsaussichten der
nationalliberalen Partei. Die alte Partei besteht tatsächlich nicht mehr; sie hat
als solche keine Aufgaben mehr zu erfüllen; selbst eine tief einschneidende Pro-
grammreviston könnte ihr nicht mehr helfen. Ihr Programm ist erfüllt. Das
Gute in ihm ist Gemeingut der Nation geworden.

Größere Hoffnungen knüpfen sich an die frisch aufblühenden Organisationen
der Jungliberalen; doch das ist Zukunftsmusik.

Was ist zu tun?

Hat Herr von Bethmann wirklich ein Programm, das wenigstens in der
Richtung dessen liegt, was oben geschildert wurde, dann bleibt ihm nichts
anderes zu tun übrig, als es klarer zum Ausdruck zu bringen, als es bisher


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[0552] Der Reichskanzler und die Parteien Erst wenn unsere Sozialpolitik die Wege des reinen Sozialismus betreten haben sollte, das heißt wenn Vorschläge, wie sie Landrat von Dewitz unter anderem in diesen Heften darlegte — direkte Beteiligung der Arbeiter am Unternehmer¬ gewinn — erfüllt sein werden, dann dürfte auch der roten Gefahr ihre Haupt¬ kraft genommen worden sein. Der also gekennzeichnete Zustand der Parteien muß es einer Regierung ungemein erschweren, ihre Politik nach irgendeiner von ihnen einzustellen. Die Parteien wie sie heute sind haben nur dort Bedeutung, wo sie Träger der Interessen irgendeiner Wirtschaftsgruppe werden konnten. Das ist ihre Stärke aber zugleich auch ihre Schwäche. Darum sind es auch in erster Linie wirt¬ schaftliche Gesichtspunkte, von denen aus die Regierung Einfluß auf die Parteien gewinnen könnte. Eine politische Anlehnung an die Konservativen müßte zu schweren Verfassungskriseu führen; ein Verlaß auf die Liberalen in ihrer gegenwärtigen Dreiteilung ist undenkbar; ein Bund mit dem Zentrum käme ini Augenblick der Unterwerfung unter den Ultramontanismus gleich; die Sozialdemokratie scheidet als Nevolutionspartei aus unseren Betrachtungen aus. Auf eine nahe bevorstehende Änderung der Parteimisere ist nicht zu rechnen. Wo sich Anzeichen beginnender Erholung bemerkbar machen, sind die dadurch bedingten Kämpfe noch nicht entschieden. In allen Parteien wirkt das beharr¬ liche Element erlahmend. An der Spitze stehen überall ältere Männer, deren Verdienste um die einzelne Partei meist Jahrzehnte zurückliegen und die den neuen Aufgaben gegenüber nicht mehr empfänglich genug geblieben sind. Die Männer ihrer nächsten Umgebung wachen eifersüchtig über einander, daß ja keiner nach den: Steuer der Partei greife. So ist denn die Entwicklung der Parteien gewissermaßen unterbunden durch ersessene persönliche Rechte und Beziehungen. Das Zentrum macht nur in dieser Hinsicht noch den gesündesten, die Frei- konservativen machen den ungesundesten Eindruck. BeidenDeutschkonservativen erstickt die ungeheuer straffe Disziplin, die in dieser Partei herrscht und die gestützt wird durch die Macht der Erstgeborenen der grundherrlichen Adelsfamilien, jede Entwicklungsmöglichkeit. Am trübsten scheinen mir die Zuwuftsaussichten der nationalliberalen Partei. Die alte Partei besteht tatsächlich nicht mehr; sie hat als solche keine Aufgaben mehr zu erfüllen; selbst eine tief einschneidende Pro- grammreviston könnte ihr nicht mehr helfen. Ihr Programm ist erfüllt. Das Gute in ihm ist Gemeingut der Nation geworden. Größere Hoffnungen knüpfen sich an die frisch aufblühenden Organisationen der Jungliberalen; doch das ist Zukunftsmusik. Was ist zu tun? Hat Herr von Bethmann wirklich ein Programm, das wenigstens in der Richtung dessen liegt, was oben geschildert wurde, dann bleibt ihm nichts anderes zu tun übrig, als es klarer zum Ausdruck zu bringen, als es bisher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/552>, abgerufen am 22.07.2024.