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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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teilnehmen werden, die ihm wirkliches inneres
Interesse entgegenbringen, während jetzt viele
Schüler ihm nur mit Widerstreben folgen und
dadurch für ihn zu einer die bildende Wir¬
kung hemmenden Last werden.

Auch ist die Forderung Lehmanns nur zu
berechtigt, daß dem deutschen Unterricht in
unseren höheren Schulen ein breiterer Raum
gewährt werden muß. Aber dies muß nicht
bloß aus den von ihm angeführten Grunde
geschehen, damit im deutschen Unterricht die
Lektüre der Übersetzungen fremder Schrift¬
steller, die in der Schule im Original nicht
gelesen werden können, erfolgen kann, son¬
dern vor allem deshalb, damit unsere eigenen
großen Prosaiker der verschiedensten Gebiete
in diesem Unterricht berücksichtigt und größere
Abschnitte aus ihren Werken gelesen werden
können, statt daß jetzt nur gelegentlich ein
kurzes Bruchstück nus ihnen in dein Lesebuch
den Schülern bekannt wird. Griechische, rö¬
mische, französische und englische Historiker
z. B. sind in der Schullektüre mit ganzen
Werken oder wenigstens umfangreichen Aus¬
zügen aus diesen vertreten, so Xenophon,
Thucydides, Livius, Tacitus, Mignet, Thiers,
Macaulay usw., aber Ranke, Sybel, Treitschke
finden nur gelegentlich einmal im Lesebuche
die dürftigste Erwähnung. Und ähnlich ver¬
hält es sich mit den klassischen Prosaikern an¬
derer Gebiete.

Vor allem muß auch Zeit und Raum ge¬
schaffen werden für unsere großen Philosophen,
und es ist erfreulich, daß Lehmann auch in
seinem neuen Werke wieder mit größter Ent¬
schiedenheit für die Notwendigkeit eines philo¬
sophischen Unterrichts eintritt, dem auch ich
seit Jahren aus tiefster Überzeugung das
Wort rede. Keine Zeit bedürfte mehr eines
solchen Unterrichts, als gerade die unserige,
in der in bezug auf die letzten und tiefsten
Fragen des Lebens eine Verwirrung der Be¬
griffe herrscht, der mit aller Gewalt gesteuert
werden muß, wenn unser geistiges und sitt¬
liches Leben nicht schweren Schaden leiden
soll. Und da muß der Hebel im Jugend¬
unterricht angesetzt und durch eine angemessene
philosophische Unterweisung der reiferen Ju¬
gend dieser eine Waffe in die Hand gegeben
werden, mit der sie sich gegen die auf sie
einströmenden seichten Sophistereien unserer

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Zeit verteidigen kann. Das überaus lesens¬
werte Kapitel über "die Philosophie als Gipfel¬
punkt des höheren Unterrichts" in Lehmanns
Werk beginnt mit der beherzigenswerten Klage
und Anklage: "Wenn wir vom Unterricht in
der Philosophie sprechen, so berühren wir da¬
mit nicht nur eine Lücke, sondern geradezu
einen Wunden Punkt unseres höheren Unter¬
richtswesens. Eine Wissenschaft, deren tief¬
greifender Einfluß auf das Geistesleben der
Völker wie der einzelnen niemals bestritten
worden ist, ein Bildungsstoff, dessen Platz im
Schulunterricht der gebildetsten unserer Nach¬
barnationen von so lange her feststeht, daß
man in Osterreich wie in Frankreich eine Dis¬
kussion darüber, ob ihm dieser Platz mit Recht
zukomme, einfach als absurd ablehnen würde,
ein Lehrfach, das auch bei uns lange Zeit
ein fester Bestandteil des Gymnasialunterrichts
war -- ist seit nun fast zwei Jahrzehnten
aus den Lehrplänen unserer höheren Schu¬
len gestrichen und geschwunden." DaS ist
ein immer unhaltbarer werdender Zustand.
Es gibt, wie Lehmann bemerkt, vielleicht
keinen Punkt in unserem höheren Unterrichts¬
wesen, der so deutlich wie dieser zeige, daß
wir in Gefahr stehen, hinter anderen, zum
Teil hinter jüngeren Nationen zurückzubleiben;
denn kein Lehrgegenstand vermag in gleichem
Maße "den Blick weiter, das Urteil gerechter,
das Wollen maßvoller zu gestalten," d. h. in¬
tellektuell und vor allem ethisch zu wirken,
als ein verständig geleitetes Studium der
Philosophie.

Ich erwähne nur nebenbei, daß Lehmann
auch für eine stärkere Berücksichtigung der
geistigen Eigenart der Schüler der Ober¬
stufe eintritt als sie im allgemeinen geübt
wird und sich auch in diesem Punkte als ein
Vertreter eines gesunden und besonnenen
Fortschritts zeigt. Das tut er aber vor
allem in seinen Forderungen über Zucht und
Unterrichtsweise, deren eingehende Prüfung
und Beherzigung allen Lehrern nicht genug
empfohlen werden kann. Mit scharfem Blick
hat Lehmann die auf diesem Gebiet noch
vorhandenen Schäden erkannt. Er weist über¬
zeugend nach, daß durch die gesamte heute
allgemein übliche Lehrmethode die Tätigkeit
des Lehrers viel zu sehr auf ein immer
wiederholtes Richten und Urteilen und viel

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Grenzvoten III 191207
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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teilnehmen werden, die ihm wirkliches inneres
Interesse entgegenbringen, während jetzt viele
Schüler ihm nur mit Widerstreben folgen und
dadurch für ihn zu einer die bildende Wir¬
kung hemmenden Last werden.

