Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Karl Salzer

"Auf dem Weg, Fräulein Seelchen, kommt man dazu, jede unmoralische Tat
als Ausfluß einer vorhandenen Geisteskrankheit zu erklären!"

Die beiden müssen ihr Gespräch unterbrechen, denn Sophie tobt fürchterlich.
Tante Seelchen fragt nur noch, ob der Herr Doktor ihren Wunsch denn wirklich
beim besten Willen nicht erfüllen könne. Sie erhält von dem Arzte die Antwort,
daß er noch Verschiedenes abwarten wolle. Er habe bereits mit dem Bürger¬
meister gesprochen. Das Gericht komme und lege Siegel an, jedenfalls werde
man auch gleich Einsicht in die Bücher nehmen, und da müsse sich ja viel und
Entscheidendes ergeben.

Karl, der gerade mit dem Gesellen und der Taglöhnerin durch die Haustür
kommt, hört die letzten Worte und erbleicht bis in die Lippen. Es ist ihm, als
fließe alle seine Kraft im Herzen zusammen und verflüchtige dort wie ein Hauch.
Er hält sich am Türpfosten. Also glaubt auch schon der Doktor an die Wahrheit
der Gerüchte?

Während Karl erbleicht, errötet Tante Seelchen, aber sie hat denselben Ge¬
danken wie der Neffe: also hat der Verdacht sich schon so festgesetzt. Sie sagt
jetzt nur noch:

"Ach Gott, Herr Doktor, was ein UnglückI"

"Nicht den Kopf verlieren, liebes Fräulein," tröstet der Arzt, "auch das heilt
im Laufe der Zeit."

Dann nimmt er seinen Hut, um zu gehen; unter der Tür stehend, spricht er
noch einmal zurück:

"Ich brauche Ihnen nicht zu sagen. Fräulein Seelchen, daß vernünftige
Menschen Ihnen nichts anrechnen werden!"

Tante Seelchen hat ihre Last mit der Kranken, die in eine Irrenanstalt soll.
Aber woher das Geld nehmen? Denn Sophie wird ärmer sein als das ärmste
Kind im Dorfe. Tante Seelchen weiß das. Wie hoch wird der veruntreute Betrag
sein? Hoch, sehr hoch wird er sein; er wird die Kaution von zehntausend Mark
übersteigen. Wäre er kleiner, dann hätte der Schmied es auf andere, auf gütliche
Art und Weise geregelt und hätte nicht zum Revolver gegriffen. Aber Sophie
muß in eine Anstalt, vielleicht, daß sie wieder geheilt wird. Und Tante Seelchen
wird arbeiten, um der Nichte die richtige Pflege zu verschaffen. Sie hat
der sterbenden Schwester versprochen, den Mntterwaisen eine gute und ge¬
treue Mutter zu sein. Tante Seelchen wird in ihren alten Tagen bei den
Bauern als Taglöhnerin schaffen. DaS ist bitter, aber einen Schwur bricht
man nicht.

Die Altjungfer wird in ihren Überlegungen gestört durch die drei Leute, die
aus der Küche, wo sie bis zum Weggehen des Doktors gewartet haben, ins
Zimmer treten, Karl. Wilhelm und die Märzen.

Sophie starrt die Eintretenden an und schreit dann nach ihrem Vater, der
wieder nicht dabei sei. Karl wendet sich der Taglöhnerin zu und sagt:

"Märzen, bleibt Ihr einmal einen Augenblick bei dem Müde. Man kann
ja rein garnix bei ihr plaudern, und der Willem will doch meiner Tante und
mir was sagen! Bleibt so lang mal hier, wir gehen in die Knab!"

Wenn Tante Seelchen auch nicht des Schmiedes Frau war, der Geselle nennt
sie Meisterin und sagt in der Küche zu ihr:


Karl Salzer

„Auf dem Weg, Fräulein Seelchen, kommt man dazu, jede unmoralische Tat
als Ausfluß einer vorhandenen Geisteskrankheit zu erklären!"

Die beiden müssen ihr Gespräch unterbrechen, denn Sophie tobt fürchterlich.
Tante Seelchen fragt nur noch, ob der Herr Doktor ihren Wunsch denn wirklich
beim besten Willen nicht erfüllen könne. Sie erhält von dem Arzte die Antwort,
daß er noch Verschiedenes abwarten wolle. Er habe bereits mit dem Bürger¬
meister gesprochen. Das Gericht komme und lege Siegel an, jedenfalls werde
man auch gleich Einsicht in die Bücher nehmen, und da müsse sich ja viel und
Entscheidendes ergeben.

Karl, der gerade mit dem Gesellen und der Taglöhnerin durch die Haustür
kommt, hört die letzten Worte und erbleicht bis in die Lippen. Es ist ihm, als
fließe alle seine Kraft im Herzen zusammen und verflüchtige dort wie ein Hauch.
Er hält sich am Türpfosten. Also glaubt auch schon der Doktor an die Wahrheit
der Gerüchte?

Während Karl erbleicht, errötet Tante Seelchen, aber sie hat denselben Ge¬
danken wie der Neffe: also hat der Verdacht sich schon so festgesetzt. Sie sagt
jetzt nur noch:

„Ach Gott, Herr Doktor, was ein UnglückI"

„Nicht den Kopf verlieren, liebes Fräulein," tröstet der Arzt, „auch das heilt
im Laufe der Zeit."

Dann nimmt er seinen Hut, um zu gehen; unter der Tür stehend, spricht er
noch einmal zurück:

„Ich brauche Ihnen nicht zu sagen. Fräulein Seelchen, daß vernünftige
Menschen Ihnen nichts anrechnen werden!"

Tante Seelchen hat ihre Last mit der Kranken, die in eine Irrenanstalt soll.
Aber woher das Geld nehmen? Denn Sophie wird ärmer sein als das ärmste
Kind im Dorfe. Tante Seelchen weiß das. Wie hoch wird der veruntreute Betrag
sein? Hoch, sehr hoch wird er sein; er wird die Kaution von zehntausend Mark
übersteigen. Wäre er kleiner, dann hätte der Schmied es auf andere, auf gütliche
Art und Weise geregelt und hätte nicht zum Revolver gegriffen. Aber Sophie
muß in eine Anstalt, vielleicht, daß sie wieder geheilt wird. Und Tante Seelchen
wird arbeiten, um der Nichte die richtige Pflege zu verschaffen. Sie hat
der sterbenden Schwester versprochen, den Mntterwaisen eine gute und ge¬
treue Mutter zu sein. Tante Seelchen wird in ihren alten Tagen bei den
Bauern als Taglöhnerin schaffen. DaS ist bitter, aber einen Schwur bricht
man nicht.

Die Altjungfer wird in ihren Überlegungen gestört durch die drei Leute, die
aus der Küche, wo sie bis zum Weggehen des Doktors gewartet haben, ins
Zimmer treten, Karl. Wilhelm und die Märzen.

Sophie starrt die Eintretenden an und schreit dann nach ihrem Vater, der
wieder nicht dabei sei. Karl wendet sich der Taglöhnerin zu und sagt:

„Märzen, bleibt Ihr einmal einen Augenblick bei dem Müde. Man kann
ja rein garnix bei ihr plaudern, und der Willem will doch meiner Tante und
mir was sagen! Bleibt so lang mal hier, wir gehen in die Knab!"