Auch ist die Forderung Lehmanns nur zu
berechtigt, daß dem deutschen Unterricht in
unseren höheren Schulen ein breiterer Raum
gewährt werden muß. Aber dies muß nicht
bloß aus den von ihm angeführten Grunde
geschehen, damit im deutschen Unterricht die
Lektüre der Übersetzungen fremder Schrift¬
steller, die in der Schule im Original nicht
gelesen werden können, erfolgen kann, son¬
dern vor allem deshalb, damit unsere eigenen
großen Prosaiker der verschiedensten Gebiete
in diesem Unterricht berücksichtigt und größere
Abschnitte aus ihren Werken gelesen werden
können, statt daß jetzt nur gelegentlich ein
kurzes Bruchstück nus ihnen in dein Lesebuch
den Schülern bekannt wird. Griechische, rö¬
mische, französische und englische Historiker
z. B. sind in der Schullektüre mit ganzen
Werken oder wenigstens umfangreichen Aus¬
zügen aus diesen vertreten, so Xenophon,
Thucydides, Livius, Tacitus, Mignet, Thiers,
Macaulay usw., aber Ranke, Sybel, Treitschke
finden nur gelegentlich einmal im Lesebuche
die dürftigste Erwähnung. Und ähnlich ver¬
hält es sich mit den klassischen Prosaikern an¬
derer Gebiete.

Vor allem muß auch Zeit und Raum ge¬
schaffen werden für unsere großen Philosophen,
und es ist erfreulich, daß Lehmann auch in
seinem neuen Werke wieder mit größter Ent¬
schiedenheit für die Notwendigkeit eines philo¬
sophischen Unterrichts eintritt, dem auch ich
seit Jahren aus tiefster Überzeugung das
Wort rede. Keine Zeit bedürfte mehr eines
solchen Unterrichts, als gerade die unserige,
in der in bezug auf die letzten und tiefsten
Fragen des Lebens eine Verwirrung der Be¬
griffe herrscht, der mit aller Gewalt gesteuert
werden muß, wenn unser geistiges und sitt¬
liches Leben nicht schweren Schaden leiden
soll. Und da muß der Hebel im Jugend¬
unterricht angesetzt und durch eine angemessene
philosophische Unterweisung der reiferen Ju¬
gend dieser eine Waffe in die Hand gegeben
werden, mit der sie sich gegen die auf sie
einströmenden seichten Sophistereien unserer

[Spaltenumbruch]

Zeit verteidigen kann. Das überaus lesens¬
werte Kapitel über „die Philosophie als Gipfel¬
punkt des höheren Unterrichts" in Lehmanns
Werk beginnt mit der beherzigenswerten Klage
und Anklage: „Wenn wir vom Unterricht in
der Philosophie sprechen, so berühren wir da¬
mit nicht nur eine Lücke, sondern geradezu
einen Wunden Punkt unseres höheren Unter¬
richtswesens. Eine Wissenschaft, deren tief¬
greifender Einfluß auf das Geistesleben der
Völker wie der einzelnen niemals bestritten
worden ist, ein Bildungsstoff, dessen Platz im
Schulunterricht der gebildetsten unserer Nach¬
barnationen von so lange her feststeht, daß
man in Osterreich wie in Frankreich eine Dis¬
kussion darüber, ob ihm dieser Platz mit Recht
zukomme, einfach als absurd ablehnen würde,
ein Lehrfach, das auch bei uns lange Zeit
ein fester Bestandteil des Gymnasialunterrichts
war — ist seit nun fast zwei Jahrzehnten
aus den Lehrplänen unserer höheren Schu¬
len gestrichen und geschwunden." DaS ist
ein immer unhaltbarer werdender Zustand.
Es gibt, wie Lehmann bemerkt, vielleicht
keinen Punkt in unserem höheren Unterrichts¬
wesen, der so deutlich wie dieser zeige, daß
wir in Gefahr stehen, hinter anderen, zum
Teil hinter jüngeren Nationen zurückzubleiben;
denn kein Lehrgegenstand vermag in gleichem
Maße „den Blick weiter, das Urteil gerechter,
das Wollen maßvoller zu gestalten," d. h. in¬
tellektuell und vor allem ethisch zu wirken,
als ein verständig geleitetes Studium der
Philosophie.

Ich erwähne nur nebenbei, daß Lehmann
auch für eine stärkere Berücksichtigung der
geistigen Eigenart der Schüler der Ober¬
stufe eintritt als sie im allgemeinen geübt
wird und sich auch in diesem Punkte als ein
Vertreter eines gesunden und besonnenen
Fortschritts zeigt. Das tut er aber vor
allem in seinen Forderungen über Zucht und
Unterrichtsweise, deren eingehende Prüfung
und Beherzigung allen Lehrern nicht genug
empfohlen werden kann. Mit scharfem Blick
hat Lehmann die auf diesem Gebiet noch
vorhandenen Schäden erkannt. Er weist über¬
zeugend nach, daß durch die gesamte heute
allgemein übliche Lehrmethode die Tätigkeit
des Lehrers viel zu sehr auf ein immer
wiederholtes Richten und Urteilen und viel

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Grenzvoten III 191207
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/537>, abgerufen am 02.10.2024.