Wenn Tante Seelchen auch nicht des Schmiedes Frau war, der Geselle nennt
sie Meisterin und sagt in der Küche zu ihr:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0524" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322271"/>
          <fw type="header" place="top"> Karl Salzer</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2292"> &#x201E;Auf dem Weg, Fräulein Seelchen, kommt man dazu, jede unmoralische Tat<lb/>
als Ausfluß einer vorhandenen Geisteskrankheit zu erklären!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2293"> Die beiden müssen ihr Gespräch unterbrechen, denn Sophie tobt fürchterlich.<lb/>
Tante Seelchen fragt nur noch, ob der Herr Doktor ihren Wunsch denn wirklich<lb/>
beim besten Willen nicht erfüllen könne. Sie erhält von dem Arzte die Antwort,<lb/>
daß er noch Verschiedenes abwarten wolle. Er habe bereits mit dem Bürger¬<lb/>
meister gesprochen. Das Gericht komme und lege Siegel an, jedenfalls werde<lb/>
man auch gleich Einsicht in die Bücher nehmen, und da müsse sich ja viel und<lb/>
Entscheidendes ergeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2294"> Karl, der gerade mit dem Gesellen und der Taglöhnerin durch die Haustür<lb/>
kommt, hört die letzten Worte und erbleicht bis in die Lippen. Es ist ihm, als<lb/>
fließe alle seine Kraft im Herzen zusammen und verflüchtige dort wie ein Hauch.<lb/>
Er hält sich am Türpfosten. Also glaubt auch schon der Doktor an die Wahrheit<lb/>
der Gerüchte?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2295"> Während Karl erbleicht, errötet Tante Seelchen, aber sie hat denselben Ge¬<lb/>
danken wie der Neffe: also hat der Verdacht sich schon so festgesetzt. Sie sagt<lb/>
jetzt nur noch:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2296"> &#x201E;Ach Gott, Herr Doktor, was ein UnglückI"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2297"> &#x201E;Nicht den Kopf verlieren, liebes Fräulein," tröstet der Arzt, &#x201E;auch das heilt<lb/>
im Laufe der Zeit."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2298"> Dann nimmt er seinen Hut, um zu gehen; unter der Tür stehend, spricht er<lb/>
noch einmal zurück:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2299"> &#x201E;Ich brauche Ihnen nicht zu sagen. Fräulein Seelchen, daß vernünftige<lb/>
Menschen Ihnen nichts anrechnen werden!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2300"> Tante Seelchen hat ihre Last mit der Kranken, die in eine Irrenanstalt soll.<lb/>
Aber woher das Geld nehmen? Denn Sophie wird ärmer sein als das ärmste<lb/>
Kind im Dorfe. Tante Seelchen weiß das. Wie hoch wird der veruntreute Betrag<lb/>
sein? Hoch, sehr hoch wird er sein; er wird die Kaution von zehntausend Mark<lb/>
übersteigen. Wäre er kleiner, dann hätte der Schmied es auf andere, auf gütliche<lb/>
Art und Weise geregelt und hätte nicht zum Revolver gegriffen. Aber Sophie<lb/>
muß in eine Anstalt, vielleicht, daß sie wieder geheilt wird. Und Tante Seelchen<lb/>
wird arbeiten, um der Nichte die richtige Pflege zu verschaffen. Sie hat<lb/>
der sterbenden Schwester versprochen, den Mntterwaisen eine gute und ge¬<lb/>
treue Mutter zu sein. Tante Seelchen wird in ihren alten Tagen bei den<lb/>
Bauern als Taglöhnerin schaffen. DaS ist bitter, aber einen Schwur bricht<lb/>
man nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2301"> Die Altjungfer wird in ihren Überlegungen gestört durch die drei Leute, die<lb/>
aus der Küche, wo sie bis zum Weggehen des Doktors gewartet haben, ins<lb/>
Zimmer treten, Karl. Wilhelm und die Märzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2302"> Sophie starrt die Eintretenden an und schreit dann nach ihrem Vater, der<lb/>
wieder nicht dabei sei. Karl wendet sich der Taglöhnerin zu und sagt:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2303"> &#x201E;Märzen, bleibt Ihr einmal einen Augenblick bei dem Müde. Man kann<lb/>
ja rein garnix bei ihr plaudern, und der Willem will doch meiner Tante und<lb/>
mir was sagen! Bleibt so lang mal hier, wir gehen in die Knab!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2304"> Wenn Tante Seelchen auch nicht des Schmiedes Frau war, der Geselle nennt<lb/>
sie Meisterin und sagt in der Küche zu ihr:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0524] Karl Salzer „Auf dem Weg, Fräulein Seelchen, kommt man dazu, jede unmoralische Tat als Ausfluß einer vorhandenen Geisteskrankheit zu erklären!" Die beiden müssen ihr Gespräch unterbrechen, denn Sophie tobt fürchterlich. Tante Seelchen fragt nur noch, ob der Herr Doktor ihren Wunsch denn wirklich beim besten Willen nicht erfüllen könne. Sie erhält von dem Arzte die Antwort, daß er noch Verschiedenes abwarten wolle. Er habe bereits mit dem Bürger¬ meister gesprochen. Das Gericht komme und lege Siegel an, jedenfalls werde man auch gleich Einsicht in die Bücher nehmen, und da müsse sich ja viel und Entscheidendes ergeben. Karl, der gerade mit dem Gesellen und der Taglöhnerin durch die Haustür kommt, hört die letzten Worte und erbleicht bis in die Lippen. Es ist ihm, als fließe alle seine Kraft im Herzen zusammen und verflüchtige dort wie ein Hauch. Er hält sich am Türpfosten. Also glaubt auch schon der Doktor an die Wahrheit der Gerüchte? Während Karl erbleicht, errötet Tante Seelchen, aber sie hat denselben Ge¬ danken wie der Neffe: also hat der Verdacht sich schon so festgesetzt. Sie sagt jetzt nur noch: „Ach Gott, Herr Doktor, was ein UnglückI" „Nicht den Kopf verlieren, liebes Fräulein," tröstet der Arzt, „auch das heilt im Laufe der Zeit." Dann nimmt er seinen Hut, um zu gehen; unter der Tür stehend, spricht er noch einmal zurück: „Ich brauche Ihnen nicht zu sagen. Fräulein Seelchen, daß vernünftige Menschen Ihnen nichts anrechnen werden!" Tante Seelchen hat ihre Last mit der Kranken, die in eine Irrenanstalt soll. Aber woher das Geld nehmen? Denn Sophie wird ärmer sein als das ärmste Kind im Dorfe. Tante Seelchen weiß das. Wie hoch wird der veruntreute Betrag sein? Hoch, sehr hoch wird er sein; er wird die Kaution von zehntausend Mark übersteigen. Wäre er kleiner, dann hätte der Schmied es auf andere, auf gütliche Art und Weise geregelt und hätte nicht zum Revolver gegriffen. Aber Sophie muß in eine Anstalt, vielleicht, daß sie wieder geheilt wird. Und Tante Seelchen wird arbeiten, um der Nichte die richtige Pflege zu verschaffen. Sie hat der sterbenden Schwester versprochen, den Mntterwaisen eine gute und ge¬ treue Mutter zu sein. Tante Seelchen wird in ihren alten Tagen bei den Bauern als Taglöhnerin schaffen. DaS ist bitter, aber einen Schwur bricht man nicht. Die Altjungfer wird in ihren Überlegungen gestört durch die drei Leute, die aus der Küche, wo sie bis zum Weggehen des Doktors gewartet haben, ins Zimmer treten, Karl. Wilhelm und die Märzen. Sophie starrt die Eintretenden an und schreit dann nach ihrem Vater, der wieder nicht dabei sei. Karl wendet sich der Taglöhnerin zu und sagt: „Märzen, bleibt Ihr einmal einen Augenblick bei dem Müde. Man kann ja rein garnix bei ihr plaudern, und der Willem will doch meiner Tante und mir was sagen! Bleibt so lang mal hier, wir gehen in die Knab!" Wenn Tante Seelchen auch nicht des Schmiedes Frau war, der Geselle nennt sie Meisterin und sagt in der Küche zu ihr:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/524
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/524>, abgerufen am 24.08.2024.